Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_605/2012 
 
Urteil vom 23. Januar 2013 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Schmutz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
R.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Jörg Roth, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 13. Juni 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
R.________ gelernte Pflegeassistentin SRK, welche während einigen Jahren in diesem Beruf gearbeitet hatte, meldete sich am 25. November 2009 unter Angabe einer leichten Depression und reduzierter intellektueller Leistungsfähigkeit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern klärte die medizinischen und beruflich-erwerblichen Verhältnisse ab. Sie holte dazu Berichte der Psychiatrischen Dienste X.________ AG vom 30. September 2009, 12. Januar 2010 und 24. August 2010 sowie des Psychiaters Dr. med. M.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 9. Dezember 2009 ein. Vom 31. Mai bis 22. August 2010 fand in der Y.________ Stiftung für Berufliche Integration eine berufliche Abklärung statt (Bericht Stiftung für Berufliche Integration Y.________ vom 6. August 2010). Nach Untersuchung durch den Regionalen Ärztlichen Dienst RAD (Berichte Dr. phil. A.________, Fachpsychologe für Neuropsychologie FSP, vom 29. Dezember 2010 und Dr. med. Q.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 21. September 2011) stellte die IV-Stelle R.________ mit Vorbescheid vom 14. Oktober 2011 die Ablehnung des Rentenanspruchs in Aussicht, weil der Invaliditätsgrad unter 40 % liege. Sie bestätigte den angekündigten Entscheid mit Verfügung vom 16. Januar 2012 (Invaliditätsgrad von 33 %). 
 
B. 
Die von R.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 13. Juni 2012 ab. 
 
C. 
Dagegen lässt R.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid und die Verfügung seien aufzuheben; es sei ihr ab 1. Mai 2010 eine Rente von mindestens 50 % auszurichten; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung des Sachverhalts und zum Erlass einer neuen Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand sowie die aufgrund der medizinischen Untersuchungen gerichtlich konstatierte Arbeits(un)fähigkeit betreffen Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), welche sich nach der gesetzlichen Regelung der Kognition einer freien Überprüfung durch das Bundesgericht entziehen und die es seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG). 
 
2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, namentlich über die Begriffe der Invalidität, Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsfähigkeit, den Umfang des Rentenanspruchs, die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung. Insbesondere habe die Vorinstanz sich auf ungenügende Beweisgrundlagen abgestützt. Obwohl divergierende Arztberichte vorlägen, habe sie die Beweise nicht umfassend gewürdigt, sondern auf die Berichte des RAD abgestellt, die dem gebotenen Standard nicht genügten. Die Begründung, es bestünden keine Unterschiede zu den Beurteilungen durch die Psychiatrischen Dienste X.________ AG und die Stiftung für Berufliche Integration Y.________ verfange nicht. Die Psychiatrischen Dienste hätten zusätzlich auch eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert. Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit sei auf die Einschätzungen der Psychiatrischen Dienste X.________ AG und der Stiftung für Berufliche Integration Y.________ abzustellen. 
 
3.1 Die kantonale Instanz befand in umfassender Würdigung der bei den Akten liegenden medizinischen Dokumentation, in neuropsychologischer Hinsicht sei auf den überzeugenden Bericht des RAD-Psychologen Dr. phil. A.________ abzustellen. Demnach bestehe bei der Beschwerdeführerin eine leichte kognitive Minderfunktion bei einem Intelligenzquotienten von 77; bei einem solchen Wert sei nach der von der Rechtsprechung geschützten Verwaltungspraxis in der Regel nicht von einer verminderten Arbeitsfähigkeit auszugehen. Aus neurologischer Sicht bestehe kein invalidisierender Gesundheitsschaden. In psychiatrischer Hinsicht befand die Vorinstanz, der Bericht der Psychiatrischen Dienste X.________ AG vom 12. Januar 2010 spreche nicht gegen die Zuverlässigkeit der Einschätzung des RAD-Psychiaters Dr. med. Q.________ vom 21. September 2011. Wenn die Beschwerdeführerin auch bei einfachen Arbeiten klare Anweisungen und Vorgaben benötige, stehe dies nicht im Widerspruch zur Auffassung des RAD. Im Verlaufsbericht vom 24. August 2010 würden die Psychiatrischen Dienste X.________ AG davon ausgehen, dass sich die depressive Störung gebessert habe. Dies decke sich mit der Diagnose einer Dysthymie durch Dr. med. Q.________. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin belegten die beiden Berichte der Psychiatrischen Dienste X.________ AG keine zu einer Invalidität von mindestens 50 % führende Arbeitsunfähigkeit. In der Abklärung sei die Motivation der Beschwerdeführerin fraglich gewesen und sie habe subjektiv Angst vor Überforderung gehabt und sich zu wenig zugetraut. Beides sei jedoch nicht Folge eines psychischen Gesundheitsschadens. Die Frage nach der zumutbaren Arbeitsleistung sei nach Massgabe der ärztlich objektiv feststellbaren Gesundheitsschädigung zu beantworten. Die Ergebnisse der Abklärung sprächen darum nicht gegen die Annahmen des RAD zur Arbeitsfähigkeit. Für die Vorinstanz war erstellt, dass eine 70%- bis 80%ige Arbeitsfähigkeit gegeben war. 
 
3.2 Die vorinstanzlichen Feststellungen sind nicht offensichtlich unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Ihre Gültigkeit bestätigt sich in der Gegenüberstellung der Einschätzung des RAD-Arztes Dr. med. Q.________ mit dem Bericht des seit 2004 behandelnden Psychiaters Dr. med. M.________: Dieser stellte im IV-Arztbericht vom 9. Dezember 2009 die Diagnose einer Dysthymie (ICD-10 F34.1) bei entwicklungsgehemmter Persönlichkeit (ICD-10 F60.8). Als objektive Befunde nannte er seit 2004 beobachtete "Stimmungsschwankungen zur depressiven Seite hin in Abhängigkeit vom arbeitslosen Zustand". Zur Behandlung gab er an, es hätten auf die Stellensuche gerichtete Gespräche stattgefunden. Wenn die berufliche Integration gelinge, könne mit einer deutlichen psychischen Verbesserung gerechnet werden. Die Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit schätzte Dr. med. M.________ auf 4 bis 6 Stunden pro Tag (bezogen auf einen Achtstundentag 50 % - 75 %), wobei er verdeutlichte, die Einschränkungen würden sich durch Eingliederungsmassnahmen vermindern lassen. Der RAD-Psychiater Dr. med. Q.________ diagnostizierte ebenfalls eine Dysthymie (ICD-10 F34.1) bei entwicklungsgehemmter Persönlichkeit (ICD-10 F60.8). Im Bericht vom 21. September 2011 legte er die Arbeitsfähigkeit auf rund 70 % bis 80 % fest. 
Die etwas höhere Festsetzung durch Dr. med. Q.________ rechtfertigt sich deshalb, weil sich die gesundheitliche Situation während den Abklärungsmassnahmen positiv entwickelt hatte. Laut dem Verlaufsbericht der Psychiatrischen Dienste X.________ AG vom 24. August 2010 hatte sich die in den früheren Berichten vom 30. September 2009 und 12. Januar 2010 diagnostizierte depressive Störung verbessert. Dass der Psychiater des RAD die Arbeitsfähigkeit der Versicherten im oberen Grenzbereich der früheren Schätzung des behandelnden Arztes einstufte, rechtfertigt sich auch aufgrund der Ergebnisse der beruflichen Abklärung; denn es erwies sich dort, dass die Beschwerdeführerin in allen Arbeitsbereichen über Ressourcen für einen Einsatz in manuellen, seriellen und kognitiv einfacheren Tätigkeiten verfügt. Die Leistungseinschränkung war nach dem Bericht der Eingliederungsspezialisten vor allem auf die Angst zurückzuführen, Fehler zu begehen. Dies bedingte verlängerte Einführungsprozesse in neue Arbeiten. Mit zunehmender Sicherheit in einer Tätigkeit stieg jedoch die Produktivität. 
 
3.3 Anzumerken bleibt, dass die von den Psychiatern übereinstimmend diagnostizierte Dysthymie nach der Rechtsprechung nur dann als Gesundheitsschaden im Sinne des Gesetzes gelten kann, wenn sie zusammen mit anderen Befunden - wie etwa einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung - auftritt; allein ist sie regelmässig nicht invalidisierend (SVR 2008 IV Nr. 8 S. 23, I 649/06 E. 3.3.1 mit Hinweisen). Dr. med. M.________ und Dr. med. Q.________ haben zwar beide in Verbindung mit der Dysthymie auch eine entwicklungsgehemmte Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.8) diagnostiziert. Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat (E. 1), konnte die Beschwerdeführerin aber trotz dieser Störung Ausbildungen absolvieren und längere Zeit an der gleichen Stelle arbeiten. Es ist damit fraglich, ob die diagnostizierte Einschränkung in Verbindung mit der Dysthymie im Sinne der Rechtsprechung konkret als ernsthafte Persönlichkeitsstörung qualifiziert werden könnte. Dies kann jedoch offen bleiben, da auch die in Berücksichtigung der genannten Diagnose konstatierte Arbeitsunfähigkeit ein anspruchsbegründendes Ausmass nicht erreicht. 
 
Zu der von den Psychiatrischen Diensten X.________ AG diagnostizierten (im Verlauf der Abklärungen sich bessernden) depressiven Störung (ICD-10 F33.1) ist festzuhalten, dass nach der Rechtsprechung mittelgradige depressive Episoden grundsätzlich keine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im Sinne eines verselbstständigten Gesundheitsschadens darstellen (Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1 mit Hinweisen). Auch die von den Psychiatrischen Diensten X.________ AG diagnostizierte Persönlichkeitsstörung in sogenannter ICD-10-Z-Kodierung (hier: ängstlich vermeidende und selbstunsichere Persönlichkeit) stellt rechtsprechungsgemäss keine invaliditätsrechtlich erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung dar (vgl. Urteil 9C_537/2011 vom 28. Juni 2012 E. 3.1). 
 
3.4 Die Rüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung auf einer ungenügenden und widersprüchlichen Beweisgrundlage ist unbegründet. Der vorinstanzliche Schluss auf das Bestehen einer 70- bis 80-prozentigen Arbeitsfähigkeit ist nach dem massgeblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360) nicht zu beanstanden. Das kantonale Gericht verzichtete ohne Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes in zulässiger antizipierender Beweiswürdigung (vgl. BGE 137 V 64 E. 5.2 S. 69; 136 I 229 E. 5.3 S. 236) auf weitere medizinische Abklärungen. Die in der Beschwerde geforderte Erhöhung des Abzuges vom Tabellenlohn (mindestens 20 % statt 10 %) kann vom Bundesgericht nur im Hinblick auf Ermessensüberschreitung oder -missbrauch als Formen rechtsfehlerhafter Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399) geprüft werden. Dazu müsste ein entsprechender Mangel gerügt werden, was hier aber zu Recht nicht erfolgt ist. 
 
4. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 23. Januar 2013 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Schmutz