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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 309/02 
 
Urteil vom 13. November 2002 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiberin Schüpfer 
 
Parteien 
A.________ und B.________, Beschwerdeführer, vertreten durch den Procap Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin, 
 
betreffend P.________, geboren am 15. April 1998, gestorben am 8. September 1999 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn 
 
(Entscheid vom 19. März 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
P.________ litt nach ihrer Geburt am 15. April 1998 u.a. an angeborenen Herz- und Gefässmissbildungen, schweren respiratorischen Adaptionsstörungen sowie leichten cerebralen Bewegungsstörungen (Geburtsgebrechen Ziff. 313, 395, 494 und 497 GgV-Anhang). Sie wurde am 30. April 1998 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet. Mit Verfügung vom 29. Juni 1998 sprach die IV-Stelle des Kantons Solothurn medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 313 ab 15. April 1998 bis 31. Dezember 2003 zu. Am 6. April 1999 ersuchte das Spital X.________ namens der Eltern von P.________ mit der Begründung um Hauspflege/Haushilfe, das Mädchen habe nur dank Einsatz der Kinderspitex (Stiftung Y.________) aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen werden können. Die IV-Stelle liess einen Abklärungsbericht Hauspflege erstellen, welcher am 7. Juli 1999 erstattet wurde und einen sehr hohen täglichen Betreuungsaufwand von neun Stunden und 15 Minuten ergab. In der Folge bewilligte sie mit Verfügung vom 9. Juli 1999 medizinische Massnahmen in Form von Rückvergütung der Kosten für die Hauspflege je nach Aufwand und Aufenthaltsdauer zu Hause bis maximal Fr. 2'010.- pro Monat vom 1. April 1999 bis 30. April 2002. Diese Verfügung ergänzte die Kostengutsprache für medizinische Massnahmen vom 29. Juni 1998. Am 8. September 1999 verstarb P.________. 
 
Die Stiftung Y.________ Schweiz stellte am 2. Oktober 2000 ein Gesuch um Vergütung der von ihr für die Versicherte geleisteten medizinischen Pflege, welche durch eine diplomierte Krankenschwester habe ausgeführt werden müssen. Dieses wurde von der IV-Stelle mit Verfügung vom 9. November 2000 abgewiesen, da das Gesuch verspätet eingereicht worden sei und Leistungen somit nur für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate rückwirkend ausgerichtet werden könnten. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn ab (Entscheid vom 19. März 2002). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen die Eltern von P.________ die Anträge stellen, es seien der angefochtene Entscheid sowie die Verfügung vom 9. November 2000 aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, die Kosten für die zu Gunsten von P.________ sel. von der Stiftung Y.________ während der Zeit von April bis September 1999 erbrachten Pflegeleistungen zu ersetzen. 
 
Die IV-Stelle schliesst unter Hinweis auf den vorinstanzlichen Entscheid auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitig ist die Frage, ob das Gesuch um Vergütung der im Zeitraum von April bis September 1999 geleisteten medizinischen Massnahmen in Form von Hauspflege vom 2. Oktober 2000 rechtzeitig gestellt wurde, oder ob der Anspruch damals bereits verwirkt war. Unbestritten ist, dass die Versicherte grundsätzlich Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung ihrer Geburtsgebrechen hatte. 
2. 
2.1 Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Diese Massnahmen umfassen unter anderem die Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird (Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG). Beim Entscheid über die Gewährung von ärztlicher Behandlung in Anstalts- oder Hauspflege ist auf den Vorschlag des behandelnden Arztes und die persönlichen Verhältnisse des Versicherten in billiger Weise Rücksicht zu nehmen. Zusätzliche Kosten, die aus der Hauspflege entstehen, können ganz oder teilweise von der Versicherung übernommen werden (Art. 14 Abs. 3 IVG). 
2.2 Die gestützt auf Art. 14 Abs. 3 Satz 2 IVG von der Invalidenversicherung zu erbringenden Leistungen bei Hauspflege hat der Bundesrat auf dem Verordnungsweg näher geregelt. Nach Art. 4 Abs. 1 IVV hat die Invalidenversicherung die Kosten für zusätzlich benötigte Hilfskräfte bis zu einer im Einzelfall festzusetzenden Höchstgrenze zu übernehmen, wenn der invaliditätsbedingt zu leistende Betreuungsaufwand in Hauspflege voraussichtlich während mehr als drei Monaten das zumutbare Mass überschreitet. 
2.3 Werden medizinische Massnahmen ambulant durchgeführt, so vergütet die Invalidenversicherung neben den Kosten für Behandlung und Arznei ortsübliche Aufwendungen für Pflegepersonal, soweit dieses infolge Durchführung medizinischer Massnahmen der Invalidenversicherung zur Sicherstellung der Hauspflege notwenig ist. Für die Krankenpflege (Grundpflege) allgemein und die nicht von anerkanntem Pflegepersonal durchgeführte medizinische Behandlungspflege gelten die besonderen Richtlinien zu Art. 4 IVV (Rz 1233 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen [KSME], Stand 1. Juli 2002). 
 
3. 
3.1 Die IV-Stelle führt in der kantonalen Vernehmlassung vom 10. Januar 2001 aus, das Spital X.________ habe am 14. April 1999 (recte 6. April 1999) die Übernahme von Hauspflegebeiträgen beantragt, was mit Verfügung vom 9. Juli 1999 gutgeheissen worden sei. Für die Spitex-Pflege zu Hause sei ein eigenes Gesuch zu stellen. Eine entsprechende Kostengutsprache wäre "unter dem Titel des Geburtsgebrechens" erteilt worden und hätte daher in keinem Zusammenhang mit der Zusprache für Hauspflegebeiträge gestanden. Da das Gesuch erst ein Jahr nach Versterben der versicherten Person gestellt worden sei, sei der Anspruch verwirkt. 
 
Das kantonale Gericht hat erwogen, das Gesuch um Vergütung der Pflegeleistungen für die Versicherte vom 2. Oktober 2000 sei zu Recht abgelehnt worden, weil für die letzten zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate keine Leistungen mehr erbracht worden seien. Hingegen sei mit Schreiben des Spitals X.________ vom 6. April 1999 sinngemäss auch ein Gesuch um Übernahme der Kosten für den Einsatz der Kinderspitex gestellt worden. Beschwerdegegenstand sei jedoch einzig die Verfügung vom 9. November 2000, weshalb im vorliegenden Verfahren auf diese Problematik nicht näher eingegangen werden könne. 
3.2 Die Beschwerdeführer argumentieren demgegenüber, die von der Stiftung Y.________ erbrachten Spitexleistungen hätten als Leistungen zu gelten, welche im Rahmen der mit Verfügung vom 9. Juli 1999 bereits bewilligten Hauspflegebeiträge erfolgten. Das Schreiben der Stiftung Y.________ vom 2. Oktober 2000 stelle lediglich ein Gesuch um Kostengutsprache für die schon zugestandenen Leistungen dar; über den eigentlichen Anspruch habe nicht (nochmals) verfügt werden dürfen. Da es sich nicht um die Anmeldung eines eigenständigen Anspruchs gehandelt habe, komme Art. 48 Abs. 2 IVG nicht zur Anwendung. 
4. 
4.1 Gemäss Art. 46 IVG hat sich bei der zuständigen IV-Stelle anzumelden, wer auf Leistungen der Versicherung Anspruch erhebt. Nach der Rechtsprechung zu Art. 46 IVG wahrt die versicherte Person mit der Anmeldung grundsätzlich alle nach den Umständen vernünftigerweise in Betracht fallenden Leistungsansprüche. Die Abklärungspflicht der IV-Stelle erstreckt sich auf die nach dem Sachverhalt und der Aktenlage im Bereich des Möglichen liegenden Leistungen. Sie betrifft jedoch nicht alle Leistungsansprüche, sondern nur die vernünftigerweise mit dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten in Zusammenhang stehenden Leistungen (BGE 111 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 281). 
4.2 Art. 46 Abs. 1 AHVG bestimmt, dass der Anspruch auf Nachzahlung mit dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen eine Leistung geschuldet ist, erlischt. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat festgestellt, dass sich Art. 46 Abs. 1 AHVG nur auf die Geltendmachung eines Anspruchs, nicht aber auf die Verwirkung einer rechtzeitig geltend gemachten und mittels Verfügung zugesprochenen, aber noch nicht ausgerichteten Leistung bezieht; nachdem Art. 46 Abs. 1 AHVG somit die Vollstreckungsverwirkung nicht erfasst, gelangt in Anlehnung an die für die Rückforderung von geleisteten AHV-Beiträgen Nichtversicherter geltende Regelung die allgemeine zehnjährige Verwirkungsfrist zur Anwendung (BGE 127 V 211 Erw. 2a). 
 
Art. 48 Abs. 1 IVG, welcher den Anspruch auf Nachzahlung im Bereich der Invalidenversicherung normiert und mit Art. 46 Abs. 1 AHVG inhaltlich übereinstimmt, bezieht sich demnach ebenfalls nur auf die Frage der rückwirkenden Leistungszusprechung bei verspäteter Anmeldung, nicht jedoch auf rechtzeitig geltend gemachte und rechtskräftig festgesetzte Leistungen. Nachdem das IVG keine expliziten Bestimmungen über die Vollstreckungsverwirkung kennt und in diesbezüglichen Fragen allgemein eine einheitliche Regelung mit dem AHVG angestrebt wird, findet im Bereich der Invalidenversicherung für die Vollstreckungsverwirkung ebenfalls die allgemeine zehnjährige Frist Anwendung (SVR 2002 IV Nr. 15 Seite 47 Erw. 2). 
4.3 Wenn die Verwaltung fehlerhaft einem bereits früher hinreichend substantiierten Leistungsbegehren nicht entsprochen hat, unterliegt die Nachzahlung von Leistungen einer absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren, welche rückwärts ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung berechnet wird (BGE 121 V 195). 
5. 
Im Gesuch vom 6. April 1999, welches der Sozialdienst des Spitals X.________ im Namen der Beschwerdeführer an die IV-Stelle richtete, wird einerseits der notwendige Einsatz der Kinderspitex (Stiftung Y.________) und anderseits der erhebliche Mehraufwand in der Betreuung und Pflege der Versicherten, welche eine Entlastung im Sinne von Hauspflege/Haushilfe notwendig mache, erwähnt. Mit der Verfügung vom 9. Juli 1999 hat die IV-Stelle nur Letzteres beantwortet und eine Rückvergütung der Kosten für die Hauspflege bis maximal Fr. 2'010.- pro Monat zugesprochen. 
5.1 Das nunmehr strittige Gesuch der Stiftung Y.________ vom 2. Oktober 2000 bezieht sich auf "medizinische Pflege nach Art. 14 IVG". Es lässt sich daraus nicht entnehmen, ob es um eine Rückvergütung für Hauspflege im Sinne von Art. 14 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 4 IVV geht, oder ob ambulante medizinische Massnahmen in Anwendung von Art. 14 Abs. 1 IVG gemeint sind. Die IV-Stelle hat das Leistungsbegehren ohne weitere Abklärung wegen angeblicher Verwirkung des Anspruchs abgelehnt. Dem kann nicht gefolgt werden. Bei der beantragten "Übernahme der Kosten für die geleisteten Pflegestunden" handelt es sich nicht um eine Neuanmeldung für Leistungen, die noch nicht beantragt worden waren. Falls die von der Stiftung Y.________ erbrachten Pflegeleistungen Leistungen gemäss Art. 4 IVV darstellen, welche mit Verfügung vom 9. Juli 1999 bereits grundsätzlich bewilligt worden waren, unterliegen sie auf Grund der in Erwägung 4.2 gemachten Ausführungen einer Verjährungsfrist von zehn Jahren. Da eine solche Zeitspanne nicht zur Diskussion steht, hätte die IV-Stelle die anbegehrte Kostenvergütung zu erbringen. 
5.2 Hat das von der Stiftung Y.________ entlöhnte Fachpersonal hingegen medizinische Massnahmen (Behandlungen) im Sinne von Art. 14 Abs. 1 IVG durchgeführt - wovon sowohl die IV-Stelle als auch die Vorinstanz offenbar ausgehen - ist anzumerken, dass um solche (Spitex-)Leistungen bereits am 6. April 1999 ersucht worden ist. Die IV-Stelle hat es bisher indessen versäumt, über diesen Anspruch materiell zu entscheiden. Damit steht fest, dass es beim Gesuch vom 2. Oktober 2000 nicht um die Neuanmeldung eines Anspruchs geht, und dass damit Art. 48 Abs. 2 IVG nicht zur Anwendung gelangt. Vielmehr käme gemäss der vorstehenden Erwägung 4.3 eine fünfjährige Verwirkungsfrist zum Tragen, welche aber am 2. Oktober 2000 noch nicht abgelaufen war. 
 
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Sache in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verfügung vom 9. November 2000 zur Abklärung über die Natur der von der Stiftung Y.________ der Versicherten gegenüber erbrachten Leistungen an die IV-Stelle zurückzuweisen ist, welche - je nach deren Ergebnis - entweder die Rechnung der Stiftung auf Grund der Verfügung vom 9. Juli 1999 zu begleichen hat, oder über das Gesuch der Beschwerdeführer vom 6. April 1999 auch in Bezug auf die anbegehrten Spitex-Leistungen zu verfügen haben wird. 
6. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des Prozesses entsprechend steht den durch Procap, Schweizerischer Invalidenverband, vertretenen obsiegenden Beschwerdeführern eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE 122 V 278). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 19. März 2002 und die Verfügung der IV-Stelle vom 9. November 2000 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Vergütung der von der Stiftung Y.________ von April bis September 1999 zu Gunsten von P.________ erbrachten Leistungen neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 13. November 2002 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: