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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1A.290/2003 /grl 
 
Urteil vom 22. März 2004 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Reeb, Féraud, 
Gerichtsschreiberin Scherrer. 
 
Parteien 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
handelnd durch B.________, und diese vertreten durch 
Fürsprecher Beat Kurt, 
 
gegen 
 
Kanton Bern, 
handelnd durch die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern, Münstergasse 2, 3011 Bern, 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, Speichergasse 12, 3011 Bern. 
 
Gegenstand 
Genugtuung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 
18. November 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Im Strafverfahren gegen seinen Vater wegen sexueller Handlung mit Kindern und Schändung erhielt A.________ vom Obergericht des Kantons Bern am 25. Mai 2001 eine Genugtuung von Fr. 500.-- zugesprochen. 
 
In der Folge reichte die Mutter von A.________, B.________, bei der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern (JGK) für ihren Sohn A.________, dessen drei Geschwister und sich selber Gesuche um Genugtuung gemäss dem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 4. Oktober 1991 (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) ein. Die JGK wies die Gesuche am 18. Juni 2002 ab. Hinsichtlich des Gesuchs von A.________ erwog die JGK, es rechtfertige sich nicht, von dem durch das Strafgericht festgelegten Betrag abzuweichen. Nachdem der Täter die ihm auferlegte Summe bezahlt habe, bestehe kein weitergehender Anspruch auf Genugtuung mehr. Bezüglich der Mutter und der Geschwister des Opfers seien die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Genugtuung nicht erfüllt. Das hierauf angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Bern schützte den Entscheid der JGK am 5. September 2002, worauf B.________ ans Bundesgericht gelangte. 
 
Mit Urteil 1A.208/2002 vom 12. Juni 2003 hiess das Bundesgericht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde teilweise gut und wies die Sache an das Verwaltungsgericht zurück, soweit dieses weitergehende Genugtuungsansprüche von A.________ verneint hatte. Das Bundesgericht erwog unter anderem, die OHG-Behörde sei in Rechtsfragen nicht an die Beurteilung des Strafrichters gebunden. 
B. 
Das Verwaltungsgericht sprach A.________ daraufhin am 18. November 2003 eine Genugtuung von Fr. 3'000.-- zu. Davon wurden die im Strafverfahren zugesprochenen Fr. 500.-- in Abzug gebracht. 
 
Mit Eingabe vom 22. Dezember 2003 erhebt A.________, vertreten durch seine Mutter B.________, gegen das vorerwähnte Urteil vom 18. November 2003 Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Kanton Bern anzuweisen, dem Beschwerdeführer eine höhere Genugtuung nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Dezember 1996 auszurichten. Daneben stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung, unter Beiordnung von Fürsprecher Beat Kurt als unentgeltlichem Rechtsvertreter. 
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern und das Bundesamt für Justiz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
 
Die neu an Stelle der JGK für opferhilferechtliche Ansprüche zuständige Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern verweist auf die ihr zutreffend erscheinenden Ausführungen des angefochtenen Urteils. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Das Verwaltungsgericht hat als letzte kantonale Instanz über Genugtuungsansprüche nach dem Opferhilfegesetz entschieden. Gegen sein Urteil ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (BGE 126 II 237 E. 1a S. 239; 125 II 169 E. 1 S. 171, je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist nach Art. 103 lit. a OG zur Beschwerde befugt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht können die Verletzung von Bundesrecht - einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens - und die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 104 lit. a und b OG). Hat allerdings - wie im vorliegenden Fall - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an den festgestellten Sachverhalt gebunden, es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden (Art. 105 Abs. 2 OG). Nicht überprüfen kann es die Frage der Angemessenheit des angefochtenen Entscheides (Art. 104 lit. c OG). 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer erachtet die vom Verwaltungsgericht zugesprochene Genugtuungssumme für rechtsfehlerhaft. Seinen Begehren liegt die Auffassung zu Grunde, das Verwaltungsgericht trage den Beeinträchtigungen, welche bereits seit vielen Jahren beständen und sich voraussichtlich noch lange auswirken würden, in keiner Weise Rechnung. Bei derart tief greifenden Folgen erscheint ihm eine Genugtuung, welche gerade das Minimum des möglichen Spektrums darstelle, als offensichtlich unbillig und in stossender Weise ungerecht. Wenn die Vorinstanz bei ihrem Vergleich mit anderen Urteilen auf das Strafmass abstelle, müsse dies als untaugliches Kriterium bezeichnet werden. Generell müssten in die Bemessungsüberlegungen spezial- und generalpräventive Aspekte einbezogen werden. 
2.2 Gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG kann dem Opfer unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen. Umstritten ist im vorliegenden Fall einzig die Höhe der Genugtuung, nicht der grundsätzliche Anspruch des Beschwerdeführers. 
 
Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über die Bemessung der Genugtuung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind grundsätzlich die von den Zivilgerichten zu Art. 47 und 49 OR entwickelten Grundsätze sinngemäss heranzuziehen (BGE 123 II 210 E. b/dd S. 216). Namentlich gewährt die opferrechtliche Genugtuung nicht weitergehende Ansprüche, als das Opfer zivilrechtlich gegen den Täter geltend machen könnte (BGE 121 II 369 E. 5a S. 376). Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich bei der opferrechtlichen Genugtuung um eine staatliche Hilfeleistung handelt, nicht um eine Staatshaftung (BGE 125 II 169 E. 2b S. 173, 554 E. 2a S. 555 f.; 124 II 8 E. 3d/bb S. 14; 123 II 210 E. 3b S. 214; 121 II 369 E. 3c/aa S. 373, je mit Hinweisen). Sie erreicht deshalb nicht automatisch die gleiche Höhe wie die zivilrechtliche, sondern kann unter Umständen davon abweichen (BGE 128 II 49 E. 4.3 S. 55; Bundesgerichtsentscheide 1A.83/2002 vom 22. Juli 2002, publ. in Pra 2003 27 138, E. 2; 1A.80/1998 vom 5. März 1999, publ. in BVR 1999 481, E. 3c/cc, und 1A.235/2000 vom 21. Februar 2001 E. 3a; vgl. Klaus Hütte, Genugtuung - eine Einrichtung zwischen Zivilrecht, Strafrecht, Sozialversicherungsrecht und Opferhilfegesetz, in: Collezione Assista, Genf 1998, S. 264 ff., 278 f.). 
2.3 Die Bemessung der Genugtuung ist eine Entscheidung nach Billigkeit, die von einer Würdigung der massgeblichen Kriterien abhängt. Innerhalb gewisser Grenzen sind mehrere angemessene Lösungen möglich (BGE 123 II 210 E. 2c S. 212 f.). Den kantonalen Behörden steht ein breiter Ermessensspielraum zu, in den das Bundesgericht nur eingreift, wenn die kantonale Instanz ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hat (Art. 104 lit. a OG). Im Zusammenhang mit der Bemessung einer Genugtuungssumme greift es ein, wenn grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen wird, wenn Tatsachen berücksichtigt werden, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle spielen dürfen oder wenn umgekehrt Umstände ausser Betracht geblieben sind, die hätten beachtet werden müssen, oder wenn sich der Entscheid als offensichtlich unbillig bzw. als in stossender Weise ungerecht erweist (BGE 125 II 169 E. 2b/bb S. 174; 125 III 412 E. 2a S. 417 f.; 123 III 10 E. 4c/aa S. 13, 306 E. 9b S. 315). 
2.4 Das Verwaltungsgericht hat sich eingehend und sorgfältig mit den Übergriffen des Vaters und den Folgen, die dem Beschwerdeführer daraus erwachsen sind und noch erwachsen können, auseinander gesetzt. Es hat nicht nur die Schwere und Art der Beeinträchtigung für das Opfer gewichtet, sondern auch die Intensität und die Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt. Sowohl das sehr junge Alter des Opfers im Tatzeitpunkt als auch das besondere Vertrauensverhältnis zum Vater wurden in Betracht gezogen. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers fand auch die Auseinandersetzung mit der Problematik eines allfälligen Langzeitschadens statt (E. 5.6 und 6.1 des angefochtenen Urteils). Des Weitern hat es bei der Berechnung der Genugtuungshöhe zum Vergleich Entscheide beigezogen, welche ebenfalls wegen sexueller Handlungen mit Kindern ergangen sind. Dass es dabei unter anderem auf das jeweilige Strafmass abgestellt hat, um einen Anhaltspunkt für die Schwere der Delikte zu erhalten, scheint durchaus plausibel. Insgesamt wurden alle relevanten Bemessungsfaktoren berücksichtigt. Die vorinstanzlichen Erwägungen lassen keine Rechtsfehler erkennen. Der angefochtene Entscheid kann - ausgehend von dem für das Bundesgericht verbindlich festgestellten Sachverhalt - weder als offensichtlich unbillig noch als in stossender Weise ungerecht bezeichnet werden. Das Verwaltungsgericht hat den ihm zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten oder missbraucht. 
2.5 Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, neben der Tatkomponente seien auch die Täterkomponente sowie spezial- und generalpräventive Aspekte einzubeziehen, verkennt er offensichtlich, dass die Genugtuung nach OHG keine Strafe für den Täter, sondern eine staatliche Hilfeleistung an das Opfer darstellt. Gestützt auf Art. 14 Abs. 2 OHG gehen nur diejenigen Ansprüche auf den Staat über, die dem Opfer aufgrund der Straftat gegenüber dem Täter zustehen und deren Leistung der Staat übernommen hat. Im vorliegenden Fall sind dies die vom Obergericht zugesprochenen Fr. 500.--, welche der Täter jedoch bereits bezahlt hat. Übersteigt die opferhilferechtliche Genugtuung den direkten Anspruch, den das Opfer gegenüber dem Täter hat, kann der Staat dafür keinen Rückgriff auf den Täter nehmen. Inwiefern darum bei der Bemessung der Genugtuung spezial- und generalpräventive Überlegungen eine Rolle spielen sollen, ist nicht ersichtlich. 
3. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unbegründet und abzuweisen ist. 
 
Nach der Praxis sind im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren betreffend Ansprüche nach Art. 11 ff. OHG keine Kosten zu erheben (BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist daher insoweit gegenstandslos. Im Übrigen ist dem Gesuch zu entsprechen und dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren ein amtlicher Rechtsvertreter beizuordnen (Art. 152 Abs. 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
3.1 Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird, soweit es nicht gegenstandslos ist, entsprochen. 
3.2 Fürsprecher Beat Kurt wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kanton Bern und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern sowie dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 22. März 2004 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: