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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_57/2007 
 
Urteil vom 17. Juli 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger, 
Gerichtsschreiber Flückiger. 
 
Parteien 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
D.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt René Lenherr, Toggenburgerstrasse 31, 9532 Rickenbach. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 10. Januar 2007. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1953 geborene D.________ arbeitete seit 1985 als Dachdecker. Er war zunächst in der Einzelfirma X.________ und ab 2. Oktober 1995 bei der Firma Y.________ angestellt. Im Rahmen beider Arbeitsverhältnisse war er bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch unfallversichert. 
 
Am 30. Juni 2005 erstattete die Arbeitgeberin der SUVA eine Unfallmeldung. Die Anstalt zog unter anderem Berichte und Stellungnahmen des Dr. med. K.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 17. Mai, 10. Juni, 5. Dezember 2005 und 19. Januar 2006, des Radiologischen Instituts E.________ (RIWAG) vom 26. April 2005, des Dr. med. F.________, Handchirurgie FMH, vom 13. August und 29. November 2005, des SUVA-Kreisarztes Dr. med. J.________ vom 18. November 2005 sowie des Dr. med. V.________, Chirurgie FMH, SUVA-Abteilung Versicherungsmedizin, vom 27. Februar 2006 bei. Zudem wurden Auskünfte des Versicherten vom 11. Oktober und 4. November 2005 sowie der Arbeitgeberin vom 4. November 2005 eingeholt. Anschliessend lehnte es die SUVA mit Verfügung vom 13. März 2006 ab, im Zusammenhang mit den Beschwerden des Versicherten am rechten Handgelenk Leistungen zu erbringen. Zur Begründung wurde erklärt, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien weder als Berufskrankheit zu qualifizieren noch bildeten sie die Folge eines bei der SUVA versicherten Unfalls oder einer unfallähnlichen Körperschädigung. An diesem Standpunkt hielt die Anstalt mit Einspracheentscheid vom 7. Juli 2006 fest. 
B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hiess die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde gut. Es bejahte die Leistungspflicht der SUVA im Grundsatz und hielt fest, die Anstalt werde die Höhe der Leistungen noch festzusetzen haben (Entscheid vom 10. Januar 2007, versandt am 19. Februar 2007). Im Verlauf des Rechtsmittelverfahrens hatte der Versicherte einen Bericht des Spitals R.________ vom 31. August 2006 einreichen lassen. 
 
C. 
Die SUVA führt Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben. 
 
D.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Im gleichen Sinn äussert sich das kantonale Gericht. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Da sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der obligatorischen Unfallversicherung richtet, kann neben der Verletzung schweizerischen Rechts (Art. 95 BGG) auch jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts gerügt werden (Art. 97 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht ist nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 3 BGG). 
2. 
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Begriffe des Unfalls (Art. 4 ATSG in der vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung; die am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Änderung hat zu keiner hier relevanten Änderung geführt) und der unfallähnlichen Körperschädigung (Art. 6 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 UVV; vgl. auch BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467 mit Hinweis) sowie das im Sozialversicherungsrecht regelmässig erforderliche Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (siehe auch BGE 126 V 353 E. 5b S. 360, 125 V 193 E. 2 S. 195, je mit Hinweisen; vgl. BGE 130 III 321 E. 3.2 und 3.3 S. 324) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
2.2 Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195, 122 V 157 E. 1a S. 158, je mit Hinweisen; vgl. BGE 130 I 180 E. 3.2 S. 183). 
Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264 mit Hinweisen). 
3. 
3.1 Der Handchirurg Dr. med. F.________ hält in seinem Bericht vom 29. November 2005 fest, die Abklärung habe ein schwerst geschädigtes Handgelenk gezeigt. Es bestehe eine weit fortgeschrittene Arthrose und eine Fehlstellung des Mondbeins. Die wahrscheinlichste Ursache für diese Entwicklung sei eine länger zurückliegende Bandverletzung im Handwurzelbereich. Dr. med. O.________ schliesst sich in seiner Beurteilung vom 27. Februar 2006 dieser Einschätzung an. Er führt weiter aus, die Ruptur einer Bandstruktur am Handgelenk - vor allem die des sehr kräftigen scapholunären Bandes - könne man sich nur mit einem einmaligen Trauma erklären, das auch heftig genug sein müsse, um eine solche Ruptur herbeizuführen. Eine repetitive Beanspruchung des Handgelenks selbst in einer manuell belastenden beruflichen Tätigkeit wie der eines Dachdeckers sei nicht möglich. Dr. med. M.________, Leitende Ärztin Plastische und Rekonstr. Chirurgie am Spital R.________, gelangt in ihrem Bericht vom 31. August 2006 zu einer identischen Diagnose, welche sie näher erläutert. Zudem hält die Ärztin fest, um die geschilderte Bandverletzung zu verursachen, sei eine grosse Gewalteinwirkung auf das Handgelenk nötig, wie sie z.B. auftrete bei einem ungebremsten Sturz auf das nach hinten gebogene Handgelenk oder bei Dezelerationsmechanismen wie einem Motorradunfall oder einem Sturz aus der Höhe. 
3.2 Die SUVA macht grundsätzlich zu Recht geltend, der Nachweis eines die Merkmale des Unfalls (oder einer unfallähnlichen Körperschädigung; dazu BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467 mit Hinweis) erfüllenden Ereignisses lasse sich nur selten durch medizinische Feststellungen ersetzen. Richtig ist auch, dass sich der medizinische Begriff des Traumas nicht mit dem Unfallbegriff deckt und dass ein traumatisches Ereignis zwar eine pathologische Ursache ausschliesst, aber auch Vorgänge umfasst, welchen der Charakter der Ungewöhnlichkeit oder der Plötzlichkeit abgeht (Urteil U 236/98 vom 3. Januar 2000, E. 2d, mit Hinweisen). Die hier gegebene Schädigung kann jedoch, wie aus den übereinstimmenden medizinischen Unterlagen deutlich wird, praktisch nur aus einem Unfall oder allenfalls einer unfallähnlichen Körperschädigung (Bandläsion [Art. 9 Abs. 2 lit. g UVV] nach unfallähnlichem Vorfall) resultieren. Damit ist der Nachweis eines entsprechenden Ereignisses mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erbracht. 
4. 
4.1 Die Leistungspflicht der SUVA setzt des Weiteren voraus, dass sich der dem Gesundheitsschaden zu Grunde liegende Vorfall zu einem Zeitpunkt ereignet hat, als der Beschwerdegegner bei der Anstalt obligatorisch nach UVG versichert war, also im Jahr 1985 oder später. Das kantonale Gericht gelangte zum Ergebnis, auch dies sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt, denn die Latenzzeit sei durch Dr. med. M.________ auf 15 Jahre oder mehr und durch Dr. med. O.________ auf 15 bis 20 Jahre beziffert worden. 
4.2 Dr. med. O.________ erklärt in seinem Bericht vom 27. Februar 2006, die ursprüngliche Bandverletzung müsse vor "mindestens 15 bis 20 Jahren" stattgefunden haben, und es lasse sich nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit belegen, ob das ursprüngliche Handgelenkstrauma vor oder nach 1985 gesetzt worden sei. Dieselbe Aussage findet sich auch im Bericht von Dr. med. M.________ vom 31. August 2006, hält die Ärztin doch in der Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse ausdrücklich fest, der Unfall habe mit grosser Wahrscheinlichkeit "vor etwa 1990" stattgefunden. Es sei aber nicht möglich, den Zeitraum auf vor oder nach 1985 einzugrenzen (diese Frage war explizit gestellt worden). Aus medizinischer Sicht lässt sich somit nicht beurteilen, ob der für den Anspruch entscheidende Vorfall stattgefunden hat, als der Beschwerdegegner bei der SUVA versichert war. Weitere Abklärungen zu diesem Punkt versprechen keine zusätzlichen Erkenntnisse, so dass von Beweislosigkeit auszugehen ist. Da der Beschwerdegegner aus dem unbewiesen gebliebenen Umstand Rechte ableitet, hat der Entscheid zu seinen Ungunsten auszufallen (E. 2.2 hiervor). Die SUVA hat somit zu Recht einen Anspruch verneint. Dies führt zur Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids. 
 
5. 
Als unterliegende Partei hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die SUVA hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 10. Januar 2007 aufgehoben. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
3. 
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin zurückerstattet. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt. 
Luzern, 17. Juli 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: