Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_107/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 10. Juli 2015  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, handelnd durch ihren Vater B.________ und dieser vertreten durch Rechtsanwältin Anita Hug, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 5. Januar 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die am 25. Dezember 1996 geborene A.________ wurde im März 2003 von ihren heutigen Eltern adoptiert. Diese meldeten sie wenig später aufgrund eines psychomotorischen Entwicklungsrückstandes bei der Invalidenversicherung (nachfolgend: IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern bewilligte Sonderschulmassnahmen ab 11. März 2003 (Verfügung vom 8. Juli 2003) und bejahteeinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung mittleren bzw. schweren Grades. Am 29. Juli 2010 ersuchte die behandelnde Psychologin bei der IV um Kostengutsprache für ambulante Psychotherapie als medizinische Massnahme. Zur Begründung gab sie an, bei der Versicherten liege eine tiefe intellektuelle Leistungsfähigkeit bei einer (praktisch bildungsfähigen) geistigen Behinderung mit autistischem Verhalten, Hyperaktivität, Spracherwerbsstörungen und motorischen Stereotypien vor. Die IV-Stelle führte Abklärungen durch und lehnte eine Leistungspflicht mit Verfügung vom 4. März 2011 ab. 
Am 22. Oktober 2013 wurde A.________ von ihren Eltern wiederum zum Bezug medizinischer Massnahmen (Psychotherapie) angemeldet, da sie an Autismus leide und nicht spreche. Die IV-Stelle konsultierte die behandelnde Kinderärztin sowie den Regionalen Ärztlichen Dienst (nachfolgend: RAD). Gestützt auf dessen Stellungnahme verneinte sie einen Anspruch nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren erneut (Verfügung vom 2. April 2014). 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 5. Januar 2015 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, auf das Wiedererwägungsgesuch "betreffend Finanzierung medizinischer Massnahmen" sei einzutreten und die Kosten ihrer Psychotherapie seien von der IV zu übernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat - wie schon die Verwaltung (vgl. Verfügung vom 2. April 2014) - in Bezug auf die beantragten medizinischen Massnahmen einen abweisenden (Sach-) Entscheid getroffen. Insoweit ist auf den Antrag, es sei auf das Wiedererwägungsgesuch betreffend "Finanzierung medizinischer Massnahmen" einzutreten, nicht einzutreten. 
 
3.   
Im Streit liegt der Anspruch der Versicherten auf medizinische Massnahmen (Psychotherapie) gemäss Art. 12 und 13 IVG
 
3.1. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch von Personen vor vollendetem 20. Altersjahr auf medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 IVG), bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 A TSG) und zum Begriff des Geburtsgebrechens an sich (Art. 3 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GgV) zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben hat es sodann Ziff. 405 GgV-Anhang ("Autismus-Spektrum-Störungen") und die Voraussetzung für die Anerkennung dieses Geburtsgebrechens (Erkennbarkeit bis zum vollendeten fünften Lebensjahr). Ebenso zutreffend sind die Ausführungen zur Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Darauf wird verwiesen.  
 
3.2. Eine therapeutische Vorkehr, deren Wirkung sich in der Unterdrückung von Symptomen erschöpft, kann nicht als medizinische Massnahme im Sinne von Art. 12 IVG gelten, selbst wenn sie im Hinblick auf die schulische und erwerbliche Eingliederung unabdingbar ist. Denn eine solche dient weder der Herbeiführung eines stabilen Zustandes, in welchem vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit bestehen, noch ändert sie etwas am Fortdauern eines labilen Krankheitsgeschehens und dient dementsprechend nicht der Verhinderung eines stabilen pathologischen Zustandes. Deswegen genügt eine günstige Beeinflussung der Krankheitsdynamik allein nicht, wenn eine spontane, nicht kausal auf die therapeutische Massnahme zurückzuführende Heilung zu erwarten ist, oder wenn die Entstehung eines stabilen Defekts mit Hilfe von Dauertherapie lediglich hinausgeschoben werden soll (SVR 2008 IV Nr. 16 S. 46, I 501/06 E. 5.2). Ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, ist keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen. Ein solcher Zustand ist zwar, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden kann, stationär, nicht aber im Sinne der Rechtsprechung stabil (AHI 1999 S. 127 f., I 115/98 E. 2d). Um eine von der IV nicht zu übernehmende Behandlung des Leidens an sich geht es somit in der Regel bei der Heilung oder Linderung eines labilen pathologischen Geschehens. Eine Psychotherapie bei Minderjährigen kann nur übernommen werden, wenn sie keinen Dauercharakter hat, also nicht - wie dies etwa bei Schizophrenien oder manisch-depressiven Psychosen zutrifft - zeitlich unbegrenzt erforderlich sein wird (Urteil 8C_269/2010 vom 12. August 2010 E. 2.2 mit Hinweisen).  
 
4.   
 
4.1. Einen Leistungsanspruch gemäss Art. 13 IVG hat die Vorinstanz unter dem Titel der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) geprüft und eine zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung vom 4. März 2011 verneint. Dies hat sie damit begründet, dass eine "Autismus-Spektrum-Störung" (Ziff. 405 GgV-Anhang), insbesondere mangels echtzeitlicher medizinischer Unterlagen, nicht vor Vollendung des fünften Altersjahres der Versicherten erkennbar war.  
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die Verfügung vom 4. März 2011 sei (zweifellos) unrichtig und zu Unrecht nicht in Wiedererwägung gezogen worden. Soweit sie in diesem Zusammenhang auf eine "neue Situation" seit der Verfügung vom 4. März 2011 Bezug nimmt, lässt sie ausser Acht, dass eine solche Gegenstand einer prozessualen Revision und nicht einer Wiedererwägung bildet (vgl. Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG). 
 
4.1.1. Die Auslegung (Konkretisierung) des bundesrechtlichen Begriffs der zweifellosen Unrichtigkeit als Wiedererwägungsvoraussetzung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG stellt eine Rechtsfrage dar, die frei zu prüfen ist (vgl. Urteil 9C_994/2010 vom 12. April 2011 E. 2).  
 
4.1.2. Es liegen keine Akten vor, die vom Zeitraum vor Vollendung des fünften Lebensjahres der Versicherten datieren. Zwar legte die behandelnde Psychologin lic. phil. C.________ dar, bereits im Mai 2001 hätten Fachpersonen bei ihrer Patientin autistische Verhaltensweisen "wahrgenommen und dokumentiert" (Bericht vom 9. Mai 2014); an entsprechenden Belegen mangelt es jedoch. Insbesondere fehlen - entgegen der Angabe der Beschwerdeführerin - der Bericht des Zentrums D.________ vom 13. März 2001 und die (nicht echtzeitliche) Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin Dr. med. E.________ vom 23. März 2004. Soweit sich die Versicherte auf darin enthaltene Tatsachen beruft, handelt es sich um blosse Behauptungen, die nicht belegt sind.  
Was die späteren Einschätzungen anbelangt (zum Einbezug nicht echtzeitlicher medizinischer Unterlagen vgl. Urteil 9C_682/2012 vom 1. Mai 2013 E. 3.2.3), hat das kantonale Verwaltungsgericht den Bericht von Dr. med. E.________ vom 31. August 2010 sowie die Stellungnahmen des RAD vom 10. Dezember 2010 und 11. Februar 2011 erwähnt. Daraus ergeben sich keine (eindeutigen) Hinweise, dass bei der Beschwerdeführerin vor Erreichen ihres fünften Lebensjahres ein autismustypischer Zustand vorgelegen hätte. Dr. med. E.________ behandelte die Versicherte zwar schon ab dem 22. Januar 2002. Eine Einschätzung bei Behandlungsbeginn liegt aber ebenso wenig vor wie spätere medizinische Angaben der behandelnden Kinderärztin, die klare Rückschlüsse auf das Vorliegen des fraglichen Geburtsgebrechens im relevanten Zeitraum (vor dem 25. Dezember 2001) ermöglichten. Nicht anders verhält es sich mit den Berichten des Zentrums D.________ vom 24. März/23. Mai und 1. Juli 2003; darin wird einzig auf Untersuchungen im Jahre 2003 Bezug genommen. Hinzu kommt, dass die RAD-Ärztin Dr. med. F.________ andere Diagnosen, welche diejenige eines (frühkindlichen) Autismus ausschliessen (namentlich eine reaktive Bindungsstörung des Kindesalters [ICD-10 F94.1]), für wahrscheinlicher hielt (Stellungnahme vom 11. Februar 2011). Schliesslich begründet die Beschwerdeführerin nicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), inwiefern die Kostengutsprache für Sonderschulmassnahmen ab 11. März 2003 (Verfügung vom 8. Juli 2003) geeignet sein soll, die Abweisung der Leistungspflicht für Psychotherapie als zweifellos unrichtig erscheinen zu lassen. Da somit auch die nicht echtzeitlichen Akten keine Rückschlüsse auf eine bis zum vollendeten fünften Lebensjahr der Versicherten erkennbare "Autismus-Spektrum-Störung" zulassen, fällt eine zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung vom 4. März 2011 ausser Betracht. Der vorinstanzliche Entscheid hält mit Blick auf Art. 13 IVG vor Bundesrecht stand. 
 
4.2. Die Vorinstanz hat hinsichtlich Art. 12 IVG die Auffassung vertreten, dass die beantragte Psychotherapie nach wie vor auf Dauer angelegt und somit zeitlich unbeschränkt ist, was eine Leistungspflicht ausschliesst (vgl. E. 3.2). Eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse seit der Verfügung vom 4. März 2011 hat sie verneint.  
Im Unterschied zur Beurteilung des Leistungsanspruchs gemäss Art. 13 IVG (E. 4.1) ist das kantonale Verwaltungsgericht in Bezug auf Art. 12 IVG (implizit) vom Vorliegen einer Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV) ausgegangen. Es hat sich folglich nicht mit der Frage befasst, ob die Verfügung vom 4. März 2011 in diesem Punkt zweifellos unrichtig ist, sondern eine (revisionsrechtlich analoge) relevante Veränderung geprüft. Soweit die Versicherte vorbringt, der geltend gemachte Leistungsanspruch dürfe nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wiedererwägung behandelt werden, erübrigen sich somit weitere Ausführungen. 
 
4.2.1. Die Frage, ob im Einzelfall eine substanzielle Veränderung der Faktenlage vorliegt, die eine andere Beurteilung zulässt, hat tatsächlichen Charakter (Urteile 8C_344/2014 vom 27. August 2014 E. 2.3 mit Hinweisen; 8C_485/2010 vom 21. September 2010 E. 2.1). Die diesbezüglichen vorinstanzlichen Feststellungen binden das Bundesgericht (E. 1).  
 
4.2.2. Das kantonale Verwaltungsgericht hat festgestellt, mit Blick auf die medizinischen Unterlagen, insbesondere den Bericht von Dr. med. E.________ vom 7. Februar 2014, sei davon auszugehen, dass die Psychotherapie bei lic. phil. C.________ seit Juli 2010 mit einer (bzw. zu Beginn zwei) Sitzung (en) pro Woche andauere und für zirka zwei weitere Jahre geplant sei. Es liege nach wie vor eine auf Dauer angelegte und somit zeitlich unbeschränkte Psychotherapie vor.  
 
4.2.3. In der Tat ist weder im März 2011 noch bei Erlass der Verfügung vom 2. April 2014 eine zeitliche Begrenzung der ambulanten Psychotherapie dokumentiert. Dass die Versicherte im Zeitpunkt des zweiten Verfügungserlasses ca. drei Jahre älter und damit näher an der Vollendung des zwanzigsten Lebensjahrs (vgl. Art. 12 Abs. 1 IVG) war, hilft nicht weiter. Darin ist insbesondere keine Veränderung der relevanten (tatsächlichen) Verhältnisse zu ersehen. Dass gemäss Angaben der behandelnden Psychologin (Bericht vom 9. Mai 2014) seit Beginn der Psychotherapie im Juli 2010 wesentliche therapeutische Erfolge (grössere Flexibilität; Äussern von Bedürfnissen; Verringerung der motorischen Unruhe; Sprache) erzielt werden konnten, ändert nichts; diese betreffen die Behandlung des Leidens an sich, was gegen das Vorliegen einer medizinischen Massnahme im Sinne von Art. 12 IVG spricht (vgl. E. 3.2). Aus den Akten geht alsdann mit keinem Wort hervor, dass die Beschwerdeführerin jemals in der Lage sein wird, in einer geschützten Werkstätte einer Ausbildung/Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Der entsprechende Einwand der Beschwerdeführerin verfängt somit nicht. Dr. med. E.________ hielt vielmehr explizit fest, die Eltern erhofften sich von der Psychotherapie mehr Selbständigkeit der Versicherten im Alltag; eine völlige Autonomie werde aber auch später nicht möglich sein (Bericht vom 7. Februar 2014). Die Vorinstanz hat ihre Schlussfolgerung, wonach es sich bei der fraglichen Psychotherapie unverändert um eine zeitlich unbeschränkte Massnahme handle, auf die Akten gestützt und dabei die relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt. Ihre Feststellungen können nicht als offensichtlich unrichtig oder sonst wie bundesrechtswidrig bezeichnet werden.  
 
4.3. Das kantonale Verwaltungsgericht hat einen Leistungsanspruch der Versicherten betreffend medizinische Massnahmen in Form von Psychotherapie sowohl unter dem Titel von Art. 13 IVG (E. 4.1) als auch gestützt auf Art. 12 IVG (E. 4.2) zu Recht verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. Juli 2015 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder