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[AZA 7] 
U 212/00 Vr 
 
I. Kammer 
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Ackermann 
 
Urteil vom 27. November 2001 
 
in Sachen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
W.________, 1970, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern, 
und 
 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern 
 
A.- W.________, geboren 1970, war als Arbeitslose bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unfallversichert. Am 12. März 1996 fuhr ein Autofahrer von hinten auf ihren stehenden Wagen auf; der am gleichen Tag aufgesuchte Hausarzt Dr. med. M.________ diagnostizierte ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) und eine Rückenmyalgie. Die SUVA zog mehrere Arztberichte bei, veranlasste vom 8. Juli bis 1. August 1996 einen Aufenthalt in der Klinik X.________ und eine neuropsychologische Untersuchung bei lic. phil. H.________, Neuropsychologisches Institut. Weiter wurde W.________ mehrmals von SUVA-Ärzten untersucht und ein unfallanalytisches Gutachten des Haftpflichtversicherers vom 5. Januar 1998 beigezogen, desgleichen ein Bericht der Klinik Y.________ vom 7. Oktober 1995, da sich W.________ 1990 und 1995 dort wegen psychischer Probleme aufgehalten hatte. Mit Verfügung vom 3. April 1998 lehnte die SUVA Taggeld- und Rentenleistungen ab, da W.________ in ihrer gelernten Tätigkeit als Telephonistin wieder vollständig arbeitsfähig sei. In der gleichen Verfügung wurde ihr eine Integritätsentschädigung für eine Integritätseinbusse von 17,5 % zugesprochen. Mit Einspracheentscheid vom 22. Januar 1999 bestätigte die SUVA ihre Verfügung von April 1998. 
Mit Verfügung vom 15. September 1999 sprach die IV-Stelle Luzern W.________ mit Wirkung ab 1. Juni 1998 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu, nachdem sie die Akten der SUVA und ein psychiatrisches Gutachten des Dr. med. K.________, Chefarzt am Psychiatriezentrum des Spitals Z.________, vom 9. April 1999 eingeholt hatte. 
 
B.- Die von W.________ gegen den Einspracheentscheid der SUVA erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 30. März 2000 in dem Sinne gut, dass der Einspracheentscheid aufgehoben und die Sache an die SUVA zurückgewiesen wurde, damit sie nach einer psychiatrischen Abklärung betreffend der von Dr. med. K.________ vermuteten Hirnverletzung neu verfüge. 
 
C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei der Einspracheentscheid vom 22. Januar 1999 zu bestätigen. 
W.________ lässt nach Fristablauf eine Vernehmlassung und ein Gesuch um Wiederherstellung der Frist einreichen, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Stellungnahme verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Die Versicherte stellt ein Gesuch um Wiederherstellung der Frist, da sie ihre Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA fälschlicherweise - aber innerhalb der gesetzten Frist - an die IV-Stelle Luzern gesandt habe. 
 
b) Die kantonalen IV-Stellen sind zwar nach Art. 53 IVG mit der Durchführung der Invalidenversicherung betraut, jedoch handelt es sich dabei nicht um Bundesbehörden im Sinne von Art. 32 Abs. 4 lit. a OG, da die Kantone die Rechtsform und die Organisation regeln (Art. 54 IVG; vgl. BGE 125 V 403 Erw. 2b). Damit ist die Vernehmlassung nicht rechtzeitig bei einer Bundesbehörde eingegangen, was zur Fristwahrung gemäss Art. 32 Abs. 4 lit. a OG ausreichen würde. 
 
c) Nicht anwendbar ist in vorliegender Sache die Vorschrift des Art. 97 Abs. 1 Satz 3 UVG, wonach eine Eingabe rechtzeitig erfolgt ist, wenn sie an einen unzuständigen Versicherer gelangt. Es kann dabei offen bleiben, ob die Invalidenversicherung ein unzuständiger Versicherer im Sinne dieser Bestimmung ist, da gemäss systematischer Auslegung Art. 97 Abs. 1 Satz 3 UVG nicht im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht Anwendung findet, sondern nur im Verwaltungsverfahren gilt (vgl. zur Nichtanwendbarkeit im kantonalen Beschwerdeverfahren BGE 116 V 270 Erw. 5; SVR 1998 Nr. UV 10 S. 27 Erw. 3a). Der Vorbehalt in Art. 32 Abs. 4 Ingress OG bezieht sich deshalb nicht auf Art. 97 Abs. 1 Satz 3 UVG, da die letztere Norm für das letztinstanzliche Verfahren eben gerade keine besondere Regelung enthält. 
d) Zu prüfen bleibt, ob sich der Vorbehalt in Art. 32 Abs. 4 Ingress OG auf Art. 107 Abs. 1 OG bezieht. Nach dieser Norm gilt die Frist zur Einreichung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch dann als gewahrt, wenn der Beschwerdeführer fristgerecht an eine unzuständige Behörde gelangt. Diese Bestimmung ist für andere an Fristen gebundene Eingaben sinngemäss anwendbar, da kein Anlass besteht, die sich diesbezüglich irrende Partei schlechter zu stellen als bei der Einreichung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde (BGE 111 V 407 Erw. 2). Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz (vgl. etwa BGE 118 Ia 244 Erw. 3c, 100 III 10 Erw. 2; Rudolf Rüedi, Allgemeine Rechtsgrundsätze des Sozialversicherungsprozesses, in Walter R. Schluep et al. [Hrsg.], Recht, Staat und Politik am Ende des zweiten Jahrtausends, Festschrift zum 60. Geburtstag von Bundesrat Arnold Koller, Bern 1993, S. 459) gilt somit nicht nur für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, sondern auch für die Vernehmlassung des Beschwerdegegners. Die Ausdehnung des Anwendungsbereiches einer Norm vom Beschwerdeführer auf den Beschwerdegegner hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im Übrigen schon im Rahmen von Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG vorgenommen, indem im kantonalen Verfahren auch dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung oder die unentgeltliche Verbeiständung zugesprochen werden kann (BGE 109 V 62 Erw. 4). Damit ist festzuhalten, dass der Vorbehalt in Art. 32 Abs. 4 Ingress OG auch Art. 107 Abs. 1 OG umfasst und letztere Norm als lex specialis für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde (rsp. die Vernehmlassung dazu) der allgemeinen Regelung des Art. 32 OG vorgeht. 
 
e) Die "unzuständige Behörde" gemäss Art. 107 Abs. 1 OG kann eine Behörde des Bundes, eines Kantons oder einer Gemeinde sein (BGE 111 V 408); die kantonale IV-Stelle, an welche die Versicherte die Vernehmlassung fälschlicherweise gesendet hat, ist eine kantonale Behörde in diesem Sinn (vgl. BGE 125 V 403 Erw. 2b und Erw. 1b hievor). Damit ist die Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin zwar bei einer unzuständigen Behörde eingegangen; da dies jedoch innert der gesetzten Frist erfolgt ist, gilt die Vernehmlassungsfrist in Anwendung von Art. 107 Abs. 1 OG als gewahrt. Das Gesuch um Wiederherstellung der Frist vom 21. Juni 2000 erweist sich daher als gegenstandslos. 
 
2.- Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Heilbehandlung (Art. 10 UVG), auf Taggeld (Art. 16 UVG) und auf Invalidenrente (Art. 18 f. UVG) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, 117 V 376 Erw. 3a mit Hinweisen) und adäquaten Kausalzusammenhang (BGE 123 III 112 Erw. 3a, 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw. 3c, 122 V 416 Erw. 2a, je mit Hinweisen) zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod), insbesondere auch zur Adäquanzbeurteilung bei Unfällen und der in der Folge eingetretenen psychischen Fehlentwicklung mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 115 V 133). Darauf kann verwiesen werden. 
 
3.- a) Das kantonale Gericht hat die Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit sie eine psychiatrische Abklärung über eine mögliche Hirnverletzung durchführe und anschliessend neu verfüge. Während die Beschwerdegegnerin diesem Vorgehen ohne weiteres zustimmen kann, ist die SUVA der Auffassung, dass ein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden, der die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtige, erstellt und der Sachverhalt deshalb genügend abgeklärt sei, sodass direkt zur Prüfung der Adäquanz geschritten werden könne. 
 
b) Auch wenn die SUVA das Vorliegen des für die Leistungspflicht vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhanges nicht bestreitet, ist der Sachverhalt in vorliegender Sache noch nicht genügend abgeklärt (Untersuchungsgrundsatz; BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen): Im Gutachten für die Invalidenversicherung vom 9. April 1999 ging Dr. med. K.________ davon aus, dass ein Verdacht auf ein mildes Hirntrauma sowie ein Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung bestehe. Im Rahmen der Unfallversicherung ist es wichtig, über diese beiden Diagnosen Bescheid zu wissen, da die Adäquanzprüfung beim Vorliegen rein psychischer Unfallfolgen anders ausfällt als bei einem Unfall mit einem Schleuder- oder Schädel-Hirntrauma oder einer dem Schleudertrauma äquivalenten Verletzung (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2). 
 
aa) Liegt ein Schleudertrauma der HWS, eine dem Schleudertrauma äquivalente Verletzung oder ein Schädel-Hirntrauma vor, sind bei Unfällen aus dem mittleren Bereich die in BGE 117 V 366 Erw. 6a und 382 Erw. 4b umschriebenen Kriterien anzuwenden, wobei nicht zwischen physischen und psychischen Komponenten unterschieden wird (BGE 117 V 367 Erw. 6a in fine), weil die Differenzierung angesichts des komplexen und vielschichtigen Beschwerdebildes in heiklen Fällen gelegentlich grosse Schwierigkeiten bereitet (BGE 117 V 364 Erw. 5d/aa mit Hinweisen). Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht anzuwenden, wenn die zum typischen Beschwerdebild einer solchen Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise vorliegen, im Vergleich zur psychischen Problematik (vgl. insbesondere die möglicherweise vorbestehende Persönlichkeitsstörung) aber ganz in den Hintergrund treten (BGE 123 V 99 Erw. 2a). Ist dies der Fall, sind für die Adäquanzbeurteilung bei Fällen aus dem mittleren Bereich die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa für Unfälle mit psychischen Folgeschäden festgelegten Kriterien massgebend, und nicht jene für Fälle mit Schleudertrauma der HWS, äquivalenter Verletzung oder Schädel-Hirntrauma gemäss BGE 117 V 366 Erw. 6a und 382 Erw. 4b (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb mit Hinweisen). 
bb) Wenn weder ein Schleudertrauma der HWS, eine dem Schleudertrauma äquivalente Verletzung noch ein Schädel-Hirntrauma vorliegt, erfolgt die Adäquanzbeurteilung in den dem mittleren Bereich zuzuordnenden Fällen nach den Kriterien gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb). 
 
c) Die SUVA hat daher eine psychiatrische Begutachtung zu veranlassen, um festzustellen, ob eine vorbestehende Persönlichkeitsstörung und/oder ein Hirntrauma als Unfallfolge besteht. Anschliessend wird sie über ihre Leistungspflicht neu zu befinden haben. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
III.Die SUVA hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren 
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung 
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) 
zu bezahlen. 
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht 
des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche 
Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung 
zugestellt. 
 
Luzern, 27. November 2001 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der I. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: