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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_725/2011 
 
Urteil vom 23. Mai 2012 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Nussbaumer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
CSS Kranken-Versicherung AG, 
Recht & Compliance, 
Tribschenstrasse 21, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. August 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
F.________ (geboren 1995) bezieht seit Februar 2003 Leistungen der Invalidenversicherung. Im Juni 2005 liess er eine die Sprachheiltherapie begleitende Psychotherapie beantragen. Mit Verfügung vom 8. August 2005 übernahm die IV-Stelle die Kosten der Psychotherapie für den Zeitraum vom 25. April 2005 bis 31. Juli 2006. Diese Kostengutsprache verlängerte sie in der Folge mehrfach, letztmals mit Verfügung vom 12. August 2010 für den Zeitraum vom 1. September 2010 bis 30. September 2012. 
Seit Juli 2004 wird F.________ auch mit Ritalin behandelt. Die CSS Kranken-Versicherung AG als Krankenversicherer des F.________ stellte sich in den Schreiben vom 2. Dezember und 23. Dezember 2010 auf den Standpunkt, die Abgabe von Ritalin stehe in direktem Zusammenhang mit der durchgeführten Psychotherapie; die medikamentöse Therapie diene zur Unterstützung der Psychotherapie und sei unmittelbar auf die Eingliederung gerichtet. Mit Verfügung vom 10. Januar 2011 lehnte die IV-Stelle die Kostengutsprache für Medikamente im Rahmen der Psychotherapie ab. 
 
B. 
Die hiegegen vom Krankenversicherer erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 24. August 2011 gut und verpflichtete die IV-Stelle ab 1. Januar 2007 die Kosten für das dem Versicherten verschriebene Ritalin zu übernehmen. 
 
C. 
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihre Verfügung vom 10. Januar 2011 zu bestätigen. 
Die CSS Kranken-Versicherung AG schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 134 IV 36 E. 1.4.1 S. 39). Die entsprechende Rüge prüft das Bundesgericht nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert begründet ist. 
 
2. 
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch von Personen vor vollendetem 20. Altersjahr auf medizinische Massnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG, Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG; Art. 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 120 V 279 E. 3a, AHI 2003 S. 104 E. 2, 2000 S. 64 E. 1) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3. 
Streitig ist, ob die IV-Stelle für das dem minderjährigen Versicherten ärztlich verordnete Ritalin leistungspflichtig ist. 
 
3.1 Das kantonale Gericht erwog, es könne als erstellt gelten, dass beim Versicherten eine Problematik gemäss Ziffer 404 des GgV-Anhangs vorliege, also ein POS beziehungsweise AD(H)S bestehe. Dass die Krankheit nicht als Geburtsgebrechen im Sinn von Art. 13 IVG anerkannt worden sei, dürfte im unterbliebenen Antrag bzw. in der nicht rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres gestellten Diagnose und begonnenen Behandlung begründet liegen. Die Indikation zur Einnahme von Ritalin sei nach der Aktenlage bereits seit dem Jahr 2004 gegeben. Die Berichte der behandelnden Medizinalpersonen machten deutlich, dass die Verschreibung des Ritalins Teil des gesamten Behandlungskomplexes in Bezug auf die Krankheit sei. Dies stehe im Einklang mit der Indikation des Medikamentes gemäss dem Arzneimittelkompendium der Schweiz. Demnach sei die Einnahme von Ritalin angezeigt bei hyperkinetischen Verhaltungsstörungen bzw. Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern. Derartige Störungen würden gemäss Kompendium als psycho-organisches Syndrom oder als hyperaktives Syndrom, Konzentrationsschwäche oder auch als minimale Hirndysfunktion bezeichnet. Die Einnahme von Ritalin sei gemäss der Fachinformation des Arzneimittelkompendiums indiziert als Teil eines umfassenden Therapieprogramms, zu dem typischerweise auch psychologische, erzieherische und soziale Behandlungsmassnahmen gehörten, mit dem Ziel, auffälliges Verhalten von Kindern mit folgenden Charakteristika zu stabilisieren: Mässige bis starke Ablenkbarkeit, rasch nachlassende Aufmerksamkeit, Hyperaktivität (nicht immer vorhanden), emotionale Labilität und Impulsivität. Diese Ausführungen zur Indikation ergäben zusammen mit den konkreten medizinischen Stellungnahmen ein konsistentes Bild: Sowohl die Psychotherapie als auch die Ritalin-Einnahme dienten der Behandlung des Krankheitsbildes POS/AD(H)S; sie ergäben zusammen einen sinnvollen Behandlungskomplex. Ob die Verschreibung des Medikaments eine "eigenständige Behandlungsform" sei, sei entgegen der RAD-Ärztin unerheblich. Bei Kindern und Jugendlichen sei entgegen dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 IVG nicht von Belang, ob eine Behandlung des Leidens an sich erfolgt, solange das Eingliederungsziel im Zentrum stehe. Das Ritalin sei im gesamten Behandlungsplan notwendiger Bestandteil und diene durch den damit und mit den Therapien erzielten Erfolg der Eingliederung des Versicherten. Eine Pflicht zur Kostenübernahme sei daher gestützt auf Art. 12 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG zu bejahen. 
 
3.2 Die beschwerdeführende IV-Stelle geht davon aus, dass nach Art. 12 Abs. 1 IVG Leistungen für eine Behandlung des Leidens an sich ausgeschlossen seien. Der Versicherte habe ab dem Jahre 2005 Psychotherapie beantragt, welche auch von der IV übernommen worden sei, weil diese unmittelbar der schulischen und bald beruflichen Integration diene. Aus dem Bericht des Dr. med. L.________ vom 6. Juli 2008 sei zu schliessen, dass das Ritalin als Behandlung des Leidens an sich eingesetzt werde. Einzig das Medikament allein wirke nicht unmittelbar auf die Eingliederung. Auch der Bericht der Psychotherapeutin, Heidi H.________, vom 6. Juni 2010 zeige klar auf, dass die psychotherapeutische Begleitung für die Eingliederung hilfreich sei. Sie halte in ihrem Bericht fest, dass der Versicherte neben der pädagogischen Betreuung unbedingt weiterhin eine psychotherapeutische Begleitung brauche, um ihn in der belastenden Zeit (Thema Berufsfindung war aktuell) optimal zu begleiten und zu unterstützen. Ohne die Psychotherapie sei der Eingliederungserfolg demnach gefährdet gewesen. Indessen hange dieser Erfolg nicht von der Einnahme des Ritalins ab. Sowohl die Behandlungen als auch die Medikamente müssten die Anforderungen von Art. 12 Abs. 1 IVG erfüllen, das heisst sie müssten unmittelbar auf die Eingliederung gerichtet sein. Eine therapeutische Vorkehr, deren Wirkung sich in der Unterdrückung von Symptomen erschöpfe, könne nicht als medizinische Massnahme im Sinne des Art. 12 IVG gelten, selbst wenn sie im Hinblick auf die schulische und erwerbliche Eingliederung unabdingbar sei (Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts vom 9. August 2007, I 32/06, E. 6.1.2). Beim Versicherten werde das Ritalin zur Symptombehandlung eingesetzt. Es diene somit der Behandlung des Leidens an sich und unterdrücke die Symptome. 
 
3.3 Die Krankenkasse macht unter Berufung auf die bisherige Rechtsprechung zur bis Ende Dezember 2007 in Kraft gestandenen Fassung von Art. 12 Abs. 1 IVG geltend, bei Kindern und Jugendlichen seien selbst bei labilem Leidenscharakter bzw. Behandlung des Leidens an sich medizinische Massnahmen durch die IV zu übernehmen, wenn ohne diese eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte. Soweit die Beschwerdeführerin behaupte, der Eingliederungserfolg hänge beim Versicherten nicht von der Einnahme von Ritalin ab, stehe dies in offensichtlichem Widerspruch zu den ärztlichen Feststellungen und den darauf gestützten Erwägungen der Vorinstanz. Die Abgabe von Ritalin und die Psychotherapie würden zusammen einen Behandlungskomplex im Sinne eines multimodalen Behandlungsregimes darstellen. Aus den Akten gehe hervor, dass beim Versicherten weder die Ritalinbehandlung noch die Psychotherapie alleine in Bezug auf die Aufmerksamkeitsstörung, Impulskontrolle und Selbststeuerung helfen würden. Da es sich um einen Behandlungskomplex handle, könnten Behandlung und Medikament nicht separat, sondern nur gemeinsam auf die gesetzlichen Voraussetzungen überprüft werden. Die von der Beschwerdeführerin vorgenommene Trennung in Symptombehandlung und Eingliederungsbehandlung werde dem Fall des Versicherten nicht gerecht, weil eine solche Trennung vorliegend gar nicht möglich sei, ohne das Eingliederungsziel zu gefährden. Die von der IV akzeptierte Psychotherapie könnte ohne gleichzeitige Behandlung mit Ritalin nicht erfolgreich durchgeführt und folglich das Eingliederungsziel mit Psychotherapie alleine beim Versicherten nicht erreicht werden. 
 
3.4 Einen Anspruch auf Übernahme der Behandlung mit Ritalin bei POS/hyperkinetischen Störungen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt abgelehnt (AHI 2003 S. 103; Urteil F. vom 14. Oktober 2003, I 298/03, und B. vom 27. Oktober 2003, I 484/02). Zur Begründung hat es unter Hinweis auf die medizinische Literatur (HANS-CHRISTOPH STEINHAUSEN, Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 4. Aufl., München 2000, S. 89 ff. mit weiteren Hinweisen), welche auch heute noch aktuell ist (Steinhausen, a.a.O., 7. Aufl. München 2010, S. 149; S. 151 f.; vgl. auch CHRISTOPHE C. KAUFMANN, ADHS bei Erwachsenen: eine Herausforderung für die Gesundheitsversorgung, in: Schweizerische Ärztezeitung [SaeZ] 2011 S. 761), festgehalten, der Massnahme komme kein überwiegender Eingliederungscharakter zu, weil sie nicht geeignet sei, den Eintritt eines stabilisierten Zustandes, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbstätigkeit oder beide beeinträchtigt würden, zu verhindern. Es stehe eine Therapie von unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit hinweg in Frage, wobei sich über den damit erreichbaren Erfolg keine zuverlässige Prognose stellen lasse, weil klinisch oder wissenschaftlich sichere Faktoren, welche für individuelle Patienten eine Vorhersage erlauben würden, nicht existierten. An dieser Rechtsprechung (zuletzt bestätigt mit Urteilen I 258/05 vom 10. November 2005 E. 3.2.1; I 464/04 vom 17. Dezember 2004 E. 2.3 und I 318/03 vom 12. Oktober 2004 E. 1 und 3; siehe auch SILVIA BUCHER, Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, S. 159 Rz 247) ist festzuhalten. Die Behandlung mit Ritalin, auch wenn sie zusammen mit Psychotherapie erfolgt, ist stets dann nicht als medizinische Massnahme zu qualifizieren, wenn der Behandlungserfolg unsicher ist und die Massnahme für eine unbestimmte Dauer notwendig sein wird. Beim vorliegend am Recht stehenden Versicherten verhält es sich in diesem Punkt nicht anders. Die Unsicherheit der Prognose ist mithin das Kriterium dafür, ob eine Massnahme gestützt auf Art. 12 IVG übernommen wird, und nicht die Frage, ob die Abgabe von Ritalin eine eigenständige Therapie oder Bestandteil eines Behandlungskonzepts darstellt, zumal im vorliegenden Fall die Behandlung mit Ritalin mehrere Monate vor der Psychotherapie einsetzte. Aus diesem Grund steht bereits im heutigen Zeitpunkt fest, dass die IV-Stelle einen Leistungsanspruch hinsichtlich der Behandlung mit Ritalin aufgrund von Art. 12 IVG zu Recht verneint hat. 
 
4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. August 2011 aufgehoben. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und F.________, Gossau SG, schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 23. Mai 2012 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer