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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.195/2006 /zga 
 
Urteil vom 27. Juni 2006 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb, 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt 
Marco Uffer, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, 
Hermann Götzstr. 24, Postfach, 8401 Winterthur, 
Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Postfach, 8023 Zürich. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren, 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss 
des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 9. Februar 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wurde das gegen ihn gefällte Strafurteil der II. Abteilung des Bezirksgerichts Bülach am 30. August 2005 mündlich eröffnet und im Dispositiv übergeben. Mit Eingabe vom 5. September 2005 an das Bezirksgericht meldete der Angeklagte rechtzeitig Berufung an. Das begründete Urteil wurde dem Angeklagten am 5. Dezember 2005 zugestellt. Dieser brachte in der Folge keine Beanstandungen an. 
 
Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich beschloss am 9. Februar 2006, auf die Berufung nicht einzutreten. Als Begründung führte es aus: Nach § 414 des Gesetzes betreffend den Strafprozess des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; Fassung vom 27. Januar 2003) sei die Berufung innert zehn Tagen ab Eröffnung des Urteilsdispositivs beim erstinstanzlichen Gericht anzumelden (Abs. 1), und binnen zwanzig Tagen nach Zustellung des begründeten Entscheids seien schriftlich Beanstandungen zu benennen (Abs. 4). Die Benennung von Beanstandungen sei Gültigkeitsvoraussetzung, ohne die auf eine Berufung nicht eingetreten werde. Die Möglichkeit der Einschränkung der Berufung sei von der obligatorischen Beanstandungspflicht klar zu unterscheiden. Bei der Einschränkung der Berufung gehe es um die Beschränkung des Rechtsmittels auf einzelne Teile des Entscheids, während die Beanstandungspflicht die Pflicht zur Auseinandersetzung mit den Urteilserwägungen der Vorinstanz betreffe. Vorliegend habe das begründete Urteil des Bezirksgerichts eine ausführliche Rechtsmittelbelehrung enthalten. Dennoch habe der Beschwerdeführer keine Beanstandungen vorgebracht. Eine Nachfrist gemäss § 419 Abs. 3 StPO/ZH müsste nur bei unklaren, nicht aber bei fehlenden Beanstandungen angesetzt werden. Es sei daher androhungsgemäss auf die Berufung nicht einzutreten. 
B. 
Mit Eingabe vom 30. März 2006 hat X.________ gegen den Beschluss des Obergerichts vom 9. Februar 2006 staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt dessen Aufhebung und ersucht um aufschiebende Wirkung der Beschwerde sowie um unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht. 
C. 
Das Obergericht beantragt Beschwerdeabweisung, verzichtet aber auf Stellungnahme zu den prozessualen Anträgen. Der leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland lässt sich vernehmen, ohne ausdrücklich einen Antrag zu stellen. Der Beschwerdeführer hat nicht repliziert. 
D. 
Mit Verfügung vom 24. April 2006 hat der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der staatsrechtlichen Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer rügt Willkür in der Auslegung und Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts (Art. 9 BV) und überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV). In der revidierten Zürcher Strafprozessordnung sei nicht geregelt, welche Rechtsfolgen an das Fehlen von Beanstandungen geknüpft sind. Die Auffassung des Obergerichts, dass in einem solchen Fall auf die Berufung nicht eingetreten werde, finde keine Stütze im Gesetz. Richtigerweise handle es sich bei § 414 Abs. 4 StPO/ZH über das rechtzeitige Vorbringen von Beanstandungen um eine blosse Ordnungsvorschrift. Bei fehlenden Beanstandungen müsse daher eine Nachfrist unter Androhung der Säumnisfolgen angesetzt werden. Indem das Obergericht § 419 Abs. 3 StPO/ZH aber dahingehend auslege, eine Nachfrist müsse nur bei unklaren, nicht bei fehlenden Beanstandungen angesetzt werden, verletze es klares Recht und verfalle in überspitzten Formalismus. 
1.2 Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und damit dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183 f. mit Hinweisen). Ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt, prüft das Bundesgericht frei (BGE 128 II 139 E. 2a S. 142 mit Hinweisen). Die Auslegung und Anwendung des einschlägigen kantonalen Rechts untersucht es indessen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 131 I 217 E. 2.1 S. 219, 350 E. 2 S. 352, 467 E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen). Die gleichzeitig erhobene Rüge der Verletzung des Willkürverbots hat in diesem Zusammenhang keine selbständige Bedeutung. 
1.3 Das Verbot des überspitzten Formalismus weist einen engen Bezug zum Grundsatz von Treu und Glauben auf: Das Bundesgericht hat mehrfach entschieden, dass dem Rechtsuchenden aus unklaren oder widersprüchlichen Rechtsmittelbestimmungen kein Nachteil erwachsen darf. Das gilt nicht nur im Fall unrichtiger oder missverständlicher Rechtsmittelbelehrungen einer Behörde, sondern auch, wenn die gesetzliche Ordnung selbst unklar oder zweideutig ist (vgl. BGE 123 II 231 E. 8b S. 238 mit Hinweisen). Dieser Grundsatz ist namentlich auf Rechtsmittelbelehrungen anwendbar, die aufgrund ihrer Formulierung oder optischen Darstellung insofern missverständlich sind, als ihnen eine andere Aussage entnommen werden kann als von der Behörde beabsichtigt war (Urteil 2A.380/2002 vom 19. Februar 2003, E. 2.2, in: StR 58/2003 S. 384). Vertrauensschutz verdient dabei nur der Rechtsuchende, der den Mangel nicht allein durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmungen hätte erkennen können. Hingegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch Rechtsprechung oder Literatur nachzuschlagen wäre (vgl. BGE 127 II 198 E. 2c S. 205; 124 I 255 E. 1a/aa S. 258, je mit Hinweisen). 
1.4 § 414 Abs. 4 StPO/ZH bestimmt, dass der Berufungskläger innert 20 Tagen nach Zustellung des begründeten Entscheids schriftlich seine Beanstandungen zu benennen hat. Das Obergericht legt diese Vorschrift dahingehend aus, dass der Zürcher Gesetzgeber mittels § 414 Abs. 4 StPO/ZH ein Gültigkeitserfordernis für alle Berufungserklärungen aufstellen wollte. Im Urteil 1P.850/2005 vom 8. Mai 2006 entschied das Bundesgericht gestützt auf die Entstehungsgeschichte, den systematischen Zusammenhang und den Zweck von § 414 Abs. 4 StPO/ZH, dass diese Auslegung der Vorschrift vor dem Willkürverbot und dem Verbot des überspitzten Formalismus standhält (E. 5). Auch der Rechtsstandpunkt des Obergerichts, dass § 419 Abs. 3 StPO/ZH über die Ansetzung einer Nachfrist zur Ergänzung der Berufung nur bei unklaren Beanstandungen zum Tragen kommt, bei fehlenden Beanstandungen auf die Berufung aber nicht eingetreten wird, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Urteil 1P.850/2005, E. 5.4). 
1.5 Unter Abstützung auf den Grundsatz, dass dem Rechtsuchenden aus unklaren oder widersprüchlichen Rechtsmittelbestimmungen kein Nachteil erwachsen darf, hielt das Bundesgericht im erwähnten Urteil 1P.850/2005 fest, dass in den Rechtsmittelbelehrungen der Entscheide der Zürcher Gerichte, die der Berufung unterliegen, auf das Gültigkeitserfordernis der Benennung von Beanstandungen hinzuweisen und die Säumnisfolge des Nichteintretens anzudrohen ist (E. 6.4). 
 
Im vorliegenden Fall weist die Rechtsmittelbelehrung des bezirksgerichtlichen Urteils vom 30. August 2005 ausdrücklich darauf hin, dass der Berufungskläger binnen 10 Tagen seit Eröffnung des Urteilsdispositivs beim Bezirksgericht Berufung anzumelden hat (Satz 1), die Berufung auf einzelne Urteilspunkte beschränkt werden kann (Satz 2) und binnen 20 Tagen nach Zustellung des begründeten Entscheids dem Bezirksgericht schriftlich Beanstandungen mitzuteilen sind (Satz 3). Daran anschliessend enthält die Rechtsmittelbelehrung die Androhung der Säumnisfolge des Nichteintretens auf die Berufung (Satz 4). 
 
Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, die Rechtsmittelbelehrung sei unklar, weil daraus nicht hervorgehe, was unter einer gültigen Beanstandung im Sinn von § 414 Abs. 4 StPO/ZH zu verstehen sei. Er beanstandet lediglich, dass die Rechtsmittelbelehrung des bezirksgerichtlichen Urteils keinen Hinweis darauf enthält, dass die Benennung von Beanstandungen Gültigkeitserfordernis der Berufung ist und das Obergericht ohne Ansetzen einer Frist zur Nachreichung der Beanstandungen auf die Berufung nicht eingetreten ist. Vorliegend trifft zu, dass die Rechtsmittelbelehrung zwar nicht den ausdrücklichen Satz enthält, dass die Benennung von Beanstandungen als Gültigkeitserfordernis der Berufung zu verstehen ist. Wie oben erwähnt, enthält die Rechtsmittelbelehrung aber eine ausdrückliche Androhung der Säumnisfolge des Nichteintretens. In diesem Punkt unterscheidet sich die vorliegende Sach- und Rechtslage von derjenigen im Bundesgerichtsurteil 1P.850/2005 (vgl. E. 2.2). Aus der bezirksgerichtlichen Rechtsmittelbelehrung geht somit klar hervor, dass die Berufungserklärung für sich allein nicht genügt, sondern dass auch Beanstandungen anzubringen sind, damit auf die Berufung eingetreten wird. Aus verfassungsrechtlicher Sicht war das Obergericht daher nicht gehalten, dem Beschwerdeführer eine Frist zur Nachholung der versäumten Beanstandungen anzusetzen. Die Rüge der Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus geht somit ins Leere. 
2. 
Nach dem Gesagten erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet und ist daher abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. Die Voraussetzungen hierzu sind erfüllt (vgl. Art. 152 OG). Namentlich erschien die am 30. März 2006 erhobene Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos, da der Bundesgerichtsentscheid 1P.850/2005 betreffend die Auslegung der revidierten Zürcher Strafprozessordnung am 8. Mai 2006, somit nach Beschwerdeeinreichung erging, und auch die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist gemäss den Akten ausgewiesen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Marco Uffer wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 27. Juni 2006 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: