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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_26/2010 
 
Urteil vom 16. Februar 2010 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Fonjallaz, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Steinmann. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch 
Advokat Niggi Dressler, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Bahnhofplatz 3a, 4410 Liestal. 
 
Gegenstand 
Haft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 5. Januar 2010 des Strafgerichts des Kantons Basel-Landschaft, Präsident. 
Sachverhalt: 
 
A. 
X.________ wird gemäss der Anklageschrift vom 15. Dezember 2009 vorgeworfen, im Wesentlichen in der Zeit zwischen Mai und Juni 2009 verschiedene Delikte, namentlich Körperverletzung, Diebstahl, Raub, Erpressung, Drohung und Hausfriedensbruch, teils gegenüber seiner Mutter Y.________, begangen zu haben. 
Am 13. Juli 2009 wurde X.________ wegen Fortsetzungs- und Kollusionsgefahr vom Bezirksstatthalteramt Laufen in Haft versetzt. Die Haft wurde mehrmals verlängert, Entlassungsgesuche abgewiesen (Beschlüsse des Verfahrensgerichts in Strafsachen des Kantons Basel-Landschaft vom 30. Juli, 22. September, 14. Oktober und 26. November 2009 bzw. Verfügung des Präsidenten des Strafgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 17. Dezember 2009). Dabei wurden sowohl der hinreichende Tatverdacht als auch Fortsetzungsgefahr bejaht. 
Aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens wurde das von X.________ gestellte Gesuch um Verlegung in eine Massnahmevollzugsanstalt am 24. September 2009 bewilligt, unter der Voraussetzung einer geschlossenen Platzierung und unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Präsidiums des zuständigen Gerichts. Eine derartige Verlegung unterblieb mangels freier Plätze in geeigneten Anstalten. Eine Versetzung in das Sophie-Blocher-Haus wurde verschiedentlich abgelehnt (Beschluss des Verfahrensgerichts vom 26. November 2009, Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 2. Dezember 2009). 
 
B. 
Am 12. Dezember 2009 ersuchte X.________ erneut um Haftentlassung, u.a. unter Hinweis auf den Rückzug der Strafanträge der Mutter des Beschuldigten. Der Präsident des Strafgerichts wies dieses Entlassungsgesuch am 5. Januar 2010 ab und bestätigte die Haftverlängerung bis zur Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung, maximal für sechs Monate. Überdies schloss er eine Verlegung ins Sophie-Blocher-Haus aus. 
 
C. 
Gegen diesen Entscheid des Strafgerichtspräsidenten hat X.________ am 5. Februar 2010 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt die umgehende Entlassung aus der Haft, eventualiter die Entlassung unter Auferlegung einer stationären Massnahme im Sophie-Blocher-Haus, subeventualiter die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung. Er zieht das Vorliegen des dringenden Tatverdachts und der Fortsetzungsgefahr in Frage, will mit einer konsequenten Medikation der allfälligen Fortsetzungsgefahr begegnen und erachtet die Aufrechterhaltung der Haft als unverhältnismässig. Schliesslich ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Der Strafgerichtspräsident und die Staatsanwaltschaft beantragen die Abweisung der Beschwerde. Es wird darauf hingewiesen, dass die Hauptverhandlung auf den 8./9. Juni 2010 angesetzt worden ist. 
Der Beschwerdeführer nimmt in seiner Replik zum strafrechtlichen Vorwurf des Raubes und der Erpressung Stellung und hält an seinen Anträgen fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass (vgl. BGE 133 I 270 E. 1.2 S. 272). Auf die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG kann grundsätzlich eingetreten werden. Vorbehalten ist die hinreichende Beschwerdebegründung im Sinne von Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG, welche im entsprechenden Sachzusammenhang zu prüfen ist. In diesem Sinne nicht einzutreten ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 32 Abs. 1 BV rügt; er tut in keiner Weise dar, inwiefern diese Verfassungsbestimmung verletzt sein sollte. 
 
2. 
Nach § 77 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft (StPO/BL) kann Haft angeordnet oder aufrechterhalten werden, soweit ein dringender Tatverdacht wegen eines Verbrechens oder Vergehens sowie Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr angenommen werden können. Die Haft ist gemäss § 78 StPO/BL aufzuheben, wenn sie unverhältnismässig ist; unverhältnismässig ist sie namentlich, wenn Ersatzmassnahmen möglich und ausreichend sind oder wenn die Haft die Dauer einer zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht. 
Die Auslegung und Anwendung von solchen Bestimmungen des massgeblichen kantonalen Strafprozessrechts prüft das Bundesgericht bei Beschwerden, die sich auf Art. 10 Abs. 2 oder Art. 31 BV berufen, in Anbetracht der Schwere des Grundrechtseingriffs mit freier Kognition. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nach Art. 97 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73). 
 
3. 
3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts. Er weist darauf hin, dass seine Mutter die entsprechenden Strafanträge zurückgezogen hat, und folgert, dass dementsprechend die Vorwürfe der einfachen Körperverletzung, der Drohung, der Beschimpfung und des Hausfriedensbruchs entfallen. 
Das Verfahrensgericht hat in seinen Entscheiden den Tatverdacht in Bezug auf die einzelnen Tatvorwürfe jeweilen detailliert begründet. An dieser Beurteilung hat der Rückzug der Strafanträge durch die Mutter nichts Grundsätzliches geändert. Wohl entfallen damit eine Reihe von Vorwürfen. Der Beschwerdeführer übersieht indes, dass die Vorwürfe des Raubes und der Erpressung gegenüber der Mutter Offizialdelikte sind und von deren Strafantragsrückzug nicht betroffen sind. Daran ändert entgegen der in der Replik vertretenen Auffassung nichts, dass die Strafanträge bezüglich Drohung und Körperverletzung zurückgezogen worden sind. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, weshalb der Vorwurf der Erpressung, wie er sich in der Anklageschrift findet, aus der Luft gegriffen sein soll. Überdies erstreckt sich der Tatverdacht auf zusätzliche Delikte gegenüber weitern Personen, auf welchen der Strafantragsrückzug der Mutter keinen Einfluss hat. Mit diesen Beschuldigungen setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. 
Damit erweist sich die Rüge des fehlenden Tatverdachts als unbegründet. 
 
3.2 Der Beschwerdeführer bestreitet ferner, dass Fortsetzungsgefahr bestehe. 
Nach der Praxis des Bundesgerichts kann die Anordnung von Haft wegen Fortsetzungsgefahr einerseits dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen. Andererseits ist auch das Interesse an der Verhütung weiterer Delikte verfassungsrechtlich anerkannt. Allerdings ist bei der Annahme von Fortsetzungsgefahr Zurückhaltung geboten. Sie kann nur als verhältnismässig betrachtet werden, wenn einerseits die reale Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind (BGE 135 I 71 E. 2.2 und 2.3 S. 73, mit Hinweisen). 
Das Verfahrensgericht hat in seinen Beschlüssen auch die Fortsetzungsgefahr im Einzelnen nachgezeichnet und unter Verweis auf das forensische Gutachten festgehalten, die Rückfallgefahr für vergleichbare Delikte, insbesondere für Aggressionsdelikte im Zusammenhang mit dem chronifizierten Wahnsystem, sei ohne entsprechende Behandlung deutlich erhöht. Auch der angefochtene Entscheid nimmt Bezug auf das Gutachten. In Anbetracht dieser gutachterlichen Äusserungen, die der Beschwerdeführer nicht in Frage stellt, darf die Fortsetzungsgefahr ohne Verfassungsverletzung bejaht werden. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer nicht vorbestraft sein soll und die Mutter ihre Strafanträge zurückgezogen hat. 
 
3.3 Der Beschwerdeführer macht unter dem Gesichtswinkel möglicher Ersatzmassnahmen allerdings geltend, der Fortsetzungsgefahr könne gemäss dem psychiatrischen Gutachten durch eine entsprechende ambulante Behandlung und eine konsequente Medikation begegnet werden. Eventualiter verlangt er eine Aufnahme und Behandlung im Sophie-Blocher-Haus. 
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers durfte der Strafgerichtspräsident eine ambulante Behandlung, die schon das Verfahrensgericht verworfen hatte, ohne Verfassungsverletzung ablehnen. Das psychiatrische Gutachten kam zum Schluss, dass eine stationäre therapeutische Massnahme von mindestens einem Jahr erforderlich sei und dass eine ambulante Behandlung nicht zuletzt aufgrund der Malcompliance des Beschwerdeführers unzweckmässig sei. Eine ambulante Behandlung erscheint auch im Lichte des Berichts von Dr. H.________, insbesondere wegen der darin festgehaltenen Unzuverlässigkeit des Beschwerdeführers, nicht als angezeigt. Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Grundlagen nicht näher auseinander. Bei dieser Sachlage kann der Fortsetzungsgefahr mit einer ambulanten Behandlung entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht auf wirksame Weise begegnet werden. Somit hält es vor der Verfassung stand, dass dem Beschwerdeführer die Haftentlassung unter Anordnung einer ambulanten Behandlung verweigert worden ist. 
Im angefochtenen Entscheid wird auch die Aufnahme ins Sophie-Blocher-Haus abgelehnt. Wie schon das Verfahrensgericht kommt der Strafgerichtspräsident zum Schluss, dass diese Institution keiner Therapieinstitution im Sinne von Art. 59 StGB entspricht. Das Verfahrensgericht hatte ausgeführt, das Sophie-Blocher-Haus sei eine niederschwellige Institution, biete Frauen und Männern Unterkunft und Verpflegung sowie Betreuung und Beratung auf freiwilliger Basis. Bei dieser Sachlage vermag das nicht geschlossene Sophie-Blocher-Haus eine konsequente psychiatrische Behandlung und Medikation im Sinne der gutachterlichen Folgerungen kaum zu garantieren. Daran ändert der Umstand nichts, dass Dr. H.________ sich zu einer Betreuung bereit erklärt hat. Der Verlauf früherer Behandlungen durch Dr. H.________ ist nicht geeignet, nunmehr eine konsequente Therapie zu garantieren. Damit erweist sich die Beschwerde auch in diesem Punkte als unbegründet. Daran ändert der Umstand nichts, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich ein vorzeitiger Massnahmenvollzug bewilligt worden ist und dieser ohne sein Zutun nur deshalb nicht umgesetzt werden konnte, weil kein geeigneter Platz gefunden wurde. 
 
4. 
Schliesslich erachtet der Beschwerdeführer die nunmehr ausgestandene bzw. bis im Juni 2010 andauernde Haft als unverhältnismässig. Er macht geltend, dass er kaum eine Freiheitsstrafe von einem Jahr erhalten werde und daher in Anbetracht der tatsächlich bzw. bis dahin ausgestandenen Haft akute Gefahr der Überhaft bestehe. Er beruft sich auf § 78 Abs. 2 lit. b StPO/BL, wonach die Haft als unverhältnismässig gilt, wenn sie die Dauer einer zu erwartenden Freiheitsstrafe erreicht. 
Demgegenüber hielt der Strafgerichtspräsident fest, dass bei der Frage der Verhältnismässigkeit der Haft im vorliegenden Fall nicht allein auf das zu erwartende Strafmass abzustellen sei, sondern auf die gesetzliche Dauer der empfohlenen Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB. Diese Auffassung steht im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. 
Im vorliegenden Fall steht nicht nur eine Strafe, sondern aufgrund des psychiatrischen Gutachtens auch eine stationäre therapeutische Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB im Raum. Solche Massnahmen werden nicht auf eine bestimmte Zeit und unabhängig von einer schuldabhängigen Strafe angeordnet. Bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der strafprozessualen Zwangsmassnahme kann daher nicht von einer bestimmten Dauer der zu erwartenden Sanktion ausgegangen werden. Dennoch muss sich die Haft als verhältnismässig erweisen. Der Haftrichter hat zu prüfen, ob aufgrund der Aktenlage mit einer Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Massnahme ernsthaft zu rechnen ist und wie sich die Dauer der Haft zu einer solchen Massnahme unter Beachtung der Therapieprognose verhält (BGE 126 I 172 E. 5 S. 176, mit Hinweisen). 
Im Lichte dieser Rechtsprechung kann die Aufrechterhaltung der Haft nicht als unverhältnismässig und nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden. Der Beschwerdeführer hat nicht nur eine Freiheitsstrafe, sondern auch eine stationäre therapeutische Massnahme zu gewärtigen. Deren Dauer wird im psychiatrischen Gutachten auf mindestens ein Jahr veranschlagt. Daraus ergibt sich, dass eine bis im Juni auf elf Monate anwachsende Haft im Vergleich zu den insgesamt zu erwartenden Sanktionen noch verhältnismässig ist. Es darf berücksichtigt werden, dass der vorzeitige Massnahmenvollzug, wie er bewilligt und bisher noch nicht umgesetzt worden ist, bis dahin tatsächlich greifen sollte. Der Aufrechterhaltung der Haft steht auch § 78 Abs. 2 lit. b StPO/BL nicht entgegen. Die Bestimmung ist im Sinne der genannten bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu verstehen und umfasst auf der einen Seite gleichermassen Untersuchungshaft, Sicherheitshaft oder vorzeitiger Massnahmenvollzug wie auf der andern Seite eine zu erwartende Freiheitsstrafe oder stationäre therapeutische Massnahme. 
Damit erweist sich die Beschwerde auch in dieser Hinsicht als unbegründet. 
 
5. 
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege kann in Anbetracht der konkreten Umstände stattgegeben werden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
 
2.2 Advokat Niggi Dressler wird als amtlicher Rechtsvertreter bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft, Präsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 16. Februar 2010 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: 
 
Aemisegger Steinmann