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[AZA 0/2] 
1P.651/2000/boh 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
22. Februar 2001 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied 
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter 
Aeschlimann, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiber Sigg. 
 
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In Sachen 
J.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Remo Cahenzli, Karlihofplatz 3, Postfach 683, Chur, 
 
gegen 
- A.________,- B.________, Beschwerdegegnerinnen, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jean-Pierre Menge, Quaderstrasse 5, Postfach 26, Chur, Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Kantonsgericht von Graubünden, Strafkammer, 
 
betreffend 
Strafverfahren, hat sich ergeben: 
 
A.- Mit Urteil vom 5./6. Juni 2000 sprach das Kantonsgericht Graubünden J.________ schuldig des vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung gemäss Art. 111 StGB in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB, begangen gegenüber seiner Ehefrau A.________, sowie der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB und der mehrfachen Vergewaltigung gemäss Art. 190 Abs. 1 StGB, begangen gegenüber B.________, der Schwester seiner Ehefrau (Ziff. 1 des Urteils). Es bestrafte ihn mit neun Jahren Zuchthaus, abzüglich der erstandenen Untersuchungshaft von 239 Tagen (Ziff. 2). Ausserdem wurde J.________ für die Dauer von zehn Jahren des Landes verwiesen (Ziff. 3), das beschlagnahmte Messer gerichtlich eingezogen (Ziff. 4), und J.________ zu Genugtuungszahlungen an A.________ (Ziff. 5) sowie B.________ (Ziff. 6) und zur Zahlung der Verfahrenskosten (Ziff. 7) verpflichtet. 
 
B.- Mit selbst verfassten Eingaben vom 6. Oktober 2000, vom 16. Oktober 2000 (2), vom 20. Oktober 2000 und vom 23. Oktober 2000 erhob J.________ staatsrechtliche Beschwerde gegen dieses Urteil. Am 23. Oktober 2000, noch innerhalb der Beschwerdefrist, reichte auch sein Anwalt eine Beschwerdeschrift ein mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und J.________ sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
 
 
Das Kantonsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. 
A.________ und B.________ verlangen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne; in der Begründung ihres Antrags äussern sie sich allerdings dahin, auf die Beschwerde sei gar nicht einzutreten. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Die Beschwerdegegnerinnen machen geltend, das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers sei ungenau, denn nach seiner Begründung seien nur Teile des Urteils von der Beschwerde betroffen. 
 
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Beschwerde nicht gegen den Schuldspruch wegen vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung. Hingegen rügt er, seine Verurteilung wegen der Sexualdelikte verletze den Grundsatz "in dubio pro reo". Die staatsrechtliche Beschwerde richtet sich daher materiell nicht gegen das gesamte Urteil des Kantonsgerichts. 
Selbst bei einer vollständigen Gutheissung der Beschwerde würden die Urteilsziffern 4 (Einziehung des Messers, mit welchem der Tötungsversuch begangen worden ist) und 5 (Genugtuung für das Opfer des Tötungsversuchs) unverändert bestehen bleiben. Beiden Urteilsziffern kommt im Verhältnis zu den Ziffern 1, 2 und 3 (Schuldspruch und Strafmass) aber nur untergeordnete Bedeutung zu, und aus der Begründung der Beschwerde geht eindeutig hervor, in welchem Umfang das Urteil des Kantonsgerichts angefochten wird. Die vom Anwalt des Beschwerdeführers eingereichte Beschwerdeschrift erfüllt daher die Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. a OG. Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist soweit einzutreten. 
 
b) Nicht einzutreten ist hingegen auf die vom Beschwerdeführer selbst verfassten Eingaben, da ihnen die nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG erforderlichen Begründungen fehlen. 
Der Beschwerdeführer erleidet in dieser Hinsicht allerdings keinen Nachteil, da sein Anwalt innerhalb der Beschwerdefrist eine ausführlich begründete Beschwerde eingereicht hat. 
 
2.- a) Den kantonalen Gerichten steht bei der Würdigung des Beweisergebnisses ein weiter Ermessensspielraum zu (BGE 115 Ib 446 E. 3a S. 450; 112 Ia 369 E. 3). Die Beweiswürdigung ist nicht schon dann willkürlich, wenn vom Sachrichter gezogene Schlüsse nicht mit der Darstellung des Beschwerdeführers übereinstimmen. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen offensichtlich falsch sind oder auf einem offenbaren Versehen beruhen, wenn sie mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, wenn sie sich in entscheidende Widersprüche verwickeln, oder wenn Feststellungen ohne jede Beweisgrundlage getroffen werden (BGE 118 Ia 28 E. 1d; 116 Ia 85 E. 2b; 113 Ia 19 E. 3a, je mit Hinweisen). Willkürlich ist auch eine Beweiswürdigung, welche einseitig einzelne Beweise berücksichtigt (BGE 118 Ia 30 E. 1b, mit Hinweis). Die Rügen des Beschwerdeführers können nur unter diesem eingeschränkten Gesichtspunkt geprüft werden. 
 
Auch der Grundsatz "in dubio pro reo" bedeutet bei der Würdigung der Beweise nicht mehr als das verfassungsrechtliche Willkürverbot. Der Grundsatz besagt nur, dass der Richter einen Angeklagten nicht verurteilen darf, wenn bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses schlechthin nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestehen bleiben (BGE 120 Ia 31 E. 2, mit Hinweisen; siehe auch BGE 124 I 327 E. 3b S. 331). 
 
b) Der Beschwerdeführer wirft dem Kantonsgericht vor, es habe nur auf die Aussagen von B.________ abgestellt und alle übrigen Beweismittel und Zusammenhänge nicht beachtet. 
Insbesondere habe das Kantonsgericht das Verhalten von A.________ nicht berücksichtigt, das sich nach dem Erhalt des negativen Asylbescheides schlagartig verändert habe. Von einem Tag auf den anderen habe sie dem Beschwerdeführer eröffnet, sie wolle die Scheidung beantragen, und dann habe sie die Familienwohnung verlassen. Erst als der Beschwerdeführer bereits in Untersuchungshaft sass, seien Anschuldigungen wegen der Sexualdelikte erhoben worden. A.________ habe seit dem negativen Asylentscheid alles daran gesetzt, den Beschwerdeführer loszuwerden, damit der Asylentscheid eher in Wiedererwägung gezogen werde. Deshalb seien die Aussagen von B.________ bei einer korrekten Würdigung nicht glaubhaft. Im Einzelnen gebe es eine ganze Reihe von unauflösbaren Widersprüchen und unbeantworteten Fragen, die der Beschwerdeführer aufführt. 
 
c) Das Kantonsgericht stellte demgegenüber fest, dass B.________ ihre Aussagen in mehreren Einvernahmen immer wieder bestätigt habe, auch bei einer mehrstündigen Konfrontationseinvernahme mit dem Beschwerdeführer. Sie habe sich nie in Widersprüche verstrickt. Bei der Konfrontationseinvernahme sei sie immer wieder wegen der Auffrischung alter Erinnerungen in Tränen ausgebrochen. Sie habe das Vorgefallene in Einzelheiten geschildert, wie dies nur jemand könne, der das auch erlebt habe. Obwohl sie eine Fülle von Details der Abläufe sexueller Handlungen wiedergegeben habe, seien ihre Aussagen in den verschiedenen Einvernahmen deckungsgleich geblieben. Besonders die Schilderungen von Empfindungen hätten dabei überzeugend und lebensnah gewirkt und seien ohne weiteres nachvollziehbar gewesen. 
 
d) Die vom Kantonsgericht genannten Tatsachen weisen auf die Wahrheit der Aussagen von B.________ hin. Der Beschwerdeführer setzt sich nicht im Einzelnen mit den so genannten Wahrheitskriterien auseinander, die das Kantonsgericht angewendet hat. Zu den in der staatsrechtlichen Beschwerde aufgeführten Fragen hat das Kantonsgericht entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers bereits im angefochtenen Urteil Stellung genommen. Auf die Begründung des angefochtenen Urteils kann in diesem Zusammenhang verwiesen werden (Art. 36a Abs. 3 OG). 
 
Der Hinweis des Beschwerdeführers auf das Verhalten von A.________ läuft darauf hinaus, dass die Aussagen von B.________ wenig glaubwürdig seien, weil sie erst zu einem Zeitpunkt gemacht worden seien, als A.________ einen Scheidungsgrund gesucht habe. Das Kantonsgericht hält diesem Argument entgegen, Opfer von Sexualdelikten würden sich sehr oft erst nach langer Zeit einer Drittperson anvertrauen, weil Scham und Angst vorher zu gross seien. Ausserdem habe das Opfer das Recht zu entscheiden, ob überhaupt und wenn ja, wann und wo eine Strafanzeige eingereicht werde. Der Beschwerdeführer nennt keinen Grund, weshalb diese Argumentation willkürlich sein soll. 
 
e) Der Beschwerdeführer rügt ausserdem, das Kantonsgericht habe das Unmittelbarkeitsprinzip verletzt, weil es B.________ nicht an der Hauptverhandlung einvernommen habe. 
 
Der Beschwerdeführer hätte indessen bereits vor oder an der Hauptverhandlung den Antrag stellen können, B.________ sei vom Gericht persönlich anzuhören. Weil der Beschwerdeführer keinen derartigen Antrag gestellt hat, handelt es sich bei seinem Vorbringen in der staatsrechtlichen Beschwerde um ein so genanntes Novum. In einer wegen Verletzung des Willkürverbotes von Art. 9 BV erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde sind neue Vorbringen - von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen - nicht zulässig (BGE 118 Ia 369 E. 4d; 118 III 37 E. 2; 117 Ia 3 E. 2; 115 Ia 185 E. 2). Auch soweit er eine Verletzung der EMRK geltend macht, hätte die Rüge nach Treu und Glauben bereits im kantonalen Verfahren erhoben werden müssen. Auf diese Rügen des Beschwerdeführers ist deshalb nicht einzutreten. 
 
f) Die Ausführungen in der staatsrechtlichen Beschwerde begründen bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses keinen schlechthin nicht zu unterdrückenden Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers. Das angefochtene Urteil verstösst nicht gegen den Grundsatz "in dubio pro reo". Die vom Anwalt des Beschwerdeführers eingereichte Beschwerde erweist sich vielmehr als offensichtlich unbegründet und ist im vereinfachten Verfahren abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
3.- Dem Begehren des Beschwerdeführers um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege kann mit Rücksicht auf die gesamten Umstände des Falles entsprochen werden (Art. 152 OG). Rechtsanwalt Remo Cahenzli ist als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers zu bezeichnen. 
 
Art. 152 OG befreit den Beschwerdeführer zwar davon, die Parteikosten der Beschwerdegegnerinnen sicherzustellen; trotzdem hat er sie nach Art. 159 Abs. 2 OG für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht 
im Verfahren nach Art. 36a OG
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
 
a) Es werden keine Kosten erhoben; 
 
b) Rechtsanwalt Remo Cahenzli wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
 
3.- Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerinnen für das bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 500.-- zu entschädigen. 
 
4.- Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 22. Februar 2001 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Das präsidierende Mitglied: 
 
Der Gerichtsschreiber: