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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_357/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 10. September 2015  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Verfügung; Auslegung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 30. April 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 1. Oktober 2014 teilte die IV-Stelle Luzern A.________ mit, es werde ihm durch die Ausgleichskasse Luzern ab 1. November 2014 eine ganze Rente der Invalidenversicherung von Fr. 2'097.- im Monat samt zwei Kinderrenten von je Fr. 839.- ausgerichtet. Betreffend IV-Nachzahlung wurde auf den Erlass einer rückwirkenden Verfügung verwiesen. In dem mit Zusprache einer Invalidenrente überschriebenen (zweiten) Teil der Verfügung wurde nach Darlegung der gesetzlichen Grundlagen und der Begründung, u.a. mit Stellungnahme zu den Einwänden gegen den Vorbescheid vom 28. Mai 2014, festgehalten: 
Wir verfügen deshalb: 
Sie haben Anspruch auf folgende Renten: 
 
Anspruchsbeginn:  
Art der Rente:  
01.02.2011  
 
01.07.2012  
Viertelsrente  
 
ganze Rente  
 
 
Am 3. Dezember 2014 erliess die IV-Stelle zwei Verfügungen, womit sie die Rentenleistungen für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. Juni 2012 und vom 1. Juli 2012 bis 31. Oktober 2014 sowie die Höhe der Nachzahlung unter Berücksichtigung der Ansprüche Dritter (Verrechnung mit den Rückforderungen des Sozialamtes der Gemeinde und der Arbeitslosenkasse) festsetzte. 
 
B.   
Am 10. Dezember 2014 reichte A.________ Beschwerde beim Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, ein mit dem Rechtsbegehren, die Verfügung vom 3. Dezember 2014 sei aufzuheben und ihm spätestens ab Herbst 2010 bis zum 30. Juni 2012 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Mit Entscheid vom 30. April 2015 trat das kantonale Gericht auf das Rechtsmittel nicht ein. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 30. April 2015 sei aufzuheben und das Kantonsgericht anzuweisen, auf die Beschwerde vom 10. Dezember 2014 einzutreten. 
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Vorinstanz hat ihr Nichteintreten auf die Beschwerde gegen die Verfügung vom 3. Dezember 2014 wie folgt begründet: Mit Verfügung vom 1. Oktober 2014 sei dem Beschwerdeführer vom 1. Februar 2011 bis 30. Juni 2012 eine Viertelsrente und ab 1. Juli 2012 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zugesprochen worden. Dieser Verwaltungsakt sei unangefochten geblieben und damit gerichtlich nicht überprüfbar. Anfechtungsgegenstand bilde somit einzig die Verfügung vom 3. Dezember 2014. Inhalt dieses Verwaltungsaktes und Streitgegenstand sei ausschliesslich die Berechnung der Rentenbetreffnisse vom 1. Februar 2011 bis 31. Oktober 2014 sowie die Abrechnung der Nachzahlung. In Bezug auf den Rentenanspruch an sich und dessen Höhe (recte: Umfang) enthalte er keine eigenständige Anordnung; "es handelt sich demnach um eine reine Folgeverfügung (Berechnungsverfügung) ". Die Berechnung werde jedoch nicht kritisiert, sondern lediglich die zugrunde liegende Zusprechung einer Viertelsrente (rückwirkend ab 1. Februar 2011). Einer diesbezüglichen Prüfung stehe die Wirkung der res iudicata entgegen (E. 1.1 und 1.2 des angefochtenen Entscheids). 
 
2.   
Der Beschwerdeführer bringt in erster Linie vor, der Inhalt der Verfügung vom 1. Oktober 2014 könne nicht anders verstanden werden, als dass ausschliesslich die zukünftige ganze Rente und die Kinderrenten ab dem 1. November 2014 verfügt wurden, nicht auch die rückwirkenden Rentenansprüche. Die gegenteilige Auffassung verstosse sinngemäss gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (Art. 9 BV). 
 
2.1. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben haben Verfügungen auf dem Gebiete der Sozialversicherung so zu gelten, wie sie nach gemeinverständlichem Wortlaut zu verstehen sind (BGE 108 V 232   E. 2b S. 234; Urteil 9C_95/2015 vom 27. Mai 2015 E. 5.1).  
 
2.2.  
 
2.2.1. Die Verfügung vom 1. Oktober 2014 besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden die Leistungen (eine ganze Invalidenrente und zwei Kinderrenten) beziffert, welche ab 1. November 2014 monatlich ausgerichtet werden, die wesentlichen Berechnungsgrundlagen erwähnt, u.a. die Höhe des Invaliditätsgrades (100 %), und auf die Meldepflicht hingewiesen, woran die Rechtsmittelbelehrung anschliesst. Im zweiten mit 'Zusprache einer Invalidenrente' überschriebenen Teil werden die massgeblichen gesetzlichen Grundlagen betreffend den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung wiedergegeben, das Abklärungsergebnis, u.a. mit Berechnung des Invaliditätsgrades durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) zusammengefasst und zu den Einwänden gegen den Vorbescheid vom 28. Mai 2014 Stellung genommen. Unter 'Wir verfügen deshalb:' wird sodann festgehalten, dass ab 1. Februar 2011 Anspruch auf eine Viertelsrente, ab 1. Juli 2012 auf eine ganze Rente besteht (vgl. Sachverhalt A). Nach Ausführungen zur Wiedereingliederung folgt der Hinweis auf die Meldepflicht, die Rechtsmittelbelehrung und die Unterschrift des zuständigen Juristen und der zuständigen Sachbearbeiterin der IV-Stelle.  
 
2.2.2. Der Inhalt der Verfügung vom 1. Oktober 2014 kann nur so verstanden werden, dass über den Rentenanspruch als solchen sowie Umfang und Beginn auch für die Zeit vor dem 1. November 2014 verbindlich entschieden wurde. Der zweite Verfügungsteil weist denn auch alle diesbezüglich erforderlichen Merkmale für eine nach Art. 56 Abs. 1 ATSG und Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG mit Beschwerde anfechtbare Verfügung im Sinne von Art. 49 Abs. 1 ATSG und Art. 5 Abs. 1 VwVG (BGE 130 V 388) auf: Bezeichnung des Regelungsgegenstandes ('Zusprache einer Invalidenrente'), Begründung einschliesslich Stellungnahme zu den Einwänden gegen den Vorbescheid, Dispositiv ('Wir verfügen deshalb'), Rechtsmittelbelehrung und Unterschrift. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, ist nicht stichhaltig. Insbesondere bezieht sich der Hinweis im ersten Verfügungsteil (der Ausgleichskasse; vgl. Urteil 8C_206/2010 vom 25. Mai 2010 E. 4.1), dass die rückwirkende Verfügung später erlassen werde, nicht auf den Rentenanspruch, sondern auf die 'IV-Nachzahlung' nach einer allfälligen Verrechnung mit erbrachten Leistungen Dritter. Von einem dadurch hervorgerufenen Rechtsschein, auf den er nach Treu und Glauben habe vertrauen dürfen, wonach die Verfügung sich exklusiv mit dem Rentenanspruch für die Zukunft befasse, kann klarerweise nicht gesprochen werden.  
Die Rüge widersprüchlichen Verhaltens der Beschwerdegegnerin bzw. die Verfügung vom 1. Oktober 2014 sei in sich widersprüchlich, ist unbegründet. 
 
3.   
Weiter rügt der Beschwerdeführer sinngemäss, dass die IV-Stelle in derselben Verfügung gleichzeitig ab einem bestimmten Zeitpunkt bzw. für die Zukunft eine Rente zuspricht und sie masslich festsetzt, für die Zeit davor jedoch lediglich den Anspruch als solchen, Umfang (bestimmt durch die Höhe des Invaliditätsgrades; Art. 28 Abs. 2 IVG) und Beginn festlegt. Es ist fraglich, ob in diesem Sinne die Beschwerdegegnerin mit der Verfügung vom 1. Oktober 2014 für die Zeit ab 1. November 2014 einen Leistungs-, für die Zeit davor jedoch bloss einen Feststellungsentscheid insbesondere betreffend die Anspruchsberechtigung an sich erlassen wollte, werden doch einzig die Nachzahlungen unter den Vorbehalt der Klärung allfälliger Verrechnungsansprüche Dritter gestellt. Dieser Punkt kann indessen offenbleiben. 
 
3.1. Der Erlass einer Feststellungsverfügung erfordert ein rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen, und welches nicht durch einen rechtsgestaltenden Entscheid gewahrt werden kann (Art. 49 Abs. 2 ATSG; BGE 132 V 257 E. 1 S. 259 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 118 V 416 E. 3b/aa S. 418).  
 
3.1.1. Der zweite Teil der Verfügung vom 1. Oktober 2014 hat, für sich allein betrachtet, rein feststellenden Charakter. Die ganze Rente und die zwei Kinderrenten für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. Oktober 2014 werden nicht masslich festgesetzt, wie im ersten Teil für die Zeit ab 1. November 2014, sondern lediglich der Anspruch als solcher, Umfang und Beginn festgelegt. Als Grund für dieses Vorgehen wird im ersten Verfügungsteil angegeben, zurzeit werde noch eine allfällige Verrechnung mit erbrachten Leistungen Dritter abgeklärt. Um Verzögerungen zu verhindern, werde die laufende Rente ab November 2014 vorgängig ausbezahlt.  
 
3.1.2. Die Beschwerdegegnerin wäre unzweifelhaft in der Lage gewesen, in der Verfügung vom 1. Oktober 2014 die Renten ab Anspruchsbeginn und nicht erst ab 1. November 2014 masslich festzusetzen. Daran ändert eine allfällige (beantragte) Verrechnung der Nachzahlungen mit erbrachten Leistungen Dritter nach Art. 22 Abs. 2 ATSG und Art. 85bis IVV (vgl. Urteil 8C_939/2014 E. 3 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 518/05 vom 14. August 2006 E. 2.1, in: SVR 2007 IV Nr. 14 S. 52) nichts. Dieser Umstand betrifft einzig den Zeitpunkt und die Höhe des nachzuzahlenden Betrages, welcher im Streitfall ohnehin nicht im IV-Verfahren zu beurteilen ist (Urteil 9C_225/2014 vom 10. Juli 2014). Da die Prüfung der Verrechnungsfrage bei Kenntnis der allenfalls in Betracht fallenden Dritten in der Regel nicht mit einem übermässigen Zeitaufwand verbunden ist, bestand keine Notwendigkeit und auch kein im Sinne von Art. 49 Abs. 2 ATSG schützenswertes Interesse an der verfügungsweisen Feststellung von Umfang und Beginn des Anspruchs für die Zeit bis Verfügungserlass.  
 
3.1.3. Der zweite Teil der Verfügung vom 1. Oktober 2014, soweit die Zeit bis 31. Oktober 2014 betreffend, ist somit ein unzulässiger, nach Auffassung des Beschwerdeführers nichtiger Feststellungsentscheid.  
 
3.2. Nach der Rechtsprechung ist eine fehlerhafte Verfügung nach Art. 5 Abs. 1 VwVG nur ausnahmsweise nichtig, wenn der Mangel besonders schwer und offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist; zudem darf die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet sein. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht. Dagegen führen nur ausserordentlich schwerwiegende inhaltliche Mängel zu Nichtigkeit (BGE 138 III 49 E. 4.4.3 S. 56; Urteile 9C_95/2015 vom 27. Mai 2015 E. 5.2.1 und 2C_657/2014 vom 12. November 2014 E. 2.2 mit Hinweisen). Mit seinen Vorbringen vermag der Beschwerdeführer die in diesem Sinne bestehende Vermutung zu Gunsten der Wirksamkeit eines selbst mangelhaften Verwaltungsaktes (Urteil 5A.19/2003 vom 17. Oktober 2003 E. 4.1, in: ZBGR 85/2004 S. 277) hinsichtlich der Verfügung vom 1. Oktober 2014, soweit die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 31. Oktober 2014 betreffend, nicht umzustossen:  
 
3.2.1. Vorab trifft nicht zu, dass die Verfügung vom 3. Dezember 2014, womit die für diesen Zeitraum geschuldeten Renten festgesetzt und vom Nachzahlungsbetrag die erbrachten Leistungen Dritter durch Verrechnung in Abzug gebracht wurden, als blosse Berechnung nicht direkt auf Rechtswirkungen gerichtet sei und demzufolge keinen Verfügungscharakter besitze (vgl. etwa BGE 124 V 159). In dem zur Begründung angeführten BGE 139 V 72 E. 2.2.1 S. 75 wird nichts anderes gesagt.  
 
3.2.2. Sodann ist nicht von Relevanz, dass und soweit andere IV-spezialisierte Rechtsanwälte "aus Unsicherheit über die Rechtsmittelbelehrung in einer solchen Fallkonstellation" beide Verfügungen anfechten, wie geltend gemacht wird. Der Beschwerdeführer bzw. sein Rechtsvertreter ist gerade nicht so vorgegangen. Abgesehen davon hat er keinen einzigen Entscheid der Vorinstanz aufgelegt, der sein Vorbringen stützte.  
 
3.2.3. Schliesslich kontrastiert der Hinweis, nach telefonischer Auskunft einer Mitarbeiterin der Beschwerdegegnerin müsse in Konstellationen wie der vorliegenden die zweite (Berechnungs-) Verfügung angefochten werden, mit der Tatsache, dass dieselbe IV-Stelle in der vorinstanzlichen Vernehmlassung Nichteintreten auf die Beschwerde gegen die Verfügung vom 3. Dezember 2014 beantragte.  
 
3.2.4. Die Verfügung vom 1. Oktober 2014 wurde, was unbestritten ist, nicht angefochten und erwuchs somit in Rechtskraft, welche sich auch auf den vorinstanzlich angefochtenen Anspruchsbeginn (1. Februar 2011) und den Umfang des Rentenanspruchs (ein Viertel) bis 30. Juni 2012 erstreckt (BGE 125 V 413 E. 2b in fine S. 416).  
 
3.3. Abschliessend ist zu bemerken, dass in Fällen wie dem vorliegenden aus verfahrensrechtlicher Sicht der Erlass einer einzigen Verfügung vorzuziehen ist. Dies ändert indessen nichts daran, dass der vorinstanzliche Entscheid - im Ergebnis (Art. 106 Abs. 1 BGG) - kein Bundesrecht verletzt.  
 
4.   
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. September 2015 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler