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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_346/2010 
 
Urteil vom 11. November 2010 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Raselli, 
Gerichtsschreiber Haag. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Georges Müller, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, 
Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 12. Oktober 2010 des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter. 
Sachverhalt: 
 
A. 
X.________, geboren am 25. Februar 1992, ist seit dem 17. September 2010 in Untersuchungshaft. Er wird verdächtigt, verschiedene Einbruchdiebstähle, sowie weitere Diebstähle und Sachbeschädigungen verübt zu haben. Am 7. Oktober 2010 ersuchte er unter Hinweis auf die sachliche Unzuständigkeit der Staatsanwaltschaft zur Haftanordnung um Entlassung aus der Untersuchungshaft. 
Der Haftrichter am Bezirksgericht Zürich wies das Haftentlassungsgesuch mit Verfügung vom 12. Oktober 2010 ab. Er bezeichnete die Staatsanwaltschaft als im Haftprüfungsverfahren sachlich zuständig, ohne die Zuständigkeit für das Strafverfahren abschliessend zu beurteilen. Neben dem dringenden Tatverdacht bejahte er den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 22. Oktober 2010 beantragt X.________, die Verfügung des Haftrichters vom 12. Oktober 2010 sei aufzuheben, und es sei seine sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft anzuordnen. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
Das Bezirksgericht Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat beantragt, die Beschwerde abzuweisen und die Verfügung des Haftrichters zu bestätigen. Der Beschwerdeführer hält in einer weiteren Eingabe an seinen Anträgen und deren Begründung fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und inwiefern auf eine Beschwerde eingetreten werden kann (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.1 S. 251). 
 
1.1 Nach Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Der Antrag auf Haftentlassung ist somit zulässig. 
 
1.2 Die Beschwerde ist zulässig gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen (Art. 80 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer macht geltend, im vorliegenden Verfahren sei nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Jugendanwaltschaft zur Führung der Strafuntersuchung zuständig. Diese Frage ist hier insoweit von Interesse, als ein Inhaftierter, auf den das Jugendstrafgesetz anwendbar ist, gestützt auf Art. 41 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) im Kanton ein Rechtsmittel gegen eine Haftanordnung oder -verlängerung erheben kann. Er muss diese Möglichkeit auch ausschöpfen, bevor er Beschwerde ans Bundesgericht führen kann (BGE 133 IV 267 E. 3.4 S. 270). Somit ist im Folgenden zu prüfen, ob auf den Beschwerdeführer in Bezug auf die Untersuchungshaft das Jugendstrafgesetz zur Anwendung kommt, obwohl er das 18. Altersjahr bereits beendet hat. 
1.2.1 Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass der Beschwerdeführer am 22. März 2010 erstinstanzlich wegen "Diebstahls etc." verurteilt wurde und dieses Strafverfahren beim Obergericht des Kantons Zürich hängig ist. Nach den unbestrittenen Ausführungen der Staatsanwaltschaft erfolgte diese Verurteilung im Jugendstrafverfahren. Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG bestimmt, dass das Jugendstrafverfahren anwendbar bleibt, wenn ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet wurde, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahrs begangene Tat bekannt wurde. 
1.2.2 Die Straftaten, welche der Beschwerdeführer nach seinem 18. Geburtstag begangen haben soll, fielen in eine Zeit, als das Verfahren für die vor dem 18. Geburtstag angeblich verübten Taten bei der Jugendanwaltschaft bereits eingeleitet, aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossen war. Der klare Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG spricht gegen die Auffassung der Vorinstanz, diese Bestimmung komme nicht mehr zur Anwendung, nachdem der Beschuldigte erstinstanzlich verurteilt sei (vgl. BGE 135 IV 206 E. 5 S. 209 ff.). Einzige Voraussetzung für die Anwendung des Jugendstrafverfahrens auf Delikte, welche der Täter nach Vollendung des 18. Altersjahrs begangen hat, ist die Rechtshängigkeit eines Jugendstrafverfahrens. Ein solches endet nicht mit der erstinstanzlichen Verurteilung, sondern erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des Jugendstrafverfahrens. Etwas anderes lässt sich auch dem von der Staatsanwaltschaft erwähnten Urteil des Bundesstrafgerichts BG.2007.27 vom 17. Dezember 2007 nicht entnehmen. In der Lehre wird die Regelung als nicht sachgerecht kritisiert (vgl. GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, in: Basler Kommentar Strafrecht I, 2. Aufl. 2007, N.17 ff.). Das Bundesgericht hat sich zu dieser Kritik in BGE 135 IV 206 E. 5.3 S. 211 f. geäussert und erwogen, dass in sogenannten "gemischten Fällen", bei denen gleichzeitig Straftaten zu verfolgen sind, die der Angeschuldigte vor und nach Vollendung des 18. Altersjahrs begangen haben soll, grundsätzlich das Jugendstrafverfahren anwendbar bleibt. Der Gesetzgeber nahm die erwähnte Kritik bisher nicht zum Anlass für eine Änderung von Art. 3 JStG, obwohl dazu beispielsweise im Rahmen des Erlasses der Jugendstrafprozessordnung des Bundes vom 20. März 2009 (BBl 2009 1993) Gelegenheit bestand. Es ergibt sich, dass im vorliegenden Haftprüfungsverfahren die Regeln des Jugendstrafgesetzes anzuwenden sind. 
1.2.3 Die Anordnung von Untersuchungshaft erfolgt auch bei Jugendlichen in erster Linie aufgrund der Bestimmungen des kantonalen Strafprozessrechts (hier: §§ 58 ff. i.V.m. § 380 Abs. 3 Zürcher Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 [StPO/ZH]). Zu beachten sind aber zusätzlich die restriktiveren Anforderungen gemäss Art. 6 Abs. 1 JStG. Die Entscheide über Untersuchungshaft gehören damit auch zu den anfechtbaren Entscheiden nach Art. 41 JStG (BGE 133 IV 267 E. 3.2 S. 269; Peter Aebersold, Schweizerisches Jugendstrafrecht, 2007, S. 200; Baptiste Viredaz, Le nouveau droit pénal des mineurs, in: Kuhn/Moreillon/ Viredaz/Bichovsky, La nouvelle partie générale du Code pénal suisse, 2006, S. 411 Fn. 56). 
1.2.4 Art. 41 Abs. 1 JStG verpflichtet die Kantone, ein Rechtsmittel vorzusehen, mit dem Urteile und Verfügungen, gleichgültig ob von Gerichten oder Verwaltungsbehörden erlassen, bei einer gerichtlichen Instanz des Kantons angefochten werden können (Botschaft des Bundesrats zum JStG vom 21. September 1998, BBl 1999 Ziff. 425.4 S. 2265). Es handelt sich dabei um eine Mindestgarantie, die vom kantonalen Recht über-, nicht aber unterschritten werden darf. Sie soll sicherstellen, dass das materielle Jugendstrafrecht und seine Grundsätze tatsächlich zum Tragen kommen (AEBERSOLD, a.a.O., S. 191 f.; vgl. auch Botschaft, a.a.O., Ziff. 425.4 S. 2266). Von diesem Schutzzweck her ist auch die Verfahrensbestimmung von Art. 41 JStG unmittelbar anwendbar (BGE 133 IV 267 E. 3.3 S. 270). 
1.2.5 Das in Art. 41 Abs. 1 JStG vorgeschriebene Rechtsmittel muss nach der Rechtsprechung ergriffen werden, bevor die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig ist (BGE 133 IV 267 E. 3.4 S. 270 f.). Das kantonale Recht enthält keine Regelung über die Zuständigkeit einer gerichtlichen Instanz zur Überprüfung von Haftrichterentscheiden, die in den Anwendungsbereich des JStG fallen (vgl. § 62 Abs. 4 i.V.m. § 380 Abs. 3 StPO/ZH). Diese Verfahrensordnung, die kein Rechtsmittel an eine kantonale Instanz vorsieht, ist mit Art. 41 Abs. 1 JStG nicht vereinbar. Der Umstand, dass das kantonale Recht offenbar nicht an diese seit dem 1. Januar 2007 in Kraft stehende Bestimmung angepasst wurde, darf nicht dazu führen, dass auf die Beurteilung des Entscheids des Haftrichters durch ein kantonales Gericht in einem Rechtsmittelverfahren verzichtet wird. Gestützt auf Art. 80 Abs. 1 BGG kann auf die vorliegende Beschwerde jedoch mangels Letztinstanzlichkeit des angefochtenen Entscheids nicht eingetreten werden. Der angefochtene Entscheid enthält eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung, deren Fehlerhaftigkeit der Beschwerdeführer nicht ohne Weiteres erkennen konnte. Die Sache ist an das kantonale Obergericht, das für die Beurteilung strafrechtlicher Entscheide der Bezirksgerichte grundsätzlich zuständig ist, zur materiellen Behandlung der vorliegenden Beschwerde zu überweisen (vgl. BGE 135 II 94 E. 6 S. 102 ff.; 134 I 199 E. 1.3.2 S. 203; je mit Hinweisen). Da es sich um ein Beschwerdeverfahren handelt und eine erste gerichtliche Haftprüfung stattgefunden hat, rechtfertigt sich eine sofortige Haftentlassung des Beschwerdeführers indessen nicht (vgl. BGE 135 II 94 E. 6.4 S. 104). Die kantonale Rechtsmittelinstanz wird im weiteren Verfahren das Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu beachten haben. 
 
2. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann und die Sache an das Obergericht des Kantons Zürich zur weiteren Behandlung zu überweisen ist. 
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2. 
Die Angelegenheit wird zur weiteren Behandlung der Beschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich überwiesen. 
 
3. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.2 Rechtsanwalt Georges Müller wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt. 
 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, sowie dem Obergericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 11. November 2010 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Haag