Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess {T 7} 
I 163/06 
 
Urteil vom 13. September 2006 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Borella und Kernen; Gerichtsschreiber Flückiger 
 
Parteien 
G.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Duri Poltera, Hadwigstrasse 6a, 9000 St. Gallen, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
(Entscheid vom 29. Dezember 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1976 geborene G.________ meldete sich am 7. Juli 2003 unter anderem wegen psychischer Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zog Berichte des Dr. med. A.________, prakt. Arzt, FMH Akupunktur/TCM, vom 17. Oktober 2002 sowie 12./20. September 2003 bei und holte Stellungnahmen des IV-internen regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) vom 31. Oktober 2003 und 20. April 2004 ein. Zudem gab sie der Psychiatrischen Klinik X.________ ein Gutachten in Auftrag, welches am 7. April 2004 erstattet wurde. Anschliessend sprach die Verwaltung dem Versicherten mit Verfügung vom 30. Juli 2004 berufliche Eingliederungsmassnahmen in Form einer vom 9. August 2004 bis 14. Juni 2006 dauernden Umschulung an der Handels- und Dolmetscherschule S.________, Fachrichtung Touristik, und mit Verfügungen vom 8. Oktober 2004 ein Wartetaggeld vom 25. Juni bis 8. August 2004 sowie Taggelder während der Dauer der Umschulung ab 9. August 2004 zu. Mit einer weiteren Verfügung vom 30. November 2004 lehnte sie es ab, Wartetaggelder für die Zeit vor dem 25. Juni 2004 auszurichten. Daran wurde mit Einspracheentscheid vom 29. März 2005 festgehalten. Eine zwischenzeitlich erlassene, den Rentenanspruch verneinende Verfügung vom 4. Februar 2005 erwuchs in Rechtskraft. 
B. 
Die gegen den Einspracheentscheid vom 29. März 2005 erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ab (Entscheid vom 29. Dezember 2005). 
C. 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm für die Zeit vom 7. November 2003 bis 24. Juni 2004 ein Wartezeittaggeld zuzusprechen. Ferner wird um unentgeltliche Verbeiständung ersucht. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössische Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht. 
2. 
Der Versicherte, der zu mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig ist und auf den Beginn bevorstehender Eingliederungsmassnahmen warten muss, hat für die Wartezeit Anspruch auf Taggeld. Der Anspruch beginnt im Zeitpunkt, in welchem die IV-Stelle auf Grund ihrer Abklärungen feststellt, dass Eingliederungsmassnahmen angezeigt sind, spätestens aber vier Monate nach Eingang der Anmeldung (Art. 18 Abs. 1 und 2 IVV, erlassen gestützt auf Art. 22 Abs. 3 IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen und Art. 22 Abs. 6 IVG in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung). Der Anspruch auf das Taggeld während der Wartezeit setzt voraus, dass die versicherte Person in der gewohnten Erwerbstätigkeit im Sinne der Rechtsprechung eine mindestens 50%-ige Arbeitsunfähigkeit aufweist und die Eingliederungsfähigkeit in subjektiver und objektiver Hinsicht soweit rechtsgenüglich erstellt ist, dass Eingliederungsmassnahmen - und nicht bloss Abklärungsmassnahmen - ernsthaft in Frage kommen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Durchführung der Eingliederungsmassnahmen bereits beschlossen ist (BGE 117 V 277 Erw. 2a; AHI 1997 S. 172 Erw. 3a; Urteil O. vom 26. August 2003, U 753/02, Erw. 4, mit Hinweisen). 
3. 
Es steht fest, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf die am 9. August 2004 begonnene Umschulung und auf Taggelder für die Wartezeit hat, während ihm keine Rente zusteht. Streitig und zu prüfen ist der Beginn des Anspruchs auf die Wartezeittaggelder. 
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, beim Beschwerdeführer habe gemäss medizinischer Aktenlage eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50% vorgelegen. Ferner dürfe grundsätzlich von einer subjektiven und objektiven Eingliederungsfähigkeit ausgegangen werden. Die IV-Stelle habe jedoch auf Grund der Berichte des Dr. med. A.________ Zweifel an der Eingliederungsfähigkeit des Versicherten gehabt und deshalb am 14. November 2003 eine weitere medizinische Abklärung angeordnet, welche sich nicht auf die Frage nach einer geeigneten Umschulungsmöglichkeit beschränkt habe. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers sei die Stellungnahme des RAD vom 31. Oktober 2003 nicht als Feststellung der Verwaltung zu verstehen, sie halte den Versicherten für eingliederungsfähig und Eingliederungsmassnahmen für angezeigt. Eine umfassende psychiatrische Beurteilung sei bis zu diesem Zeitpunkt nicht durchgeführt worden, und die entsprechenden Aussagen des Dr. med. A.________ vermöchten eine spezialärztliche Einschätzung nicht zu ersetzen. 
3.2 Aus dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 IVV (Erw. 2 hievor) wird deutlich, dass der Anspruchsbeginn vier Monate nach der Anmeldung für den Fall vorgesehen ist, dass die IV-Stelle mehr als vier Monate benötigt, um zu entscheiden, ob berufliche Eingliederungsmassnahmen angezeigt sind. Vorausgesetzt ist demzufolge, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt festgehalten hat, nicht, dass die Durchführung konkreter Eingliederungsmassnahmen bereits feststeht. Vielmehr genügt es - eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50% sowie objektive und subjektive Eingliederungsfähigkeit vorausgesetzt -, wenn derartige Massnahmen ernsthaft in Frage kommen (BGE 117 V 277 Erw. 2a; AHI 1997 S. 172 Erw. 3a; Urteil O. vom 26. August 2003, I 753/02). Vorgängige Abklärungen, welche zur Festlegung einer passenden Eingliederung notwendig sind, stehen der Ausrichtung eines Wartezeittaggeldes nicht entgegen (Urteil O. vom 26. August 2003, I 753/02, Erw. 4 und 5.2). 
3.3 Was die objektive Eingliederungsfähigkeit anbelangt, hält Dr. med. A.________ in seinem Schreiben vom 17. Oktober 2002 fest, eine Umschulung sei angezeigt. Im Formularbericht vom 12./20. September 2003 erklärt er, in einer leichten, körperlich angepassten Tätigkeit mit sozialer Komponente sei der Versicherte zu 100% arbeitsfähig. Dringend angezeigt sei eine Berufsberatung. Der RAD hält in seiner Stellungnahme vom 31. Oktober 2003 ausdrücklich fest, eine Invalidität sei ausgewiesen und der Versicherte habe Anspruch auf eine Umschulung. Eine psychiatrische Begutachtung wurde auf Grund der belasteten, komplexen Vorgeschichte als sinnvoll und notwendig erachtet, dies jedoch nicht wegen bestehender Unklarheiten über die grundsätzliche (medizinische) Eingliederungsfähigkeit, sondern "insbesondere deshalb, um die Weichen für die Wahl des neuen Berufes richtig stellen zu können". Auf Grund dieser Aussagen ist unzweifelhaft, dass die objektive Eingliederungsfähigkeit als gegeben angesehen wurde und die Begutachtung lediglich die Wahl einer ungeeigneten neuen Tätigkeit verhindern bzw. die Festlegung der passenden Eingliederung ermöglichen sollte. Eingliederungsmassnahmen kamen demnach zu diesem Zeitpunkt bereits ernsthaft in Frage. An der subjektiven Eingliederungsfähigkeit ist, wie die Vorinstanz mit Recht festhält, nicht zu zweifeln. 
 
Was die weiteren Argumente von Verwaltung und Vorinstanz anbelangt, ist zunächst festzuhalten, dass sich der vorliegende Fall deutlich von demjenigen unterscheidet, welcher dem Urteil K. vom 8. Juli 2005, I 177/05, zu Grunde lag. Beim dortigen Versicherten konnte selbst im Zeitpunkt der Fällung des Einspracheentscheids die objektive Eingliederungsfähigkeit noch nicht zuverlässig beurteilt werden, da sich der Heilungsverlauf verzögerte und eine Operation geplant war. Demgegenüber wurde hier weder seitens der Verwaltung noch der involvierten Ärzte in Frage gestellt, dass eine Eingliederung objektiv grundsätzlich möglich sei. Unabhängig davon, ob die Begutachtung in der Psychiatrischen Klinik X.________ zur Bestimmung des konkreten Umschulungsziels erforderlich war, stand bereits am 31. Oktober 2003, als der RAD einen Umschulungsanspruch bejahte, fest, dass Eingliederungsmassnahmen ernsthaft in Frage kamen. Dies genügt zur Begründung des Wartetaggeldanspruchs (vgl. Urteil O. vom 26. August 2003, I 753/02, Erw. 5.1 und 5.2). Dessen Beginn ist somit, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, auf den 7. November 2003, vier Monate nach der Anmeldung vom 7. Juli 2003, anzusetzen. 
4. 
Das Verfahren hat Versicherungsleistungen zum Gegenstand und ist deshalb kostenlos (Art. 134 OG in der bis 30. Juni 2006 gültig gewesenen Fassung; Erw. 1 hiervor). Der obsiegende Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle (Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Dezember 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 29. März 2005 aufgehoben. Dem Beschwerdeführer werden zusätzliche Wartetaggelder für die Zeit vom 7. November 2003 bis 24. Juni 2004 zugesprochen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 13. September 2006 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: