Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_599/2011 
 
Urteil vom 17. November 2011 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach 2251, 8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Gewährung der bedingten Entlassung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 10. Oktober 2011 des Geschworenengerichts des Kantons Zürich, Präsident. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 30. April 2010 wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung im Sinn von Art. 122 Abs. 1 und Abs. 2 StGB sowie versuchter Drohung im Sinn von Art. 180 StGB erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren unter Anrechnung von 926 Tagen bereits erstandener Haft. Das Urteil ist mangels Begründung nicht in Rechtskraft erwachsen. X.________ hat eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil angemeldet. Am 12. Juli 2010 wurde X.________ der vorzeitige Strafantritt bewilligt. 
Am 12. Mai 2011 stellte X.________ ein Gesuch um bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug. Am 10. Oktober 2011 wies der Präsident des Geschworenengerichts dieses Gesuch ab mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung seien nicht erfüllt. 
 
B. 
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2011 an Bundesrätin Sommaruga ersuchte X.________ sinngemäss, die Präsidialverfügung des Geschworenengerichtspräsidenten vom 10. Oktober 2011 aufzuheben und ihn aus der Haft zu entlassen. 
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2011 teilte das Bundesamt für Justiz X.________ mit, gemäss der Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Verfügung sei nicht das Eidgenössische Polizei- und Justizdepartement, sondern das Obergericht des Kantons Zürich Beschwerdeinstanz, weshalb es seine Beschwerde an dieses weiterleite. 
Am 21. Oktober 2011 leitete das Obergericht die Beschwerde ans Bundesgericht weiter. 
 
C. 
Der Präsident des Geschworenengerichts verzichtet auf Vernehmlassung und fügt an, mit der Zustellung des begründeten Urteils vom 30. April 2010 an die Parteien könne bis Ende 2011 gerechnet werden. 
 
D. 
In seiner Beschwerdeergänzung stellt X.________ neu den Antrag, den bisherigen amtlichen Verteidiger zu entlassen und ihm in der Person von Rechtsanwältin Y.________ eine neue amtliche Verteidigerin zu bestellen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Angefochten ist der kantonal erstinstanzliche Haftentscheid des Geschworenengerichtspräsidenten vom 10. Oktober 2011. Dieser ist nach dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) am 1. Januar 2011 ergangen und betrifft ein Strafverfahren, in welchem die Hauptverhandlung vor dem Geschworenengericht noch unter der Herrschaft der Zürcher Strafprozessordnung durchgeführt worden war. 
Das Bundesgericht hat entschieden, dass in dieser Konstellation das Verfahren nach der neuen Schweizerischen Strafprozessordnung des Bundes zu führen ist. Übergangsrechtlich ist den Besonderheiten der früheren kantonalen Gerichtsordnung insofern Rechnung zu tragen, als die Zuständigkeit des Geschworenengerichtspräsidenten zum Haftentscheid anerkannt und auf das Erfordernis des doppelten Instanzenzugs verzichtet wird, womit die Beschwerde gegen dessen Entscheid zulässig ist (Urteil 1B_381/2011 vom 5. August 2011 E. 2 und 3). 
Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde berechtigt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht sinngemäss die Verletzung von Bundesrecht geltend (Art. 95 lit. a BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerde ohne Vertretung durch einen Anwalt eingereicht. Er war in der Lage, seine Sache selber ausreichend darzulegen. Die Beiordnung eines (neuen) amtlichen Verteidigers im bundesgerichtlichen Verfahren ist somit nicht notwendig. Dies gebietet auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 StPO). Über die amtliche Verteidigung des Beschwerdeführers im weiteren Verfahren hat das Bundesgericht im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht zu befinden. 
 
3. 
Die Haftvoraussetzungen gemäss Art. 221 StPO sind nicht umstritten. Der Beschwerdeführer beanstandet die lange Dauer seiner Haft und kritisiert, dass das Geschworenengericht ihm noch keine schriftliche Begründung seiner Verurteilung vom 30. April 2010 zugestellt habe. 
 
3.1 Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV ergibt sich ein Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. Ausserdem hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person nach Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots bzw. des Verhältnismässigkeitsprinzips liegt dann vor, wenn die Haft die Dauer der zu erwartenden Strafe übersteigt oder wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird. Der Richter darf die Haft nur so lange aufrechterhalten, als sie nicht in grosse zeitliche Nähe der bei einer rechtskräftigen Verurteilung konkret zu erwartenden Dauer der freiheitsentziehenden Sanktion rückt (BGE 133 I 168 E. 4.1; 270 E. 3.4.2 S. 281; je mit Hinweisen), und er muss das Verfahren mit der gebotenen Beschleunigung vorantreiben. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f.; 270 E. 3.4.2 S. 281; 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f.; je mit Hinweisen). 
Das Beschleunigungsgebot ist für den Strafprozess auf Gesetzesstufe in Art. 5 StPO verankert. Art. 5 Abs. 1 StPO verpflichtet die Strafbehörden, Strafverfahren unverzüglich an die Hand zu nehmen und ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss zu bringen. Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt (Art. 5 Abs. 2 StPO). 
 
3.2 Der Beschwerdeführer ist seit über vier Jahren in Haft. Am 30. April 2010 wurde er vom Geschworenengericht zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Begründung dieses noch nicht rechtskräftigen Urteils steht noch aus. Das Geschworenengericht stellt im bundesgerichtlichen Verfahren die Urteilsbegründung auf Ende 2011 in Aussicht. Es ist somit davon auszugehen, dass das Geschworenengericht für die Ausfertigung der Urteilsbegründung über 19 Monate beansprucht, ohne diese lange Dauer näher zu begründen. 
 
3.3 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Urteil "Werz gegen die Schweiz" vom 17. Dezember 2009 erkannt, die Zustellung des schriftlichen Strafurteils erst 15 Monate nach der mündlichen Urteilsverkündung sei mit dem in Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantierten Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist nicht vereinbar. Das damals anwendbare Strafprozessrecht des Kantons Bern sah eine Frist von 60 Tagen vor. Selbst wenn das heute nicht mehr in Kraft stehende Strafprozessrecht des Kantons Zürich eine längere Frist für die Zustellung der schriftlichen Begründung vorgesehen haben sollte, halten die hier vom Geschworenengericht ohne nähere Begründung beanspruchten 19 Monate vor Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV nicht stand. Diese lange Frist ist mit dem Beschleunigungsgebot offensichtlich nicht vereinbar, weshalb die Beschwerde bereits aus diesem Grund gutzuheissen ist. 
Das Bundesrecht sieht in Art. 84 Abs. 4 StPO eine Frist für die Zustellung des vollständig begründeten Urteils von 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, vor. Inwiefern diese Frist im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 StPO bei Personen, die sich in Sicherheitshaft befinden, ausgeschöpft werden darf, ist vorliegend nicht zu entscheiden. 
 
4. 
Die Verletzung des Beschleunigungsgebots kann zur Haftentlassung führen, wenn die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und die Strafverfolgungsbehörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (BGE 128 I 149 E. 2.2.1; 133 I 168 nicht publ. E. 4.3). 
 
4.1 Der Beschwerdeführer hatte bereits am 16. Oktober 2011 über zwei Drittel der vom Geschworenengericht ausgesprochenen Strafe verbüsst. In dieser Situation ist ein Gefangener durch die zuständige Behörde bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen (Art. 86 Abs. 1 StGB). 
Nach der Rechtsprechung ist hingegen bei der Prüfung der zulässigen Dauer der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft die Möglichkeit einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug nur ausnahmsweise zu berücksichtigen (BGE 125 I 60 E. 3d S. 64; Urteile 1B_234/2008 vom 8. September 2008 E. 3; 1B_6/2007 vom 20. Februar 2007 E. 2.5; je mit Hinweisen). Eine solche Ausnahme liegt vor, wenn absehbar ist, dass eine bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgen dürfte (Urteile des Bundesgerichts 1B_122/2009 vom 10. Juni 2009 E. 2.3; 1B_234/2008 vom 8. September 2008 E. 3; 1P.493/2006 vom 5. September 2006, E. 6.1, und die dort zitierte Praxis). 
 
4.2 Dem Beschwerdeführer wird attestiert, dass er sich im Strafvollzug grundsätzlich gut verhält, obwohl sein Arbeitseinsatz mangelhaft bzw. verbesserungswürdig gewesen sei. Negativ ins Gewicht fallen zwar zwei Vorfälle, die zu Disziplinarmassnahmen führten. Am 10. November 2010 soll er einen Mitinsassen provoziert haben, worauf er von diesem angegriffen und verletzt worden war. Beide Kontrahenten wurden diszipliniert, der Beschwerdeführer mit 4 Tagen Arrest. Dieser Vorfall liegt indessen beinahe ein Jahr zurück. Beim zweiten Vorfall nahm er beim Hofgang durch ein Zellenfenster Raucherwaren und ein Feuerzeug entgegen. Es handelt sich dabei um eine Bagatelle. Insgesamt fallen die beiden Vorfälle und der mangelhafte Arbeitseinsatz in der Küche zu wenig ins Gewicht, um die insgesamt positive Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers im Vollzug zu erschüttern. 
Den Beschwerdeführer erwartet nach Auffassung der Vorinstanz nach seiner Entlassung eine "unklare" Lebenssituation. Immerhin hat er die Möglichkeit, bei seiner Freundin zu wohnen, und es ist keineswegs auszuschliessen, dass er (allenfalls mit Unterstützung der Bewährungshilfe) eine Arbeit findet und sein weiteres Fortkommen sichern kann. Anzeichen für eine weitere Delinquenz bestehen nicht. 
 
5. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die in E. 3 festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots offensichtlich schwer wiegt. Der Beschwerdeführer hat zudem bereits zwei Drittel der am 30. April 2010 ausgesprochenen Strafe verbüsst. Einer bedingten Entlassung stehen - soweit ersichtlich - keine wichtigen Gründe entgegen. Die im angefochtenen Entscheid angeführten Gründe vermögen jedenfalls die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft klarerweise nicht zu rechtfertigen. Sollten im weiteren kantonalen Verfahren keine zusätzlichen triftigen Gründe für die Fortdauer der Haft bestehen, ist der Beschwerdeführer allenfalls unter Anordnung einer Bewährungshilfe nach Art. 87 Abs. 2 StGB aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Damit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben, die Verletzung des Beschleunigungsgebots festzustellen und die Sache an den Geschworenengerichtspräsidenten zu neuem, umgehend zu treffenden Entscheid zurückzuweisen. 
 
6. 
Der Beschwerdeführer stellt kein Gesuch um Entschädigung oder Genugtuung wegen unzulässiger Haftdauer. Ob ihm ein entsprechender Anspruch zusteht (vgl. Art. 431 StPO), ist somit im vorliegenden Urteil nicht zu entscheiden. 
Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen teilweise gutgeheissen und es wird festgestellt, dass das Beschleunigungsgebot verletzt wurde. Die Verfügung des Präsidenten des Geschworenengerichts des Kantons Zürich vom 10. Oktober 2011 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen. Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV, dem Präsidenten des Geschworenengerichts und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, sowie Rechtsanwalt Reto Leiser, Aarau, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 17. November 2011 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi