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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_903/2015 {T 0/2}  
   
   
 
 
 
Urteil vom 12. Mai 2016  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Fürsprecher Daniel Küng, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 4. November 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1956 geborene A.________ arbeitete bei der B.________ AG. Am 1. Dezember 2008 stürzte sie auf einer Treppe und verletzte sich am linken Ellbogen und am rechten Knie. Im April 2009 meldete sie sich bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau zum Leistungsbezug an. Diese sprach ihr mit Verfügung vom 5. Oktober 2012 ab 1. Dezember 2009 bis 31. Dezember 2011 eine ganze Invalidenrente zu. Die hiegegen von der Versicherten erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau in dem Sinne gut, als es die Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit sie, nach Einholung eines polydisziplinären Gutachtens, über den Rentenanspruch ab 1. Dezember 2009 neu entscheide (Entscheid vom 27. März 2013). Auf die Beschwerde der Versicherten trat das Bundesgericht mit Urteil 9C_299/2013 von 6. Juni 2013 nicht ein.  
 
A.b. In der Folge holte die IV-Stelle ein interdisziplinäres Gutachten des Ärztlichen Begutachtungsinstituts (ABI) GmbH, Basel, vom       30. Januar 2014 ein. Mit Verfügung vom 11. November 2014 sprach sie der Versicherten ab 1. Dezember 2009 bis 31. Dezember 2011 eine ganze Invalidenrente zu.  
 
B.   
Die hiegegen geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 4. November 2015). 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei ihr über den 31. Dezember 2011 hinaus eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell seien weitere Abklärungen vorzunehmen. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung, wobei Erstere auf Beschwerdeabweisung schliesst. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1,    Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (vgl. E. 2 hienach). Die konkrete Beweiswürdigung ist Sachverhaltsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]; zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen bei somatoformen Schmerzstörungen oder äquivalenten Beschwerdebildern im Besonderen vgl. BGE 141 V 281 E. 7 S. 308). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), die Rentenrevision (Art. 17 Abs. 1 ATSG), die Invaliditätsbemessung nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) und den Rentenanspruch (Art. 28 Abs. 2 IVG) richtig dargelegt. Gleiches gilt betreffend die Beurteilung der Invalidität bei psychosomatischen Leiden (BGE 141 V 281 vom 3. Juni 2015; zu seiner Anwendbarkeit auf laufende Verfahren vgl. E. 8 desselben) und den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351 E. 3a S. 352). Darauf wird verwiesen. 
 
3.  
 
3.1. Im interdisziplinären (allgemeininternistischen, psychiatrischen, orthopädischen und kardiologischen) ABI-Gutachten vom 30. Januar 2014 wurden folgende Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: 1. Knietotalprothese rechts seit 26. Oktober 2010 (ICD-10Z96.6); 2. Anamnestisch Gonarthrose links (ICD-10 M17.0); 3. Koronare 3-Gefäss-Erkrankung (ICD-10 I25). Ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit seien: 1. Verdacht auf Schmerzverarbeitungsstörung (ICD-10 F54; anamnestisch multilokuläres Schmerzsyndrom, abgesehen von den Knien ohne klinisch objektivierbares Korrelat [ICD-10 R52.1]);    2. Metabolisches Syndrom; 3. Erniedrigter MCV-Wert von 81,5 fL (ICD-10 R71). Weiter wurde ausgeführt, es bestehe keine zumutbare Arbeitsfähigkeit für körperlich mittelschwer und schwer belastende berufliche Tätigkeiten. Für körperlich leichte, angepasste Tätigkeiten bestehe eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 100 %.  
 
3.2. Die Vorinstanz hat erwogen, dieses Gutachten erfülle die praxisgemässen Anforderungen an eine medizinische Beurteilungsgrundlage, weshalb darauf abzustellen sei.  
 
3.3. Unbestritten ist die vorinstanzliche Feststellung, dass die Versicherte in somatischer Hinsicht in einer adaptierten Tätigkeit voll arbeitsfähig ist. Hierzu erübrigen sich mithin Weiterungen.  
 
4.   
Streitig und zu prüfen ist die psychische Problematik. 
 
4.1. Die Vorinstanz hat dazu ausgeführt, die blosse Verdachtsdiagnose einer Schmerzverarbeitungsstörung ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit sei im ABI-Gutachten vom 30. Januar 2014 begründet worden. Diesbezüglich habe der psychiatrische ABI-Teilgutachter keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit feststellen können; eine solche ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Versicherte im Jahre 2009 an kardiologischen Problemen gelitten habe, seien doch im psychiatrischen ABI-Teilgutachten explizit Hinweise auf Angst- und Zwangssymptome verneint worden. Selbst wenn eine Schmerzverarbeitungsstörung vorläge, wäre anhand der Indikatoren von BGE 141 V 281 zu prüfen, ob die Versicherte in der Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei. Vorliegend müsste der Schmerzstörung der verlangte Schweregrad (BGE 141 V 281 E. 2.1.1 S. 285) von vornherein abgesprochen werden, nachdem die Versicherte psychische Ressourcen zeige, Kontakte zu Freunden, Arbeitskolleginnen und Verwandten pflege und zu Ferienaufenthalten nach Portugal reisen könne. Sie sei auch nicht in psychiatrischer Behandlung, was ebenfalls darauf hindeute, dass kein allzu grosser Leidensdruck bestehe. Die festgestellte Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht sei daher auch unter diesem Titel nicht zu beanstanden.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Beschwerdeführerin beruft sich - wie schon im Verwaltungsverfahren und vorinstanzlich - auf das psychosomatische Konsilium der Psychiaterin Dr. med. C.________, Oberärztin, und der Frau lic. phil. D.________, Klinische Psychologin, Klinik E.________, vom 23. Mai 2011 und auf den Austrittsbericht dieser Klinik vom 9. Juni 2011. Hierin wurden folgende psychopathologische Diagnosen gestellt: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41); Anpassungsstörung mit Nervosität, zweimaligen Panik-attacken und tageweise Stimmungseinbrüchen mit Traurigkeit und sozialem Rückzug (ICD-10 F43.28). Weiter wurde ausgeführt, die festgestellte psychische Störung begründe eine mindestens leichte arbeitsrelevante Leistungsminderung. Im Konsilium vom 23. Mai 2011 wurde zudem festgehalten, eine ambulante psychiatrisch-psychologische Weiterbehandlung sei bei der Versicherten sinnvoll; sie selbst sehe jedoch keinen Anlass für eine Psychotherapie; die vom Hausarzt gestartete Psychopharmakatherapie solle fortgesetzt werden.  
 
4.2.2. Der Versicherten ist beizupflichten, dass den ABI-Gutachtern diese Berichte der Klinik E.________ nicht zur Verfügung standen. Der Verfasser des psychiatrischen ABI-Teilgutachtens führte aus, die psychiatrische Vorgeschichte sei soweit unauffällig; frühere psychiatrische Interventionen oder Behandlungen hätten nicht stattgefunden; auch aktuell stehe die Versicherte nicht in psychiatrischer Behandlung. Weder aktuell noch rückblickend könne ihr eine Arbeitsunfähigkeit aus psychiatrischer Sicht attestiert werden; psychiatrische Vorberichte seien nicht vorhanden.  
Somit wurde das ABI-Gutachten vom 30. Januar 2014 ohne Kenntnis wichtiger Vorakten (Anamnese; BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232) erstellt, zumal das psychosomatische Konsilium der Klinik E.________ vom 23. Mai 2011 bzw. ihr Austrittsbericht vom 9. Juni 2011 zeitlich relativ nahe vor der hier strittigen Rentenaufhebung per 31. Dezember 2011datieren. Die Vorinstanz hat diese Berichte der Klinik E.________ - die ihr vorlagen - ebenfalls nicht berücksichtigt. Von einer umfassenden und sorgfältigen Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 399) kann somit nicht gesprochen werden (vgl. auch Urteil 8C_670/2007 vom 18. April 2008 E. 4.2). 
Auf die Berichte der Klinik E.________ kann indessen für sich allein nicht abgestellt werden, zumal sie keine Festlegung des konkreten Grades der attestierten Arbeitsunfähigkeit aus psychiatrischer Sicht beinhalten und keine schlüssige Beurteilung nach Massgabe der relevanten Indikatoren (BGE 141 V 281) ermöglichen. Insofern dringt die Beschwerdeführerin mit ihrem Hauptantrag auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente nicht durch. 
 
4.3. Zusammenfassend hat die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig und in Verletzung von Bundesrecht festgestellt (Art. 105 Abs. 2 BGG), weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie das psychosomatische Konsilium der Klinik E.________ vom 23. Mai 2011 bzw. ihren Austrittsbericht vom 9. Juni 2011 dem ABI mit allfälligen Zusatzfragen zur Stellungnahme unterbreite. Erforderlichenfalls hat die Vorinstanz ein psychiatrisches Obergutachten einzuholen. Danach hat sie über die Beschwerde der Versicherten neu zu entscheiden.  
 
5.   
Unter diesen Umständen braucht auch nicht geprüft zu werden, ob die Vorinstanz der Versicherten hätte Gelegenheit geben müssen, aufgrund des Grundsatzurteils BGE 141 V 281 Ergänzungen anzubringen (zu dieser Problematik vgl. Urteil 9C_636/2015 vom 2. Februar 2016 E. 4). 
 
6.   
Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 4. November 2015 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. Mai 2016 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar