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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.465/2003 /sta 
 
Urteil vom 27. August 2003 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud, 
Gerichtsschreiber Steiner. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, Ilgenstrasse 22, Am Römerhof, Postfach 218, 8030 Zürich, 
 
gegen 
 
Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro A-4, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026 Zürich, 
Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Uster als Haftrichter, Gerichtsstrasse 17, 8610 Uster. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung; Verlängerung der Untersuchungshaft, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirkes Uster als Haftrichter vom 17. Juli 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am Morgen des 21. Februar 2003 verletzte X.________ den damaligen Freund seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau, Y.________, mit mehreren Messerstichen. Er machte bereits anlässlich der ersten Einvernahme geltend, in Notwehr gehandelt zu haben; Y.________ habe ihn am Hals ergriffen und zu würgen versucht. Das Opfer gibt dazu an, X.________ sei mit gezogenem Messer auf ihn zugekommen bzw. habe ihn zuerst angegriffen. 
B. 
Noch am 21. Februar 2003 konnte X.________ verhaftet werden; der Angeschuldigte wurde umgehend in Untersuchungshaft versetzt. 
Mit Schreiben vom 12. Mai 2003 gelangte Dr. Markus Raess, der Verteidiger des Inhaftierten, an die Bezirksanwaltschaft V mit dem Begehren, die Hafterstehungsfähigkeit des Angeschuldigten sei zu prüfen; dieser habe bereits zwei Suizidversuche unternommen. 
 
Am 21. Mai 2003 entsprach der Einzelrichter des Bezirkes Uster als Haftrichter dem Antrag der Bezirksanwaltschaft V vom 15. Mai 2003 auf Fortsetzung der Untersuchungshaft. 
C. 
Mit Gesuch vom 30. Juni 2003 verlangte X.________ seine Entlassung. Fluchtgefahr sei nicht anzunehmen. Er sei mit einer Schweizerin verheiratet und habe mit ihr zusammen ein gemeinsames Kleinkind, an dem er sehr hänge. Die Beziehung zu seiner Familie sei intakt und seine Frau besuche ihn regelmässig im Gefängnis. Die Bezirksanwaltschaft V beantragte die Abweisung des Haftentlassungsgesuches. Der Angeschuldigte lebe erst seit rund einem Jahr in der Schweiz. Zuvor habe er sich in seiner Heimat Brasilien aufgehalten, wo seine Mutter und sein Bruder leben. Lediglich ein halbes Jahr nach der Eheschliessung sei bereits die gerichtliche Trennung erfolgt. Diese habe ihren Ursprung in einer Fremdbeziehung der Ehefrau, welche wiederum Anlass gewesen sei für die dem Angeschuldigten vorgeworfenen Messerstiche. Daraus ergebe sich, dass dessen Bindung zur Schweiz minimal sei. Ob zugunsten des Angeschuldigten strafmildernde Umstände zu berücksichtigen seien, werde sich erst aus dem noch nicht erstatteten psychiatrischen Gutachten ergeben. 
Am 3. Juli 2003 wies der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Uster das Haftentlassungsgesuch des Angeschuldigten ab. Er erwog, Kollusionsgefahr sei nicht mehr gegeben, weil alle Tatzeugen bereits einvernommen worden seien. Demgegenüber sei die Fluchtgefahr zu bejahen. Der Angeschuldigte könnte versucht sein, sich der unter Umständen zu erwartenden Strafe zu entziehen. Dies insbesondere, weil der Angeschuldigte nur eine schwache Bindung zur Schweiz aufweise, von seiner Frau gerichtlich getrennt sei und seine Verwandtschaft in Brasilien lebe. 
D. 
Mit Eingabe vom 14. Juli 2003 stellte der Angeschuldigte ein zweites Haftentlassungsgesuch. Inzwischen liege das psychiatrische Gutachten vor. Bei dieser Ausgangslage sei es höchstens noch vertretbar, dem theoretisch nie ganz auszuschliessenden Fluchtrisiko mit der Anordnung einer Pass- und Schriftensperre zu begegnen. Die Bezirksanwaltschaft beantragte gleichentags die Verlängerung der Untersuchungshaft um drei Monate. Der Geschädigte müsse nochmals einvernommen werden, woraus sich ein gewisses Kollusionsrisiko ergebe. Ausserdem sei der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben. 
Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Uster wies mit Entscheid vom 17. Juli 2003 einerseits das Haftentlassungsgesuch ab, entsprach aber auch dem Verlängerungsantrag nicht vollumfänglich, sondern befristete die Untersuchungshaft bis am 30. September 2003. Kollusionsgefahr sei nicht mehr gegeben, wohl aber Fluchtgefahr. Die Bezirksanwaltschaft habe die notwendigen Untersuchungen beförderlich durchzuführen und abzuschliessen. 
E. 
Am 8. August 2003 erhebt X.________ staatsrechtliche Beschwerde mit dem Begehren, er sei sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung. 
Mit Vernehmlassung vom 14. August 2003 schliesst die Bezirksanwaltschaft V auf Abweisung der Beschwerde. Demgegenüber hat der Haftrichter auf eine Stellungnahme verzichtet. Mit Replik vom 20. August 2003 hält der Beschwerdeführer an seinen Anträgen fest. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer ficht eine auf § 58 Abs. 1 Ziff. 1 des Zürcher Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO ZH; LS 321) gestützte Verfügung an und verlangt nebst deren Aufhebung die unverzügliche Entlassung aus der Untersuchungshaft. Obwohl die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich kassatorischer Natur ist, ist im Rahmen der Beschwerde wegen Verletzung der persönlichen Freiheit das Begehren zulässig, die kantonalen Behörden seien anzuweisen, den Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen (BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 333; 115 Ia 293 E. 1a S. 297). Auf die gegen einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid erhobene und im Übrigen frist- und formgerechte Beschwerde ist daher auch insoweit einzutreten. 
2. 
2.1 Mit der Anordnung der Untersuchungshaft wurde die in Art. 10 Abs. 2 BV garantierte persönliche Freiheit des Beschwerdeführers eingeschränkt. Ein Eingriff in dieses Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf er den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV; BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 127 I 6 E. 6 S. 18; 126 I 112 E. 3a S. 115, je mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung muss nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV im Gesetz selbst vorgesehen sein (vgl. auch Art. 31 Abs. 1 BV). 
2.2 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung oder Fortdauer der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). 
3. 
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht den hinreichenden Tatverdacht in Bezug auf die ihm vorgeworfenen Messerstiche, wohl aber das Vorliegen der Fluchtgefahr. In diesem Zusammenhang wirft er dem Haftrichter vor, den massgeblichen Sachverhalt willkürlich festgestellt zu haben. 
3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird für die Annahme der Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit gefordert, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt für sich allein jedoch nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die gesamten Verhältnisse des Angeschuldigten in Betracht gezogen und konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70; 108 Ia 64 E. 3 S. 67). 
Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 128 II 259 E. 5 S. 280 f.; 127 I 60 E. 5a S. 70, je mit Hinweisen). Willkür in der Tatsachenfeststellung ist nicht nur gegeben, wenn entscheiderhebliche tatsächliche Feststellungen offensichtlich falsch sind. Ebenso unhaltbar ist es, wenn eine Behörde Sachverhaltselementen Rechnung trägt, die keinerlei Bedeutung haben, oder entscheidende Tatsachen ausser Acht lässt (BGE 100 Ia 305 E. 3b S. 307). 
3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Feststellung des Haftrichters, wonach seine Verwandtschaft in Brasilien lebe, sei nicht haltbar. Seine älteste Schwester A.Z.________ lebe seit längerer Zeit in der Schweiz, genauer - wie auch seine Ehefrau - in Dübendorf. Diese Schwester stelle für ihn eine äusserst wichtige Bezugsperson dar. So habe es auf der Hand gelegen, dass er jeweils bei ihr Unterschlupf gefunden habe, wenn es "in seiner Ehe nicht harmoniert" habe. Richtig sei, dass seine Mutter wie auch sein jüngerer Bruder in Brasilien leben; der Vater sei bereits verstorben. 
3.3 Der Beschwerdeführer hat bereits anlässlich der Einvernahme zur Person vom 18. März 2003 angegeben, eine Schwester - sie heisse A.Z.________ - wohne in Dübendorf und sei Hausfrau. Gegenüber dem Gutachter hat er ergänzend ausgeführt, sie sei mit B.Z.________ verheiratet. Sie habe zwei Kinder im Alter von 14 und vier Jahren. Auf Einladung seiner Schwester hin sei er zum ersten Mal in die Schweiz gekommen; sie sei auch seine Trauzeugin gewesen. Auf die ehelichen Auseinandersetzungen angesprochen hat der Beschuldigte angegeben, er sei zu seiner Schwester gegangen, nachdem ihm seine Frau ihre Wohnung verboten habe. Zwischen Neujahr und Februar 2003 habe er seine Tochter zwei Samstage zu A.Z.________ in deren Wohnung genommen. Nachdem er die ersten Hinweise auf ein Verhältnis seiner Frau mit dem späteren Opfer erhalten habe, sei seine Schwester die einzige Person gewesen, mit der er sich habe aussprechen können. B.Z.________, der Schwager des Beschwerdeführers, hat dessen Aussagen auf Frage des Gutachters dahingehend bestätigt, dass dieser immer wieder, insgesamt sicher ein Jahr lang, bei ihnen gewohnt habe. Zu diesen Angaben hat die Bezirksanwaltschaft V nicht Stellung genommen. 
3.4 Nach dem Gesagten erweist sich die Sachverhaltsfeststellung des Haftrichters, die Verwandtschaft des Angeschuldigten lebe in Brasilien, als unhaltbar. Dies könnte ohne Folgen bleiben, wenn die getroffene Feststellung für das Haftprüfungsverfahren unerheblich wäre. So verhält es sich hier aber nicht. Nachdem der Haftrichter die Kollusionsgefahr im Gegensatz zu früheren Verfügungen ausdrücklich verneint hatte, blieb einzig die Fluchtgefahr als Entscheidthema. Dabei ist der Haftprüfungsentscheid in jedem einzelnen Fall aufgrund der Würdigung der gesamten Umstände des konkreten Falles zu treffen (E. 3.1 hiervor; Robert Hauser/Erhard Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5.Auflage, Basel 2002, §68 Rz.12). Als konkretes Indiz für Fluchtgefahr ist dabei zu bewerten, wenn der Inhaftierte in der Schweiz weder verwandtschaftliche noch enge freundschaftliche Bindungen hat (Andreas Donatsch, in: Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 1996 ff., § 58 Rz. 33). Im Umkehrschluss sind wichtige Bezugspersonen in der Schweiz zugunsten des Angeschuldigten zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Schwester des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall. 
4. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführer mit seiner Rüge, der angefochtene Entscheid stütze sich auf eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung, durchdringt. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, bei einer derartigen Ausgangslage die erneute Gesamtwürdigung der Umstände anstelle des Haftrichters vorzunehmen. Dies umso weniger, als die Begründung des angefochtenen Entscheids auch in Bezug auf die Frage nach Ersatzmassnahmen wie die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Schriftensperre zu wenig differenziert ist. Der pauschale Hinweis, angesichts der heutigen grossen Freizügigkeit im Grenzverkehr vermöge eine Pass- und Schriftensperre die Fluchtgefahr regelmässig nicht hinreichend auszuschliessen, genügt den Anforderungen des Verfassungsrechts - jedenfalls im vorliegenden Fall angesichts der Dauer der Untersuchungshaft im Verhältnis zur zu erwartenden Sanktion - nicht (Donatsch, a.a.O., § 72 N. 26). Damit wird der Einzelrichter des Bezirksgerichts Uster den Fall mit der gebotenen Dringlichkeit neu zu beurteilen haben. Bei dieser Ausgangslage kann aber auch dem Ersuchen des Beschwerdeführers um sofortige Haftentlassung nicht entsprochen werden. 
5. 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Zürich hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159 OG). Damit erweist sich der Antrag betreffend unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
1.1 Die staatsrechtliche Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und die Verfügung des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirkes Uster (als Haftrichter) vom 17. Juli 2003 aufgehoben. 
1.2 Das Haftentlassungsbegehren wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Zürich hat Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, Zürich, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro A-4, sowie dem Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Uster (als Haftrichter) schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 27. August 2003 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: