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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_531/2012 
 
Urteil vom 27. November 2012 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli, 
Gerichtsschreiber Haag. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Kaufmann, 
 
gegen 
 
B.________, Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Gehrig, 
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250, 3001 Bern, 
Regionale Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland, Ländtestrasse 20, Postfach 1772, 2501 Biel BE. 
 
Gegenstand 
Einstellung eines Strafverfahrens, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 27. Juli 2012 
des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern Region Berner Jura-Seeland eröffnete am 25. November 2011 eine Strafuntersuchung gegen B.________ wegen des Verdachts auf sexuelle Handlungen mit seinem Sohn A.________ (geb. xx Juni 2007). Nach verschiedenen Befragungen der beteiligten Personen erliess die Staatsanwaltschaft am 16. April 2012 eine Einstellungsverfügung. Gegen diese Verfügung gelangten A.________ und seine Mutter an das Obergericht des Kantons Bern, das mit Beschluss vom 27. Juli 2012 auf die Beschwerde der Mutter nicht eintrat und die Beschwerde des Kindes abwies. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 14. September 2012 beantragt A.________ die Aufhebung des Beschlusses des Obergerichts vom 27. Juli 2012 und die Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung. 
 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf eine Vernehmlassung zur Beschwerde. Der Beschwerdegegner stellt den Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. In einer weiteren Eingabe vom 29. Oktober 2012 hält der Beschwerdeführer an der Beschwerde fest. Der Beschwerdegegner bestreitet die Ausführungen des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 12. November 2012. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Dem angefochtenen Entscheid liegt eine Einstellungsverfügung im Sinne von Art. 319 Abs. lit. a StPO zugrunde und damit ein Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz über eine Strafsache. Dieser kann nach den Art. 78 ff. BGG mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden. Die Beschwerdeerhebung erfolgte unter Berücksichtigung des Fristenstillstands nach Art. 46 Abs. 1 lit. b BGG rechtzeitig (Art. 100 Abs. 1 BGG; vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_78/2012 vom 3. Juli 2012 E. 1.3, zur Publikation vorgesehen). Der Beschwerdeführer war als Privatkläger am kantonalen Verfahren beteiligt, und der angefochtene Entscheid kann sich offensichtlich auf die Beurteilung allfälliger Zivilansprüche auswirken. Er ist daher zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
2.1 Die Vorinstanz führt im angefochtenen Entscheid aus, der Beschuldigte habe grundsätzlich einen Anspruch, den ihn belastenden Personen Ergänzungsfragen zu stellen. Wenn berechtigte Interessen eines minderjährigen Opfers erforderten, dass der Beschuldigte ihm keine Fragen stellen könne, so dürfe dies nicht dazu führen, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren aufgegeben werde. Auf die entsprechende Zeugenaussage dürfe nicht abgestellt und der Angeklagte nicht gestützt darauf verurteilt werden (BGE 131 I 476 E. 2.2 S. 480 ff. mit Hinweisen). Da der Anspruch des Beschuldigten auf Konfrontation mit dem Beschwerdeführer absolut und uneingeschränkt gelte, seien die bisherigen Aussagen des Beschwerdeführers nicht verwertbar. Eine weitere Befragung des Kindes stehe offensichtlich nicht zur Diskussion. Eine solche sei weder beantragt worden noch sei anzunehmen, dass sie zielführend sein könne, nachdem der Junge schon zweimal befragt worden sei. Hingegen habe der Beschuldigte sein Recht auf eine erneute Befragung des Beschwerdeführers nicht verwirkt. 
 
Zudem habe A.________ keine Aussagen gemacht, die eine konkrete sexuelle Handlung im Sinne von Art. 187 StGB beschreiben würden. Daran würden auch die weiteren beantragten Beweismassnahmen nichts ändern. Bei der vorliegenden Konstellation sei es nicht möglich, eine Beweisgrundlage gegen den Beschuldigten dadurch zu schaffen, dass allfällige Aussagen des Kindes ausschliesslich über Drittpersonen ins Verfahren eingebracht würden, weil dadurch der Anspruch auf Konfrontation mit dem Belastungszeugen umgangen würde. 
 
2.2 Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 154 Abs. 4 StPO. Darin werden detaillierte Regeln aufgeführt, die gelten, wenn erkennbar ist, dass die Einvernahme oder Gegenüberstellung für das Kind zu einer schweren psychischen Belastung führen könnte. Das Obergericht soll diese Regeln nach Ansicht des Beschwerdeführers nicht beachtet haben. A.________ habe bereits in einer Videobefragung im Vorverfahren Hinweise auf sexuelle Handlungen gemacht und diese nach einem Bericht des Kinderpsychologen C.________ vom 31. August 2012 in der Folge konkretisiert. Die Vorinstanz habe die Wahrnehmungen des Kinderpsychologen trotz einem entsprechenden Beweisantrag des Beschwerdeführers im angefochtenen Entscheid nicht berücksichtigt. 
Der Beschwerdegegner hält die Berücksichtigung des Berichts des Kinderpsychologen für unzulässig, da es sich dabei um ein neues Beweismittel handle, zu dem nicht erst der Entscheid der Vorinstanz Anlass gegeben habe (Art. 99 Abs. 1 BGG). 
 
2.3 Aus dem Bericht des Kinderpsychologen C.________ vom 31. August 2012 ergibt sich, dass A.________ konkrete sexuelle Handlungen seines Vaters mit ihm beschrieben haben soll. Diese kamen in den Videobefragungen durch die Kantonspolizei nicht klar zum Ausdruck. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers weist aber darauf hin, dass A.________ bereits in der ersten Videobefragung in seiner kindlichen Ausdrucksweise Andeutungen auf eine Ejakulation des Beschuldigten in das Gesicht des Kindes gemacht habe. Aufgrund dieser zutreffenden Hinweise kann der Auffassung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer keine Aussagen über eine konkrete sexuelle Handlung mit einem Kind im Sinne von Art. 187 StGB gemacht habe, nicht gefolgt werden. 
 
Soweit sich aus dem Bericht des Kinderpsychologen zusätzliche Hinweise auf sexuelle Handlungen mit A.________ ergeben, liegt ein neues Beweismittel vor, das nach Art. 99 Abs. 1 BGG nur so weit vorgebracht werden darf, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist hier nicht entscheidend. Aufgrund des neuen Beweismittels würde jedenfalls Anlass für eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Sinne von Art. 323 StPO bestehen. Das neue Beweismittel enthält Tatsachen, die für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdegegners sprechen und die sich nicht aus den früheren Akten ergeben (Art. 323 Abs. 1 lit. a und b StPO). Nach Art. 7 Abs. 1 StPO sind die Strafbehörden verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden (Verfolgungszwang). Ausserdem nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Beschleunigungsgebot, Art. 5 Abs. 1 StPO). Im Lichte dieser Grundsätze kann der Bericht des Kinderpsychologen im bundesgerichtlichen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben. Da dieser deutliche Hinweise für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten enthält, erscheint die Einstellung des Strafverfahrens nicht gerechtfertigt. 
 
2.4 Somit ist die Beschwerde gutzuheissen, und die Einstellungsverfügung sowie der angefochtene Entscheid sind aufzuheben. Gestützt auf das Beschleunigungsgebot ist die Angelegenheit in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 BGG direkt an die Staatsanwaltschaft zur Weiterführung der Strafuntersuchung zurückzuweisen. Bei diesem Ergebnis ist nicht im Einzelnen zu prüfen, inwieweit der angefochtene Entscheid auf einer Verletzung von Art. 154 Abs. 4 StPO beruht. Die zuständigen Behörden sind indessen verpflichtet, die in dieser Bestimmung genannten Regeln zu befolgen. 
 
In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass eine Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person nur angeordnet werden darf, wenn das Kind die Gegenüberstellung ausdrücklich verlangt oder der Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann (Art. 154 Abs. 4 lit. a StPO). Es ist Aufgabe der zuständigen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, den Gehörsanspruch des Beschwerdegegners in angemessener Weise unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes zu erfüllen. Dabei ist es in Anwendung von Art. 154 Abs. 4 lit. a StPO grundsätzlich nicht notwendig, eine direkte Konfrontation des Kindes mit der beschuldigten Person durchzuführen (vgl. STEFAN WEHRENBERG, in: Basler Kommentar StPO, 2011, N. 13 zu Art. 154 StPO). Weiter ist zu beachten, dass das Kind während des ganzen Verfahrens in der Regel nicht mehr als zweimal einvernommen werden darf (Art. 154 Abs. 4 lit. b StPO). Ob eine weitere Einvernahme in der vorliegenden Angelegenheit infrage kommt, werden die zuständigen Behörden mit Rücksicht auf das Wohl des Kindes und das Interesse an der Wahrheitsfindung zu beurteilen haben (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_495/2011 vom 18. Oktober 2011 E. 1.2; STEFAN WEHRENBERG, a.a.O., N. 16 zu Art. 154 StPO). 
 
3. 
Unter Berücksichtigung der Umstände der vorliegenden Angelegenheit erscheint es gerechtfertigt, auf die Erhebung von Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegner ist jedoch zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Mit dieser Regelung der Kostenfolgen wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren gegenstandslos. 
 
Der Beschwerdeführer verlangt, die Vorinstanz sei anzuhalten, ihm für das kantonale Beschwerdeverfahren eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen. Der Anspruch der Privatklägerschaft auf angemessene Entschädigung für notwendige Aufwendungen im kantonalen Verfahren richtet sich nach Art. 433 StPO und hängt vom Ausgang des Strafverfahrens ab. Es ist zurzeit nicht möglich, die Entschädigung für das vorinstanzliche Verfahren festzulegen. Das Verfahren vor dem Obergericht betreffend die Einstellungsverfügung wird im Rahmen der Regelung der Parteientschädigung im Endentscheid zu berücksichtigen sein (Art. 421 Abs. 1 StPO). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Region Berner Jura-Seeland vom 16. April 2012 sowie der Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern vom 27. Juli 2012 werden aufgehoben. Die Angelegenheit wird zur Weiterführung der Strafuntersuchung an die Staatsanwaltschaft Region Berner Jura-Seeland zurückgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Der Beschwerdegegner hat dem Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, der Regionalen Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland und dem Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 27. November 2012 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Haag