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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_249/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 21. Oktober 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Borella, 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8501 Frauenfeld,  
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
M.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Grauer, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur IV 
(Berechnung des Leistungsanspruchs), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 27. Februar 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
M.________ bezog für die Zeit von Mai 2011 bis Juni 2012 Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente (Verfügungen vom 21. April 2011, 6. Januar und 8. Februar 2012). Mit Verfügung vom 12. Juni 2012 berechnete die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau die Ergänzungsleistungen neu; dabei reduzierte sie die Ergänzungsleistung ab 1. April 2012, zudem verneinte sie einen Anspruch ab 1. Mai 2012 vollständig. Folglich verpflichtete sie M.________ zur Rückzahlung unrechtmässig bezogener Leistungen im Betrag von Fr. 3'555.-. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 fest. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Leistungsansprecherin beziehe von zwei anonymen Stiftungen Stipendien für die Abfassung ihrer Habilitationsschrift. Soweit diese Leistungen der Deckung des allgemeinen Lebensunterhalts dienten, seien sie als Einnahmen anzurechnen, weil nicht kumulativ dazu Ergänzungsleistungen bezogen werden könnten. Zudem habe es M.________ pflichtwidrigerweise unterlassen, die Stiftungen über ihre Berechtigung zum Bezug von Ergänzungsleistungen aufzuklären. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 27. Februar 2013 in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 aufhob und die Sache an die Ausgleichskasse zurückwies, damit sie den Anspruch auf Ergänzungsleistungen vom 1. April bis 31. Dezember 2012 sowie einen allfällig daraus resultierenden Rückforderungsanspruch neu berechne. 
 
C.   
Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. Februar 2013 sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2012 zu bestätigen. 
M.________ lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die von der Beschwerdeführerin in der Rechtsmittelschrift für sich verwendete Bezeichnung ist zu präzisieren. Gemäss Art. 21 ELG (SR 831.30) in Verbindung mit § 2 des thurgauischen Gesetzes vom 25. April 2007 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (RB 831.3) ist die kantonale Ausgleichskasse verfügungszuständig. Ebenso ist die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau parteifähig (vgl. Art. 61 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit § 1 des Gesetzes vom 6. Dezember 1947 über die Einführung der eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung im Kanton Thurgau [RB 831.1] und § 1 der Verordnung des Regierungsrates vom 26. Februar 1948 zum Gesetz über die Einführung der eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung im Kanton Thurgau [RB 831.10]), weshalb sie und nicht das Amt für AHV und IV Beteiligte im Prozess ist. Da in der Eingabe an das Bundesgericht vom 9. April 2013 immerhin auch die Ausgleichskasse angeführt wurde, ist auf die Beschwerde einzutreten und die falsche Parteibezeichnung von Amtes wegen zu korrigieren (vgl. SVR 2012 IV Nr. 53 S. 191, 9C_406/2011 E. 2; Urteil 9C_980/2010 vom 20. Juni 2011 E. 2).  
 
1.2.  
 
1.2.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Vor- resp. Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG, gegen welchen die Beschwerde nur zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführt und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).  
Wird die Verwaltung durch einen kantonalen Rückweisungsentscheid gezwungen, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen, hat dieser Entscheid für sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur Folge (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). 
 
1.2.2. Die Ausgleichskasse macht namentlich geltend, dass Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG (vgl. E. 3.1) verletzt werde, indem die der Beschwerdegegnerin ausgerichteten Stipendien bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen nicht als anrechenbares Einkommen berücksichtigt werden können. Dazu wird sie indessen mit dem vorinstanzlichen Entscheid verhalten (E. 2); auf die Beschwerde ist daher auch mit Blick auf Art. 93 Abs. 1 BGG einzutreten.  
 
2.   
Auch wenn die Vorinstanz der Auffassung ist, die Überlegungen der Ausgleichskasse könnten "nicht als falsch bezeichnet werden", hat sie letztlich die Frage offengelassen, ob die der Beschwerdegegnerin ausgerichteten Stipendien anrechenbares Einkommen darstellen oder ob sie bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen ausser Betracht fallen. Das kantonale Gericht hat mit dem Grundsatz von Treu und Glauben resp. dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens (Art. 9 BV) argumentiert: Es hat festgestellt, die Ausgleichskasse habe der Beschwerdegegnerin mit Verfügung vom 10. Mai 2012 den Status als Selbstständigerwerbende mit der Begründung, das Abfassen der Habilitationsschrift generiere kein Erwerbseinkommen, aberkannt; somit habe sie auch die fraglichen Zuwendungen beitragsrechtlich nicht als Erwerbseinkommen qualifiziert. Nur wenn dies zuträfe, wäre davon auszugehen, dass die Stipendien auch der Deckung des Existenzbedarfs dienten. So aber gehe es nicht an, für die Ergänzungsleistungen die Zuwendungen als Einkünfte anzurechnen. Die Ergänzungsleistungen 2012 seien daher neu zu berechnen, wobei ein allfällig ausbezahltes (und nicht zurückgefordertes) BVG-Freizügigkeitsguthaben und Einkünfte aus dem Grossratsmandat der Beschwerdegegnerin, nicht aber die Stipendien zu berücksichtigen seien. 
 
3.   
 
3.1. Die jährliche Ergänzungsleistung (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG) entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Als Einnahmen angerechnet werden nebst Erwerbseinkommen (Art. 11 Abs. 1 lit. a ELG) u.a. Renten, Pensionen und andere wiederkehrende Leistungen, einschliesslich der Renten der AHV und der IV (Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG). Nicht angerechnet werden hingegen (a) Verwandtenunterstützungen nach den Artikeln 328-330 ZGB, (b) Unterstützungen der öffentlichen Sozialhilfe, (c) öffentliche oder private Leistungen mit ausgesprochenem Fürsorgecharakter, (d) Hilflosenentschädigungen der Sozialversicherungen, (e) Stipendien und andere Ausbildungsbeihilfen und (f) Assistenzbeiträge der AHV oder der IV (Art. 11 Abs. 3 ELG).  
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Ausgleichskasse betrachtet die fraglichen Zuwendungen nicht als Erwerbseinkommen, sei es aus selbst- oder unselbstständiger Tätigkeit. Weil die vorinstanzliche Argumentation (E. 2) auf eine Erwerbstätigkeit resp. auf Art. 11 Abs. 1 lit. a ELG abzielt, greift sie zu kurz. Es bleibt zu prüfen, ob die Zuwendungen entweder wiederkehrende Leistungen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG darstellen oder aber als Stipendien oder andere Ausbildungsbeihilfen im Sinne von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG zu qualifizieren sind.  
 
3.2.2. Die Auslegung des Gesetzes ist auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die von ihm erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten. Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus abgeleiteten Sinne ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann (vgl. BGE 136 V 84 E. 4.3.2.1 S. 92). Solche Gründe können sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (BGE 135 IV 113 E. 2.4.2 S. 116; 135 V 382 E. 11.4.1 S. 404; 127 III 318 E. 2b S. 322 f.).  
 
3.3. Die Vorinstanz nimmt in Übereinstimmung mit den Parteien an, dass die Beschwerdegegnerin die fraglichen Zuwendungen für das Verfassen einer Habilitationsschrift im Rahmen ihrer Aus- resp. Weiterbildung erhält (vgl. RALPH JÖHL, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Band XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1861 Rz. 312 [zu Art. 3c Abs. 2 lit. e des auf den 1. Januar 2008 aufgehobenen aELG]). Damit ist grundsätzlich von Stipendien im Sinn von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG auszugehen.  
Die Ausgleichskasse vertritt indessen die Auffassung, dies treffe nur soweit zu, als die Stipendien nicht dem allgemeinen Lebensunterhalt dienen. Dem ist, auch wenn in Bezug auf Ergänzungsleistungen eine gewisse "Kumulationsgefahr" besteht ( JÖHL, a.a.O., S. 1862 Rz. 314), nicht beizupflichten: Eine solche Einschränkung lässt sich dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG nicht entnehmen. Angesichts des abschliessenden Charakters der Ausnahmeliste von Art. 11 Abs. 3 ELG ( CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 185) ist zu erwarten, dass ein solcher Vorbehalt des Gesetzgebers explizit formuliert worden wäre, zumal Stipendien im Allgemeinen nicht ausschliesslich zur Deckung der Bildungskosten im engeren Sinn, sondern auch des Lebensunterhalts dienen. Zudem bezwecken Verwandtenunterstützung, öffentliche Sozialhilfe und öffentliche oder private Leistungen mit ausgesprochenem Fürsorgecharakter (Art. 11 Abs. 2 lit. a-c ELG) - zumindest teilweise - ebenfalls die Finanzierung des Existenzbedarfs. Diesen Verwendungszweck bei solchen Leistungen abzugrenzen, um den entsprechenden (Teil-) Betrag für die Ergänzungsleistungen zu berücksichtigen, wäre ausserdem kaum praktikabel. Damit hat der Gesetzgeber eine gewisse Kumulation von Leistungen bewusst in Kauf genommen und es den Stipendienerbringern überlassen, angemessen darauf zu reagieren. Dies gilt jedenfalls, wenn die Beihilfe wie im konkreten Fall nicht von einer Sozialversicherung ausgerichtet wird ( JÖHL, a.a.O., S. 1862 Rz. 314 f.; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 187). Für eine Abweichung vom klaren Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 lit. e ELG besteht somit keine Veranlassung. 
Im Übrigen spricht der Umstand allein, dass die Stipendien allenfalls periodisch entrichtet werden, nicht für deren Subsumtion unter Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG. Die Auffangfunktion dieser Bestimmung kommt erst zum Tragen, wenn die Leistung nicht ausdrücklich von der Anrechnung ausgenommen ist ( JÖHL, a.a.O., S. 1819 Rz. 252). Das trifft hier nicht zu. 
 
3.4. Nach dem Gesagten spielt für die Ergänzungsleistungen keine Rolle, ob die Stipendien (auch) die Deckung des Lebensunterhalts bezweckten, weshalb diesbezüglich keine Sachverhaltsabklärungen erforderlich waren. Ebenso ist für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen kein Tatbestandselement und daher belanglos, ob Stipendienerbringer von einem Leistungsbezug unterrichtet sind oder nicht; die betroffenen (privaten) Organisationen haben selber die nötigen Vorkehren zu treffen um eine allfällige Überentschädigung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang kann folglich auch nicht von einer Verletzung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht (Art. 28 ATSG [SR 830.1]) gesprochen werden, wenn die Beschwerdegegnerin die Anonymität der Stiftungen wahrte und deren Informationsstand nicht weiter dokumentierte, zumal die Ausgleichskasse die Beweiskraft der (teilweise) abgedeckten Bestätigungsschreiben nicht in Frage stellte. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Oktober 2013 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann