Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_166/2012 
 
Urteil vom 26. Juli 2012 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Maillard, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
V.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Denise Wüst, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Rechtsabteilung, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Berufskrankheit), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 5. Januar 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1975 geborene V.________ war als Anlage-/Maschinenführer bei der X.________ AG bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 3. September 2009 meldete die Arbeitgeberin der SUVA, V.________ beklage sich seit rund sechs Monaten über ein beidseitiges Pfeifen in den Ohren. Die SUVA klärte die Verhältnisse ab und liess zu diesem Zweck namentlich die berufliche Lärmbelastung durch ihren Bereich Physik, Team Akustik, technisch beurteilen, woraus sich eine Lärmbelastung LEX während der gesamten Berufstätigkeit von 19 Jahren unter 85 dB(A) ergab (Berichte vom 12. Oktober 2009 und 12. April 2010). Zudem holte sie beim SUVA-Arzt Dr. med. M.________, Facharzt FMH für Ohren, Nasen- und Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie sowie Arbeitsmedizin, Beurteilungen (vom 14. Dezember 2009 und 16. April 2010) ein. Gestützt hierauf verneinte die SUVA mit Verfügung vom 26. April 2010 einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, da eine Berufslärmschwerhörigkeit aufgrund des gemessenen Lärmexpositionspegels auszuschliessen sei. Auf Einsprache hin nahm das Team Akustik eine erneute Messung der Lärmexposition hinsichtlich einer von V.________ bedienten Maschine (Extruderline K030 und K031 mit Abblasdüse offen und gekapselt sowie max. Druck) vor (Bericht vom 23. März 2011). Das Messergebnis legte sie Dr. med. P.________, Facharzt FMH für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie zur internen ärztlichen Beurteilung (vom 24. März 2011) vor. Auf dieser Grundlage hielt sie mit Einspracheentscheid vom 3. Mai 2011 daran fest, dass die geklagten Ohrenbeschwerden weder ausschliesslich noch vorwiegend durch die berufliche Tätigkeit von V.________ verursacht worden seien. 
 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 5. Januar 2012 ab. 
 
C. 
V.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache an die SUVA, eventuell an die Vorinstanz, zurückzuweisen, damit diese nach ergänzender Abklärung, insbesondere nach Wahrung des rechtlichen Gehörs, nach wiederholter Lärmmessung und weiteren Beweisabnahmen über die Leistungspflicht neu entscheide. Eventualiter seien ihm spätestens ab 17. Juni 2009 die gesetzlichen Leistungen (insbesondere Beratung des Betriebs im Sinne des betrieblichen Gesundheitsmanagements, Heilbehandlung und Integritätsentschädigung) zuzusprechen. 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Mit Eingabe vom 3. Juli 2012 lässt sich V.________ erneut vernehmen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). 
 
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2. 
Die Vorinstanz hat die Rechtsgrundlagen für die Leistungspflicht des Unfallversicherers im Zusammenhang mit Berufskrankheiten (Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 UVG und Art. 14 UVV sowie Anhang 1 zur UVV), namentlich zur arbeitsbedingten Erkrankung im Sinne einer erheblichen Schädigung des Gehörs durch Arbeiten im Lärm (Art. 14 UVV in Verbindung mit Ziff. 2 lit. a des Anhangs 1 zur UVV; Urteile U 362/05 vom 6. März 2006 E. 2.1 und U 245/05 vom 1. Dezember 2005 E. 3.2, in: RKUV 2006 Nr. U 578 S. 170) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3. 
Streitig und zu prüfen ist, ob der diagnostizierte beidseitige Tinnitus mit leichter Hochtonsenke ausschliesslich oder vorwiegend auf die Tätigkeit bei der X.________ AG im Sinne einer Berufskrankheit zurückzuführen ist. 
 
3.1 Der Beschwerdeführer rügt in formeller Hinsicht letztinstanzlich erneut, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, da weder er noch seine Rechtsvertretung an der am Arbeitsplatz durchgeführten Lärmmessung vom 22. März 2011 habe teilnehmen können. Er sei lediglich nach der Messung an seinem neuen Arbeitsplatz überrascht und dazu geholt worden und habe sich nur kurz in Anwesenheit seiner Vorgesetzten zur Messung äussern können. Der Arbeitshygieniker der SUVA (S.________) habe nicht bloss technische Messungen durchgeführt, sondern er habe sich auch ein Bild von der ehemaligen Arbeitssituation des Versicherten gemacht, um gestützt hierauf über die Art der Messung, sowie über die umstrittene Expositionsdauer (von 20 % der gesamten Arbeitsdauer) im Nahbereich der Abblasdüsen entschieden. 
 
3.2 Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, dass die Messung der Lärmbelastung am früheren Arbeitsplatz des Beschwerdeführers am 22. März 2011 aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden sei. Der Umstand, dass anlässlich dieser Messung der Sicherheitsbeauftragte, der Produktions- sowie der Teamleiter der Arbeitgeberin anwesend gewesen seien, spreche grundsätzlich für eine regelrechte Durchführung derselben; die Abwesenheit des Beschwerdeführers könne die Lärmmessung nicht von vornherein in Frage stellen. Weiter führte das Gericht aus, die Schallmessung vor Ort umfasse zwar Komponenten des Augenscheins, sei jedoch durch einen sachverständigen Arbeitshygieniker durchgeführt worden, was einem Anspruch auf Teilnahme an der Messung entgegenstehe. Es sei dem Beschwerdeführer zumindest die Gelegenheit eingeräumt worden, sich zum Beweisergebnis zu äussern. Es habe nach der Messung ein Gespräch mit S.________ stattgefunden und der Beschwerdeführer bringe nicht vor, dass er zu wenig Zeit gehabt hätte, um sich zu den Messbedingungen zu äussern, weshalb in Bezug auf die durchgeführte Lärmmessung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliege. 
 
3.3 In tatbeständlicher Hinsicht besteht Einigkeit zwischen den Parteien, dass der Versicherte an der eigentlichen Messung nicht anwesend war. Wie S.________ in seiner Stellungnahme vom 6. Juli 2011 einräumt, wurde der Beschwerdeführer lediglich später hinzugeholt, wobei er ihm die Messung mit und ohne Schallschutzhaube vorgeführt und erklärt habe, wie die Lärmbeurteilung vorgenommen worden sei; man habe sich auf die maximale Lärmexpositionsdauer vor der Abblasdüse auf 20 % der gesamten Arbeitszeit geeinigt, da das Abblasen nur bei der Produktion der Ader MA14 vorkomme. An der vom Versicherten als Maschinenführer bedienten Extruderlinie K032 würden hingegen auch andere Arbeitsvorgänge ausgeführt und dies sei kein ständiger Arbeitsplatz. 
3.4 
3.4.1 Vorliegend geht es um das Mitwirkungsrecht des Versicherten bei der Sachverhaltsabklärung im Zusammenhang mit der Durchführung eines Augenscheins, wobei mit dieser Beweisabnahme unstreitig ein rechtserheblicher Sachverhalt abzuklären war. Die von der SUVA vernehmlassungsweise angerufene Rechtsprechung (BGE 132 V 443 und 119 Ia 260) bezieht sich dementgegen auf den Anspruch auf Verbeiständung bei einer medizinischen Begutachtung und ist daher nicht einschlägig. 
3.4.2 Wie das Bundesgericht in BGE 121 V 150 E. 4a und 4b S. 152 f. ausgeführt hat, darf ein Augenschein nur dann unter Ausschluss einer Partei erfolgen, wenn schützenswerte Interessen Dritter oder des Staates oder eine besondere Dringlichkeit dies gebieten, oder wenn der Augenschein seinen Zweck überhaupt nur dann erfüllen kann, wenn er unangemeldet erfolgt. Der Einsatz technischer Messgeräte ändert - entgegen den Darlegungen der Vorinstanz - an diesem Teilnahmerecht nichts. Gründe, die den Ausschluss des Beschwerdeführers rechtfertigen würden, liegen nicht vor und werden auch nicht geltend gemacht, wobei nicht von einem stillschweigenden Einverständnis des Beschwerdeführers mit seinem Ausschluss von der eigentlichen Beweisabnahme auszugehen ist. Der Versicherte konnte nicht unmittelbar vor Ort an der eigentlichen Beweiserhebung in Anwesenheit des Arbeitshygienikers und der Vorgesetzten teilnehmen, womit ihm die Mitwirkungsrechte an der Ermittlung feststellungsbedürftiger Tatsachen verwehrt wurden, was seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Die nachträgliche Äusserungsmöglichkeit hiezu, auch wenn sie direkt im Anschluss an die Beweisabnahme erfolgte und dem Versicherten erklärt wurde, wie die Messung vorgenommen worden ist, kann auch in diesem Fall die unmittelbare Teilnahme am Augenschein nicht ersetzen, weshalb eine ausnahmsweise Heilung des Verfahrensmangels entfällt (BGE 121 V 150 E. 6 S. 155 f.). 
Ungeachtet der materiellrechtlichen Frage, ob der Beschwerdeführer durch Arbeiten an seinem früheren Arbeitsplatz eine erhebliche Schädigung des Gehörs erlitten hat, für welche die SUVA leistungspflichtig ist, führt die Verletzung des rechtlichen Gehörs zur Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids. Die Sache ist daher an die SUVA zurückzuweisen, damit sie unter Gewährung der Mitwirkungsrechte des Beschwerdeführers die Lärmmessung nochmals durchführt, wobei diese angesichts der bereits mehrfach wiederholten Messung vor Ort durch das Team Akustik der SUVA durch einen externen Sachverständigen vorzunehmen ist. 
 
4. 
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem obsiegenden Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. Januar 2012 und der Einspracheentscheid der SUVA vom 3. Mai 2011 werden aufgehoben. Es wird die Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Leistungsanspruch des Beschwerdeführers neu verfüge. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 26. Juli 2012 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Ursprung 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla