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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_231/2012 
 
Urteil vom 14. Mai 2012 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Merkli, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Nicolas Roulet, 
 
gegen 
 
Jugendanwaltschaft des Kantons Solothurn, 
Amthaus 2, 4502 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Vorsorgliche Schutzmassnahmen, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 15. März 2012 
des Obergerichts des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Jugendanwaltschaft des Kantons Solothurn eröffnete am 4. Mai 2011 gegen X.________ ein Strafverfahren wegen Entwendung eines Fahrzeugs zum Gebrauch, Führen eines Personenwagens ohne Führerausweis und Führen eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand. Am 8. Juli 2011 wurde das Verfahren um den Tatbestand des geringfügigen Diebstahls ausgedehnt. 
Die Jugendanwaltschaft ordnete am 22. Juni 2011 an, X.________ werde in der Pestalozzi-Jugendstätte Burghof in Dielsdorf platziert. Der Aufenthalt diene der genauen Abklärung der persönlichen Situation, der Erstellung eines Gutachtens und der Erarbeitung eines geeigneten Anschlussprogramms. 
Aufgrund der Ergebnisse einer Standortbestimmung, welche am 11. Januar 2012 in der Beobachtungsstation der Pestalozzi-Jugendstätte Burghof erfolgte, verfügte die Jugendanwaltschaft am 10. Februar 2012, X.________ werde vorsorglich dort untergebracht. Eine gegen diese Verfügung von X.________ erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 15. März 2012 ab. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 18. April 2012 beantragt X.________, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er selbst sei unverzüglich aus der vorsorglich angeordneten stationären Schutzmassnahme zu entlassen. 
Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Jugendanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Am 1. Januar 2011 sind die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) und die Schweizerische Jugendstrafprozessordnung (JStPO; SR 312.1) in Kraft getreten. Steht gegen jugendstrafprozessuale Entscheide kein Rechtsmittel nach bisherigem Recht zur Verfügung, so richtet sich deren Anfechtung nach den Bestimmungen des neuen Rechts (Art. 51 Abs. 2 JStPO; vgl. auch Art. 454 Abs. 1 StPO). Der streitige erstinstanzliche Entscheid der Jugendanwaltschaft datiert vom 10. Februar 2012, der angefochtene Rechtsmittelentscheid vom 15. März 2012. Somit ist neues Recht (JStPO/StPO) anwendbar. 
 
1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung (vgl. Art. 80 BGG). Beim Beschluss des Obergerichts handelt es sich um einen Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Der Antrag auf Entlassung aus der vorsorglichen stationären Unterbringung ist deshalb zulässig. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid stelle eine unverhältnismässige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) dar und verletze Art. 15 JStG (SR 311.1). Schwerwiegende erzieherische Defizite bestünden nicht. Dies ergebe sich unter anderem aus der Standortbestimmung, welche am 11. Januar 2012 in der Pestalozzi-Jugendstätte Burghof erfolgt sei. Es sei dabei festgestellt worden, dass er im Arbeitsbereich die ihm erteilten Aufträge korrekt ausführe und sein Verhalten angenehm sei. Auch in der internen Schule sei er durch angenehmes Verhalten und gute Sozialkompetenzen aufgefallen. Für den sozialen Bereich sei zwar festgehalten worden, er übernehme für persönliche Belange sehr wenig Eigenverantwortung und lege eine hohe Erwartungshaltung an den Tag. Dabei handle es sich jedoch nicht um ein erzieherisches Problem. Zudem werde ihm attestiert, dass er sein Zimmer persönlich und wohnlich eingerichtet habe, eine gute Ordnung halte und stets sauber gekleidet sei und auf seine Körperhygiene achte. Problematisch erscheine vor allem sein Umgang mit Geld. Auch dabei handle es sich aber nicht um ein schwerwiegendes erzieherisches Defizit. Eine allfällige Überforderung der Eltern sei zudem nicht aktenkundig. Die begangenen Strolchenfahrten könnten als altersadäquate Verfehlungen bezeichnet werden und in Bezug auf Fahren in angetrunkenem Zustand würden weite Kreise der Bevölkerung ein schlechtes Beispiel abgeben. Dass er ein mangelndes Schuldbewusstsein besitze, könne unter diesen Voraussetzungen nicht auf erzieherische Defizite zurückgeführt werden. Die Vorinstanz werfe ihm weiter vor, dass die Bewährungshilfe nicht gut verlaufen sei. Diesbezüglich stelle sich aber die Frage, wer dafür verantwortlich sei. Er selbst verfüge nämlich durchaus über Ressourcen und habe gezeigt, dass er bereit sei, Eigenverantwortung zu übernehmen, wenn ihm hierfür der notwendige Raum gegeben werde. Immerhin habe er eine Teilzeitarbeitsstelle bei McDonald's aufgenommen. 
Der Beschwerdeführer äussert die Befürchtung, ein Heimaufenthalt könnte seine Fähigkeit zur Eigeninitiative gefährden. Auch in weiterer Hinsicht stellt er die Eignung der vorsorglich angeordneten Schutzmassnahme in Frage. Diese sei offensichtlich auf Jugendliche ausgerichtet, er selbst sei aber mittlerweile 18 1/2 Jahre alt. Die Massnahme stehe zudem in keinem Verhältnis zu den Anlasstaten. 
Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass weniger weit gehende Massnahmen zur Verfügung stünden. Er weist auf die Möglichkeit hin, die Bewährungshilfe zu verlängern oder eine persönliche Betreuung nach Art. 13 JStG oder eine ambulante Behandlung nach Art. 14 JStG anzuordnen. 
Als unverhältnismässig erweise sich die vorsorgliche Anordnung einer Schutzmassnahme auch in zeitlicher Hinsicht. Die Vorinstanz führe diesbezüglich lediglich aus, dass eine Phase mit fehlender stationärer Betreuung unbedingt zu vermeiden sei. Diese Begründung sei beliebig. Die eigentliche Massnahme, das heisse die Berufsausbildung, könne nicht vor dem August 2012 beginnen. In diesem Zeitpunkt würde er aber bereits während 14 Monaten auf der Beobachtungsstation bzw. in einer stationären Einrichtung sein. 
 
2.2 Während der jugendstrafprozessualen Untersuchung kann die zuständige Behörde gemäss Art. 5 JStG vorsorglich die jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen nach Art. 12-15 JStG anordnen. Art. 12 JStG regelt die Aufsicht, Art. 13 JStG die persönliche Betreuung, Art. 14 JStG die ambulante Behandlung und Art. 15 JStG die Unterbringung. Nach Art. 15 Abs. 1 JStG ordnet die urteilende Behörde die Unterbringung des Jugendlichen an, wenn dessen notwendige Erziehung und Behandlung nicht anders sichergestellt werden kann. Die Unterbringung erfolgt namentlich bei Privatpersonen oder in Erziehungs- oder Behandlungseinrichtungen, die in der Lage sind, die erforderliche erzieherische oder therapeutische Hilfe zu leisten. 
Sämtliche vorsorglichen Schutzmassnahmen im Sinne von Art. 12 ff. i.V.m. Art. 5 JStG müssen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit gemäss Art. 36 Abs. 3 BV wahren, das heisst, die Massnahme muss zur Zielerreichung geeignet und erforderlich sein, und es muss eine vernünftige Relation zwischen dem Eingriff und dem angestrebten Ziel bestehen (Urteil 1B_437/2011 vom 14. September 2011 E. 4.2 mit Hinweisen, in: Plädoyer 2012/1 S. 66). 
 
2.3 Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer seit 2004 mehrfach straffällig geworden ist. Am 9. September 2010 ist er mit Strafverfügung unter anderem wegen Entwendung eines Autos zum Gebrauch und Fahren ohne Führerausweis zu einem bedingten Freiheitsentzug von 10 Tagen verurteilt worden. Die Probezeit wurde auf ein Jahr festgelegt und während deren Dauer eine Bewährungshilfe durch den Sozialdienst der Jugendanwaltschaft angeordnet. Die Bewährungshilfe erwies sich, abgesehen vom Erlangen einer Anstellung bei McDonald's, offenbar als schwierig. Der angefochtene Entscheid nennt in dieser Hinsicht verpasste Termine, falsche Angaben über ausgeführte Aufgaben, Abbrüche von Engagements und die fehlende Fähigkeit der Eltern, auf den Beschwerdeführer einzuwirken. Dem Beschwerdeführer wird zudem vorgeworfen, noch während der Probezeit und der damit verbundenen Bewährungshilfe ein Auto entwendet und damit in angetrunkenem Zustand herumgefahren zu sein. Dem Bericht zur Alkoholbestimmung des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern vom 15. März 2011 lässt sich eine rückgerechnete Blutalkoholkonzentration von zwischen 1.54 und 1.97 Gewichtspromille entnehmen. Dieses Verhalten bildet Gegenstand des Strafverfahrens, in dessen Rahmen die vorliegend umstrittene vorsorgliche Schutzmassnahme angeordnet wurde. Der Beschwerdeführer selbst bestreitet den Vorwurf nicht, ist aber insbesondere der Ansicht, dass mildere Massnahmen ausreichen würden. 
Aufgrund der Erfahrungen im Rahmen der Bewährungshilfe ist nicht davon auszugehen, dass die vorsorgliche Anordnung von weniger weit gehenden Schutzmassnahmen ebenso geeignet wäre wie eine stationäre Unterbringung. Da es offensichtlich nicht möglich war, mit der Bewährungshilfe die erforderliche Unterstützung zu bieten und entsprechende Fortschritte zu erzielen, kommen eine Aufsicht gemäss Art. 12 JStG oder eine persönliche Betreuung gemäss Art. 13 JStG nicht in Frage. Für eine ambulante Behandlung nach Art. 14 JStG sind zudem die Voraussetzungen nicht erfüllt. Diese Massnahme fällt in Betracht, wenn der Jugendliche unter psychischen Störungen leidet, in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt oder von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig ist. 
Die stationäre Unterbringung in einer offenen Einrichtung erweist sich dagegen als geeignet und notwendig. Den Ergebnissen der Standortbestimmung vom 11. Januar 2012 in der Beobachtungsstation der Pestalozzi-Jugendstätte Burghof ist zu entnehmen, die psychiatrische Abklärung habe ergeben, dass ohne eine solche Massnahme ein erhöhtes Rückfallrisiko bestehe. Im Schlussbericht vom 10. Februar 2012 wird ausgeführt, dass unter anderem die fehlende Unterstützung durch die Eltern ein heiminternes Wohnen nahelege. Die Einsicht des Beschwerdeführers in sein deliktisches Verhalten wird als sehr tief beschrieben und es werden Defizite in der Eigenwahrnehmung und der Eigenverantwortung festgestellt. 
Der Beschwerdeführer argumentiert, dass die mangelnde Eigenverantwortung nicht zwingend auf schwerwiegende erzieherische Defizite zurückzuführen und eine allfällige Überforderung der Eltern nicht aktenkundig sei. Diese Behauptung ist zu relativieren. Der angefochtene Entscheid geht zwar nicht direkt auf die erzieherischen Möglichkeiten der Eltern des Beschwerdeführers ein, doch hat sich insbesondere während der erwähnten Bewährungsfrist klar ein Unvermögen gezeigt, auf ihn einzuwirken. Da der Beschwerdeführer zudem mittlerweile volljährig geworden ist, ist zusammen mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass die Einflussmöglichkeiten der Eltern damit wohl noch geringer geworden sein dürften. Im strafbaren Verhalten des Beschwerdeführers und in seiner mangelnden Einsicht sind zudem durchaus auch erzieherische Defizite zu sehen. In der Standortbestimmung vom 11. Januar 2012 wird zudem darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer für seine finanzielle Situation wenig Verantwortung übernehme und sich von seinen Schulden wenig betroffen fühle. 
Den beschriebenen erzieherischen Defiziten kann im Rahmen einer stationären Unterbringung in einer offenen Einrichtung zweckmässig begegnet werden. Wenn der Beschwerdeführer darauf hinweist, dass er ohnehin erst im August 2012 mit einer Berufsausbildung beginnen könne, so übersieht er, dass die Massnahme der Unterbringung nicht ausschliesslich diesen Zweck hat, sondern umfassend pädagogisch ausgerichtet ist. Aus den Akten ergibt sich zudem, dass er bis dato bereits in verschiedenen Arbeitsbereichen der Jugendstätte tätig war, nämlich der Malerei, dem Siebdruck und in einer Garage. Die dabei gemachten Erfahrungen haben im Schlussbericht vom 10. Februar 2012 zur Empfehlung von Seiten der Pestalozzi-Jugendstätte geführt, ein eidgenössisches Berufsattest zu machen. Der Beschwerdeführer könne weiter bei den Malern in der Jugendstätte arbeiten und erhalte die Möglichkeit, intern eine Attestlehre zu beginnen. Nachdem der Beschwerdeführer nach Beendigung der obligatorischen Schulzeit keine Ausbildungsstelle gefunden hat und von einem Programm für arbeitslose Jugendliche wegen seines deliktischen Verhaltens wieder ausgeschlossen wurde, eröffnen ihm diese Möglichkeiten, die in der Jugendstätte geboten werden, eine positive Perspektive. 
Die weiteren vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente ändern an dieser Einschätzung nichts. So ist nicht ersichtlich, weshalb der Heimaufenthalt seine Fähigkeit zur Eigeninitiative gefährden könnte. Auch dass die Massnahme für eine 18 1/2 Jahre alte Person ungeeignet sein sollte, ist nicht ersichtlich. Aus Art. 19 Abs. 2 JStG geht hervor, dass die vom Gesetz vorgesehenen Massnahmen bis zur Vollendung des 22. Altersjahrs dauern können. Wenn der Beschwerdeführer schliesslich fordert, die Massnahme müsse eine Beziehung zur Anlasstat haben, so übersieht er, dass sich die Massnahme nicht einfach nach der Anlasstat richtet, sondern einem Bedürfnis nach einer besonderen erzieherischen Betreuung begegnen soll (Art. 10 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 JStG). 
 
2.4 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die vorsorgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in einer offenen Einrichtung Art. 15 JStG nicht verletzt und auch keinen unverhältnismässigen Eingriff in dessen persönliche Freiheit darstellt. Die Rüge ist unbegründet. 
 
3. 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
2.2 Rechtsanwalt Dr. Nicolas Roulet wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Jugendanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 14. Mai 2012 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold