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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_594/2011 
 
Urteil vom 24. Oktober 2011 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiber Ettlin. 
 
Verfahrensbeteiligte 
W.________, 
vertreten durch Fürsprecher Andreas Imobersteg, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 2. August 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Vorbescheid vom 23. September 2010 teilte die IV-Stelle des Kantons Bern dem Rechtsanwalt der 1951 geborenen W.________ mit, es bestehe ab 1. Juni 2009 bis 31. August 2010 Anspruch auf eine befristete ganze Rente der Invalidenversicherung. Hiegegen liess sie Einwände erheben. Am 15. Februar 2011 verfügte die IV-Stelle in Bestätigung des Vorbescheids den befristeten Rentenanspruch. Der Rechtsvertreter ersuchte die Verwaltung am 31. Mai 2011 um Bekanntgabe, wann mit dem Erlass einer Verfügung zu rechnen sei, worauf ihm diese mitteilte, bereits am 15. Februar 2011 verfügt zu haben. Gleichzeitig stellte sie dem Rechtsvertreter eine teilweise Kopie der Verfügung vom 15. Februar 2011 zu. 
 
B. 
Weiterhin vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Imobersteg liess die Versicherte am 6. Juli 2011 (Poststempel) gegen die Verfügung vom 15. Februar 2011 Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern einreichen. Mit Verfügung vom 11. Juli 2011 beschränkte das kantonale Gericht das Verfahren zunächst auf die Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerdeerhebung. Das Verwaltungsgericht trat hienach auf die Beschwerde nicht ein, weil sie verspätet erhoben worden sei (Entscheid vom 2. August 2011). 
 
Vorher ersetzte die IV-Stelle die Verfügung vom 15. Februar 2011 mit jener vom 11. Juli 2011 und eröffnete diese dem Rechtsvertreter der W.________. 
 
C. 
W.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, auf die Beschwerde vom 6. Juli 2011 sei in Aufhebung des angefochtenen Entscheids einzutreten. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, währenddem sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht vernehmen lässt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2. 
2.1 Gemäss Art. 60 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) ist die Beschwerde innerhalb von 30 Tagen nach der Eröffnung des Einspracheentscheides oder der Verfügung, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, einzureichen. Diese Frist kann nicht erstreckt werden (Art. 40 Abs. 1 ATSG). Nach Art. 39 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 2 ATSG ist die 30-tägige Frist nur gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim erstinstanzlichen Versicherungsgericht eingereicht oder zu dessen Handen u.a. der Schweizerischen Post übergeben wird. Läuft die Frist unbenützt ab, so erwächst der Verwaltungsentscheid in (formelle) Rechtskraft mit der Wirkung, dass das erstinstanzliche Gericht auf eine verspätet eingereichte Beschwerde nicht eintreten darf (vgl. BGE 134 V 49 E. 2 S. 51). 
 
2.2 Eine Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen (Art. 37 Abs. 1 ATSG). Im Sozialversicherungsrecht des Bundes gilt der in Art. 37 Abs. 3 ATSG ausdrücklich verankerte Grundsatz, dass der Versicherungsträger seine Mitteilungen an den Vertreter einer Partei zu richten hat, solange diese ihre Vollmacht nicht widerrufen hat. Dieser Grundsatz dient im Interesse der Rechtssicherheit dazu, allfällige Zweifel darüber zum Vornherein zu beseitigen, ob die Mitteilungen an die Partei selber oder an ihre Vertretung zu erfolgen haben, sowie um klarzustellen, welches die für einen Fristenlauf massgebenden Mitteilungen sein sollen (BGE 99 V 177 E. 3 S. 182; SVR 2009 UV Nr. 16 S. 63, 8C_210/2008 E. 3.2 mit Hinweisen). 
 
Aus der mangelhaften Eröffnung einer Verfügung darf der betroffenen Person gemäss Art. 49 Abs. 3 letzter Satz ATSG kein Nachteil erwachsen, was ebenfalls einen bereits vor Inkrafttreten des Allgemeinen Teils im gesamten Bundessozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz darstellt. Nach der Rechtsprechung ist nicht jede mangelhafte Eröffnung schlechthin nichtig mit der Konsequenz, dass die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen beginnen könnte. Aus dem Grundsatz, dass den Parteien aus mangelhafter Eröffnung keine Nachteile erwachsen dürfen, folgt vielmehr, dass dem beabsichtigten Rechtsschutz schon dann Genüge getan wird, wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz ihres Mangels ihren Zweck erreicht. Das bedeutet nichts anderes, als dass nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu prüfen ist, ob die betroffene Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt und dadurch benachteiligt worden ist. Richtschnur für die Beurteilung dieser Frage ist der auch in diesem prozessualen Bereich geltende Grundsatz von Treu und Glauben, an welchem die Berufung auf Formmängel in jedem Fall ihre Grenze findet (BGE 132 I 249 E. 6 S. 253 f.; 122 I 97 E. 3a/aa S. 99; 111 V 149 E. 4c S. 150; SVR 2011 IV Nr. 32 S. 93, 9C_791/2010; ARV 2002 S. 66, C 196/00; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 868/02 vom 21. März 2003 E. 2; YVES DONZALLAZ, La notification en droit interne suisse, 2002, S. 565 f. Rz. 1200). 
 
3. 
3.1 Das vorinstanzliche Gericht erwog, die Versicherte habe sich nach dem Erhalt der Verfügung vom 15. Februar 2011 während Monaten nicht bei ihrem Rechtsvertreter gemeldet, obwohl der Verfügungsinhalt für sie erkennbar nicht günstig gewesen sei. Sie sei weder irregeführt noch benachteiligt worden. Die erst am 6. Juli 2011 eingereichte Beschwerde sei daher verspätet erfolgt. Hiegegen trägt die Beschwerdeführerin vor, sie habe vor kantonalem Gericht dargelegt, die Verfügung vom 15. Februar 2011 nicht erhalten zu haben. Das Verwaltungsgericht sei ohne Begründung davon ausgegangen, ihr sei die mit gewöhnlicher Post versandte Verfügung eröffnet worden. Diese Feststellung sei offensichtlich unrichtig. Vielmehr habe die Beschwerdegegnerin die Zustellung der Verfügung vom 15. Februar 2011 nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Sodann sei die Verfügungseröffnung an den Rechtsvertreter frühestens am 15. Juni 2011 erfolgt. 
 
3.2 Die Vorinstanz traf zur Frage, ob der Beschwerdeführerin die Verfügung vom 15. Februar 2011 eröffnet worden ist, keine Feststellungen, sondern ging stillschweigend davon aus, dies sei der Fall gewesen. Die Versicherte erklärte demgegenüber, die uneingeschrieben versandte Verfügung nie erhalten zu haben. Zudem wies die IV-Stelle vor kantonalem Gericht darauf hin, die Verfügung vom 15. Februar 2011 sei uneingeschrieben verschickt worden, weswegen ein postalisches Nachforschungsbegehren nicht gestellt werden könne. Rechtsprechungsgemäss obliegt der Beweis der Tatsache sowie des Zeitpunktes der Zustellung von Verfügungen der Verwaltung, welche die entsprechende (objektive) Beweislast trägt. Wird die Tatsache oder das Datum der Zustellung uneingeschriebener Sendungen bestritten, muss im Zweifel auf die Darstellung des Empfängers abgestellt werden (BGE 129 I 8 E. 2.2 S. 10; 124 V 400 E. 2a S. 402; 114 III 51 E. 3 S. 52; 103 V 63 E. 2a S. 65). In diesem Lichte hat die Verwaltung - entgegen der offenbaren Auffassung der Vorinstanz - den ihr obliegenden Beweis, dass die uneingeschrieben versandte Verfügung der Versicherten zugestellt worden ist, nicht erbracht, was zu ihren Lasten geht. Die Missachtung dieser Beweisregel durch das kantonale Gericht stellt eine Verletzung von Bundesrecht dar. Da der Beweis der Zustellung der Verfügung an die Versicherte nicht gelungen ist, bedarf es keiner Erörterung, ob im Fall der Zustellung an sie statt an ihren Rechtsvertreter der Berufung auf einen Formmangel Erfolg beschieden wäre (vgl. E. 2.2). 
 
4. 
4.1 Im Schreiben vom 14. Juni 2011 an die IV-Stelle führte der Rechtsvertreter aus, ihm seien letzte Woche zwei der insgesamt sechs Seiten der Rentenverfügung vom 15. Februar 2011 zugestellt worden. Er ersuche um vollständige Verfügungseröffnung. Gemäss unbestritten gebliebener Darstellung in der gegen die Verfügung vom 15. Februar 2011 an das kantonale Gericht erhobenen Beschwerde gab die IV-Stelle dem Rechtsanwalt am 5. Juli 2011 die gesamte Verfügung mittels Fax-Schreiben zur Kenntnis. Die Beschwerde übergab der Rechtsvertreter am 6. Juli 2011 der Schweizerischen Post, wobei er erklärte, die (unvollständige) Verfügung am 10. Juni 2011 erhalten zu haben. Die Verwaltung vertrat vor kantonalem Gericht die Auffassung, aufgrund der Aktenlage könne davon ausgegangen werden, dass der Rechtsvertreter am 9. Juni 2011 im Besitz der Verfügung gewesen sei. Selbst wenn es sich so verhielte, ist die 30-tägige Beschwerdefrist eingehalten. Diesfalls endete diese am 11. Juli 2011 (Art. 38 Abs. 1 und Abs. 3 ATSG). 
 
4.2 Die Verfügung vom 11. Juli 2011, welche jene vom 15. Februar 2011 mit gleichem Inhalt ersetzt, ändert daran nichts. Denn die Verwaltung durfte die Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin durch den Erlass einer neuen Verfügung nicht beeinträchtigen (BGE 127 V 228 E. 2b/bb S. 233 f.; Urteil 8C_741/2009 vom 11. Mai 2009 E. 4.2.3, in: Anwaltsrevue 2010 S. 376). Dass gegen die Verfügung vom 11. Juli 2011 kein Rechtsmittel ergriffen worden ist, schadet der Versicherten mithin nicht. 
Die Vorinstanz wird über die fristgerecht erhobene Beschwerde, sofern auch die anderen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, materiell zu befinden haben. 
 
5. 
Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdegegnerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 2. August 2011 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 15. Februar 2011 entscheide. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 24. Oktober 2011 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Meyer 
 
Der Gerichtsschreiber: Ettlin