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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_101/2007 
 
Urteil vom 12. Juni 2007 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Parteien 
H.________, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Sidler, Untermüli 6, 6300 Zug, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 14. Februar 2007. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1967 geborene H.________, gelernter Automechaniker, führte einen eigenen Garagebetrieb, als er am 21. März 2002 als Lenker eines Personenwagens einen Verkehrsunfall erlitt. Im Rahmen der Abklärung und Behandlung am Spital X.________ wurde die Diagnose einer HWS-Distorsion Grad II mit Bandscheibenvorwölbung C3/4 gestellt. Trotz der ambulant und stationär durchgeführten konservativen Therapien sowie einer Nervenwurzelneurolyse C4 links persistierten belastungsabhängige Schmerzen im Nacken- und Lumbalbereich. Anfang Juni 2003 meldete sich H.________ bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. U.a. liess sie den Versicherten im Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) untersuchen (Expertise vom 15. Juli 2005). Mit Verfügung vom 7. September 2005 verneinte die IV-Stelle den Anspruch von H.________ auf eine Invalidenrente und berufliche Massnahmen, was sie mit Einspracheentscheid vom 21. Februar 2006 bestätigte. 
B. 
Die Beschwerde des H.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. Februar 2007 ab. 
C. 
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 14. Februar 2007 sei aufzuheben und die Sache sei an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme und einen Antrag zur Beschwerde. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
Feststellungen des kantonalen Gerichts zum Gesundheitszustand (Befund, Diagnose, Prognose etc.) und zur trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit sind somit grundsätzlich lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel überprüfbar (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397). 
2. 
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343 sowie Urteil I 1/03 vom 15. April 2003 E. 5.2) einen Invaliditätsgrad von maximal 35 % ermittelt, was keinen Anspruch auf eine Rente ergibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Beim Invalideneinkommen ist es von einer trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 80 % im angestammten Beruf als Automechaniker entsprechend der Einschätzung im ZMB-Gutachten vom 15. Juli 2005 ausgegangen. 
3. 
Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Feststellung einer Arbeitsfähigkeit von 80 % im bisherigen Beruf beruhe auf einer Verletzung von Bundesrecht. Das kantonale Gericht habe zu Unrecht die nach Erlass des Einspracheentscheides vom 21. Februar 2006 erstellten Berichte des Zentrums Z.________ vom 22. und 24. Mai 2006 über den Befund der am 15., 17. und 24. des Monats durchgeführten funktionellen MRI aus dem Recht gewiesen oder diesen Dokumenten keine entscheidrelevante Bedeutung beigemessen. 
3.1 Nach der Rechtsprechung erstreckt sich die gerichtliche Überprüfungsbefugnis in zeitlicher Hinsicht bis zum Erlass des Einspracheentscheides (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354, BGE 121 V 362 E. 1b S. 366). Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, haben somit grundsätzlich ausser Acht zu bleiben. Diese Regel gilt indessen nicht in Bezug auf Umstände, die mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und die geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Erlasses des Einspracheentscheides zu beeinflussen (BGE 118 V 200 E. 3a in fine S. 204; BGE 99 V 98 E. 4 S. 102; AHI 2000 S. 33 E. 1b [I 270/92]). 
3.2 
3.2.1 Gemäss den Berichten des Zentrums Z.________ vom 22. und 24. Mai 2006 ergaben die funktionellen MRI der HWS sowie der Kopfgelenke als Hauptbefund einen Zustand nach einer Teilruptur beider Ligamenta alaria mit dadurch bedingter Instabilität der Kopfgelenke. Die Aufnahmen zeigten eindeutig eine Verdickung und eine Inhomogenität dieser vom medialen Rand der Hinterhauptkondylen zu den oberen Gelenkflächen des Atlas führenden Flügelbänder (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 260. Aufl., S. 1047). Ferner zeigten sich diskrete Randwulstbildungen der Gelenkflächen im Bereich der oberen und unteren Kopfgelenke. Es wurde darauf hingewiesen, dass bereits auf den Voraufnahmen vom 6. April 2004 und 17. August 2005 eine Inhomogenität und Ausdünnung im lateralen Anteil beider Ligamenta alaria erkennbar gewesen sei. Auch der Neurologe Dr. med. R.________ erwähnte in seinen Berichten vom 30. April 2003 und 13. Juli 2005 eine in allen Richtungen endgradig eingeschränkte Kopfbeweglichkeit resp. eine schmerzbedingte Bewegungseinschränkung der HWS mit mässig palpatorisch verdickter und druckdolenter Nacken- und Schultermuskulatur. 
Aufgrund dieser Akten lässt sich eine Verletzung der Ligamenta alaria vor Erlass des Einspracheentscheides vom 21. Februar 2006 nicht rechtsgenüglich ausschliessen. Daran ändert nichts, dass in der Expertise des ZMB vom 15. Juli 2005 keine Ruptur oder Läsion der Flügelbänder erwähnt wurde. Die Gutachter hatten keine radiologischen Abklärungen vorgenommen. Ob sie die Bilder der im Bericht des Zentrums Z.________ erwähnten MRI der HWS vom 4. April 2003 und 6. April 2004 gesehen und allenfalls selber interpretiert hatten, ist fraglich. Die im Mai 2005 mittels funktionellem MRI festgestellte Bandverletzung im Bereich der HWS steht somit in engem Sachzusammenhang mit dem streitigen Anspruch auf berufliche Massnahmen und/oder eine Rente und ist daher, soweit entscheidwesentlich, zu berücksichtigen. 
3.2.2 Nach sinngemässer Auffassung des kantonalen Gerichts änderte eine vor Erlass des Einspracheentscheids tatsächlich bestandene Verletzung der Ligamenta alaria an der Arbeitsfähigkeit gemäss ZMB-Gutachten vom 15. Juli 2005 nichts. Demgegenüber kann laut Beschwerdeführer heute als gesichert gelten, dass Ligamentsverletzungen und verwandte Weichteilverletzungen im cranio-vertebralen Übergang erhebliche Beschränkungen in der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen können. Zum Beleg hiefür verweist er auf den im Periodikum SPINE (vol. 31 no 24 p. 2820-2826) erschienenen wissenschaftlichen Artikel «MRT-Darstellung der craniovertebralen Ligamente und Membranen nach einem Schleudertrauma» von Jostein Krakenes und Bertel R. Kaale. Danach sind die Ligamenta alaria die wichtigsten Strukturen, welche die axiale Rotation und die laterale Bewegung im Bereich der oberen Halswirbelsäule begrenzen. Aufgrund statistisch ausgewerteter Untersuchungen kommen die Autoren u.a. zum Schluss, dass diese Bänder eine wesentliche Rolle auch in Kombination mit Läsionen von anderen Strukturen zu spielen scheinen, was die frühere Hypothese stützt, dass sie als Ursachenfaktor für Schmerzen und Einschränkung beim chronischen Schleudertrauma wichtig sind. Beim Beschwerdeführer besteht nachweislich eine cervicale Diskushernie mediolateral rechtsseitig C3/4. 
Die klinische Untersuchung im Rahmen der ZMB-Begutachtung ergab eine normale Halswirbelsäulenbeweglichkeit mit Fehlen von muskulären pathologischen Befunden. Dieser Befund scheint gegen die Annahme zu sprechen, dass die im Zentrum Z.________ mittels funktionellem MRI festgestellte Verletzung der Ligamenta alaria Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben kann und tatsächlich auch hatte. Zu beachten ist indessen Folgendes: Der Beschwerdeführer hatte am 21. März 2002 einen Verkehrsunfall erlitten. In der Folge wurde die Diagnose einer HWS-Distorsion Grad II mit Bandscheibenvorwölbung C3/4 gestellt. Die Nackenschmerzen konnten jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht auf die Protrusion C3/4 zurückgeführt werden (Berichte Spital X.________ vom 23. August 2002 und Klinik Y.________ vom 27. Januar 2003). Laut dem erwähnten SPINE-Artikel können offenbar jedoch verletzte Ligamenta alaria in Kombination mit anderen beschädigten Strukturen als Ursachenfaktor für Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der HWS wichtig sein. Ob die Ligamenta alaria beim Unfall vom 21. März 2002 oder in einem späteren Zeitpunkt geschädigt wurden und die Verletzung nicht richtig ausheilte, kann aufgrund der Akten nicht gesagt werden. Dies ändert indessen nichts an dem vom Zentrum Z.________ mittels Funktionsaufnahmen erhobenen Befund eines Zustandes nach Teilruptur beider Flügelbänder mit dadurch bedingter Instabilität der Kopfgelenke. Die Therapie solcher Verletzungen scheint schwierig und Spätfolgen im Sinne von für Zerviko-Zephalsyndrome typischen Beschwerden nicht selten zu sein (Alfred M. Debrunner, Orthopädie. Orthopädische Chirurgie, 4. Aufl., S. 797 und 803). Es lässt sich somit nicht hinreichend sicher ausschliessen, dass ein organisches Substrat für die geklagten Beschwerden vorliegt, was im Gegensatz zur Diagnose einer Somatisierungsstörung auf rein psychogenem Hintergrund gemäss Gutachten des ZMB vom 15. Juli 2005 stünde und allenfalls Implikationen für die zumutbare Arbeitsfähigkeit hätte. Die vorinstanzliche Annahme, aus den neuen Unterlagen gehe nicht hervor, inwieweit neue Befundes an der Arbeitsfähigkeit etwas ändern sollten, stellt somit eine bundesrechtswidrige Nichtberücksichtigung tauglicher Beweismittel dar. Eine Konfrontation der Gutachter des ZMB mit den Befunden des Zentrums Z.________ scheint angezeigt (vgl. auch Urteil U 20/03 vom 19. Januar 2004 E. 4.2.1). Je nachdem sind allenfalls weitere medizinische Abklärungen erforderlich, um den streitigen Anspruch auf berufliche Massnahmen und/oder eine Rente in zuverlässiger Weise beurteilen zu können. Zu diesem Zweck ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Verwaltung dem Beschwerdeführer eine u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG und Art. 3 Abs. 1 und 3 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Februar 2007 und der Einspracheentscheid vom 21. Februar 2006 aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf berufliche Massnahmen und/oder eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau auferlegt. Dem Beschwerdeführer wird der geleistete Kostenvorschuss in dieser Höhe zurückerstattet. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 12. Juni 2007 
 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: