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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_510/2011 
 
Urteil vom 12. September 2011 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
K.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Ausgleichskasse Luzern, 
Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung (Versicherungspflicht), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 23. Mai 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die 1962 geborene deutsche Staatsangehörige K.________ reiste im Juni 2001 zur Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in die Schweiz ein. Mit der Begründung, es bestehe ein gleichwertiger Versicherungsschutz, befreite sie die Ausgleichskasse Luzern mit Schreiben vom 1. Juli und 17. Oktober 2002 bis zum Ablauf der damals aktuellen Aufenthaltsbewilligung am 1. Oktober 2007 vom schweizerischen Krankenversicherungsobligatorium. Im Juni 2010 ersuchte K.________ erneut um Befreiung von der Versicherungspflicht. In Verneinung eines Befreiungsgrundes wies die Ausgleichskasse K.________ mit Verfügung vom 27. August 2010 - nach entsprechender Aufforderung und Mahnung - per 1. August 2010 einem Krankenversicherer zu, woran sie mit Einspracheentscheid vom 21. Dezember 2010 festhielt. 
 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde der K.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 23. Mai 2011 ab. 
 
C. 
K.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, sie von der Unterstellung unter die schweizerische Krankenversicherungspflicht zu befreien. 
 
Die Ausgleichskasse und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
2.1 Grundsätzlich muss sich jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme in der Schweiz für Krankenpflege versichern lassen (Art. 3 Abs. 1 KVG). Der Bundesrat kann indessen Ausnahmen von der Versicherungspflicht vorsehen (Art. 3 Abs. 2 KVG). Nach Art. 2 Abs. 8 KVV (SR 832.102) sind insbesondere Personen, für welche eine Unterstellung unter die schweizerische Versicherung eine klare Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung zur Folge hätte und die sich auf Grund ihres Alters und/oder ihres Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen im bisherigen Umfang zusatzversichern könnten, auf Gesuch hin von der Versicherungspflicht ausgenommen. 
 
2.2 Mit Blick auf die gesetzgeberisch gewollte Solidarität zwischen Gesunden und Kranken sind die Ausnahmen von der Versicherungspflicht generell eng zu halten, und es ist der Befürchtung des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, dass sich das schweizerische Obligatorium unterlaufen liesse, wenn beispielsweise der Nachweis einer ausländischen freiwilligen privaten Versicherung allgemein als Befreiungsgrund akzeptiert würde (BGE 132 V 310 E. 8.5.6 S. 317). Für die Anwendung von Art. 2 Abs. 8 KVV sind daher strenge Massstäbe zu setzen. Insbesondere darf diese Bestimmung nicht dazu dienen, blosse Nachteile zu verhindern, die eine Person dadurch erleidet, dass das schweizerische System den Versicherungsschutz, den sie bisher unter dem ausländischen System genoss, überhaupt nicht oder nicht zu gleich günstigen Bedingungen vorsieht (SVR 2009 KV Nr. 10 S. 35, 9C_921/2008 E. 4.3). Sie soll aber immerhin den Nachteil vermeiden, der daraus resultiert, dass eine Person bis zum Erreichen ihres bisherigen ausländischen Versicherungsniveaus von in der Schweiz tatsächlich vorhandenen Angeboten wegen ihres Alters und/oder Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen Gebrauch machen kann (BGE 132 V 310 E. 8.5.6 S. 318). 
 
2.3 Die Frage, ob eine Person auf Grund ihres Alters und/oder ihres Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen eine Zusatzversicherung im bisherigen Umfang abschliessen könnte, ist eine Tatfrage. Ob eine Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung hinreichend erheblich ist, um eine Befreiung von der Versicherungspflicht zu rechtfertigen, und unter welchen Gesichtspunkten dies zu beantworten ist, sind hingegen vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfragen (vgl. E. 1). 
 
3. 
In der zutreffenden Auffassung, die Beantwortung der streitigen Frage nach der Versicherungspflicht richte sich nach schweizerischem Recht, hat die Vorinstanz das Vorliegen eines Befreiungsgrundes verneint. Namentlich in Bezug auf den Tatbestand von Art. 2 Abs. 8 KVV hat sie zwar festgestellt, der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sei eine massgebende Erschwernis für den Abschluss einer Zusatzversicherung. Hingegen hat sie den Versicherungsschutz im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach KVG gegenüber demjenigen, den die Beschwerdeführerin in ihrem Versicherungsverhältnis mit einer deutschen Krankenversicherung geniesst, nicht für eine klare Verschlechterung gehalten. Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, der bisherige Versicherungsschutz sei deutlich besser als jener nach KVG. 
 
4. 
4.1 Die vorinstanzliche Feststellung betreffend den Abschluss einer Zusatzversicherung ist nicht offensichtlich unrichtig und beruht nicht auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich ist (E. 1). Sie impliziert die - ebenfalls verbindliche - Folgerung, dass sich die Beschwerdeführerin auf Grund ihres Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen im bisherigen Umfang zusatzversichern könnte, was die Ausgleichskasse denn auch bereits in der Beschwerdeantwort des vorinstanzlichen Verfahrens anerkannte. 
 
4.2 Die Verwaltung hat den Beitritt zu einem Krankenversicherer auf den 1. August 2010 festgelegt. Den Akten lässt sich entnehmen, dass die Beschwerdeführerin seit Oktober 2010 wegen einer Erkrankung der Wirbelsäule in fachärztlicher Behandlung steht. Die Verschlechterung des Gesundheitszustandes in einer Weise, dass eine Befreiung von der Versicherungspflicht gestützt auf Art. 2 Abs. 8 KVV in Betracht fällt (E. 4.1), trat demnach erst nach Erlass der Beitrittsverfügung vom 27. August 2010 auf. Die Frage, ob diese nachträgliche Veränderung des Sachverhalts - welche sich immerhin im Verlauf des Einspracheverfahrens ereignete - zu berücksichtigen ist (vgl. für die Massgeblichkeit einer während des Einspracheverfahrens eingetretenen Sachverhaltsänderung im Rahmen der Rentenrevision Urteil 9C_73/2008 vom 21. Mai 2008 E. 4.3), kann indessen offen bleiben (E. 4.4). 
 
4.3 In Bezug auf die Frage nach einer klaren Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung (E. 2.1) hat die Vorinstanz die Vor- und Nachteile der bestehenden Versicherung gegeneinander abgewogen und mit jenen einer Krankenversicherung nach KVG verglichen. Diesbezüglich hat sie insbesondere - verbindlich (E. 1) - festgestellt, der bisherige Versicherungsschutz erstrecke sich auf Europa und (zeitlich begrenzt) auf aussereuropäische Länder. Für stationäre Behandlung bestehe freie Wahl unter den öffentlichen und privaten Krankenhäusern sowie Anspruch auf Unterkunft im Zweibettzimmer. Anderseits fehle eine Leistungspflicht bei Krankheiten beruhend auf vorhersehbaren Kriegsereignissen (z.B. bei Reisewarnungen) oder auf Vorsatz, für Entziehungsmassnahmen und -Kuren sowie für die Unterbringung in Pflegeheimen. 
4.4 
4.4.1 Es trifft zu, dass die Beschwerdeführerin mit der Versicherungspflicht namentlich in Bezug auf die freie Arztwahl - auch ausserhalb der Schweiz - und die Art der Unterbringung bei stationärer Behandlung eine gewisse Änderung des bisherigen Versicherungsschutzes zu gewärtigen hat (E. 4.1). Der Abschluss von Zusatzversicherungen ist indessen nicht unmöglich. Wohl ist anzunehmen, dass dabei ein Leistungsausschluss für Erkrankungen der Wirbelsäule vorbehalten würde; hinsichtlich aller anderer im Rahmen von Zusatzversicherungen angebotenen Leistungen ist aber keine potentielle Erschwernis eines Versicherungsabschlusses ersichtlich. 
4.4.2 Weiter ist es sachgerecht, für die Frage nach einer klaren Verschlechterung des Versicherungsschutzes auch die Nachteile der bisherigen Versicherung zu berücksichtigen, wenn dadurch die Versicherungsdeckung nach KVG unterschritten wird. Für die - einen entsprechenden Antrag voraussetzenden (GEBHARD EUGSTER, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], 2010, N. 6 zu Art. 3 KVG) - Befreiungstatbestände von Art. 2 Abs. 2-5 und 7 KVV ist jeweils ein mit jenem nach KVG "gleichwertiger Versicherungsschutz" (vgl. BGE 134 V 34 E. 5 S. 36 ff.; SVR 2011 KV Nr. 3 S. 13, 9C_313/2010 E. 4.3) erforderlich. Nach Art. 2 Abs. 6 KVV, welcher Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft betrifft, ist zumindest eine Versicherungsdeckung "für den Krankheitsfall" in der Schweiz nachzuweisen. Auch wenn mit dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 8 KVV nicht explizit ein gleichwertiger Versicherungsschutz verlangt wird, ist die Tatsache dessen Fehlens schon aus gesetzessystematischen Gründen und mit Blick auf einen umfassenden (Mindest-)Versicherungsschutz relevant. Ausserdem ist eine Lücke in der Versicherungsdeckung (im Vergleich zu den Mindestvorschriften des KVG) - jedenfalls wenn sie erheblich ist - auch angesichts der mit dem Versicherungsobligatorium angestrebten Solidarität zwischen Gesunden und Kranken (E. 2.2) als klarer Mangel zu werten, der durch Unterstellung unter die Versicherungspflicht behoben werden kann. 
4.4.3 Was Krankheiten beruhend auf vorhersehbaren Kriegsereignissen oder auf Vorsatz sowie Entziehungsmassnahmen und -kuren anbelangt, ist der Beschwerdeführerin beizupflichten, dass es sich um Risiken handelt, die zu vermeiden weitgehend von ihrem Willen abhängt und unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation als gering einzuschätzen sind. Hingegen besteht in Bezug auf die Unterbringung in einem Pflegeheim eine erhebliche Lücke im Versicherungsschutz, zumal das KVG eine Leistungspflicht bei Pflegebedürftigkeit vorsieht (Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG und Art. 7 der Verordnung vom 29. September 1995 über Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung [KLV; SR 832.112.31], je in der bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung; vgl. für die ab 1. Januar 2011 gültige Rechtslage [Neuordnung der Pflegefinanzierung; AS 2009 3517] Art. 25a KVG sowie Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG und Art. 7 KLV, je in der ab diesem Zeitpunkt geltenden Fassung). Daran ändert nichts, dass eine Ausweitung der bisherigen Versicherungsdeckung auf das Risiko der "Pflegebedürftigkeit im Alter" jederzeit möglich sein soll. Eine solche ist - soweit ersichtlich - bisher nicht veranlasst worden, und das Risiko einer früheren Pflegebedürftigkeit, welche in der Regel nicht willentlich beeinflussbar ist, würde dadurch ohnehin nicht abgedeckt. Die fehlende Deckung für Pflegekosten stellt einen schwerwiegenden Mangel der bisherigen Versicherung dar. 
 
4.5 Angesichts der gesamten Umstände hat die Vorinstanz nicht Bundesrecht verletzt, indem sie eine durch die Unterstellung unter das schweizerische Versicherungsobligatorium bewirkte klare Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes verneint hat. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 12. September 2011 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Meyer 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann