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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_420/2014 {T 0/2}  
   
   
 
 
 
Urteil vom 27. November 2014  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 9. April 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1958 geborene A.________, gelernter Forstwart, war seit April 1988 bis Juli 2010 als Hausmeister an der Schule B.________ tätig. Am 10. Mai 2010 meldete er sich unter Hinweis auf Rückenbeschwerden und Aussetzer, die zur Bewusstlosigkeit führen, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Beizug verschiedener Arztberichte und gestützt auf ein interdisziplinäres Gutachten der MEDAS D.________ vom 28. November 2012 sowie eine Stellungnahme des Dr. med. C.________, Regionaler Ärztlicher Dienst, vom 11. Dezember 2012 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau den Anspruch auf eine Invalidenrente mit Verfügung vom 1. März 2013 ab. 
 
B.   
A.________ liess Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung sei ihm eine Invalidenrente zuzusprechen. Mit Entscheid vom 9. April 2014 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern. Ferner ersucht er um die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zum (in der Regel fehlenden) invalidisierenden Charakter somatoformer Schmerzstörungen und ähnlicher pathogenetisch-ätiologisch unerklärlicher syndromaler Beschwerdebilder ohne organische Grundlage (BGE 130 V 352) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Weiter hat das kantonale Gericht festgehalten, dissoziative Störungen der Bewegungs- und Sinnesempfindung verursachten - ebenso wie die somatoforme Schmerzstörung - Symptome, die nicht auf organisch-strukturelle Schädigungen zurückgeführt werden können. Das Bundesgericht habe deshalb seine Rechtsprechung zu den unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage auch auf die dissoziativen Störungen der Bewegungs- und Sinnesempfindung angewendet; der Beschwerdeführer leide an dissoziativen Krampfanfällen, welche systematisch zur selben Diagnoseklasse gehörten wie die dissoziativen Störungen der Bewegungs- und Sinnesempfindungen. Die Krampfanfälle seien nicht auf eine organisch-strukturelle Schädigung zurückzuführen. Damit sei es gerechtfertigt, auch die dissoziativen Krampfanfälle des Beschwerdeführers unter BGE 130 V 352 zu subsumieren. Alsdann gelangte die Vorinstanz aufgrund einer Prüfung anhand des Kriterienkatalogs gemäss BGE 130 V 352 zum Schluss, die dissoziativen Krampfanfälle seien mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar und stellten aus rechtlicher Sicht keine invalidisierende Gesundheitsschädigung dar. Der neben den Krampfanfällen bestehenden mittelgradigen depressiven Episode komme kein invalidisierender Charakter zu. Für sämtliche körperlich leichten wechselbelastenden Tätigkeiten ohne Fremd- und Selbstgefährdung und ohne hohe Anforderungen an kognitive Fähigkeiten sei der Beschwerdeführer voll arbeitsfähig.  
 
2.2. Der Versicherte macht unter Berufung auf das Gutachten der MEDAS vom 28. November 2012 geltend, es sei ihm lediglich eine leichte Arbeit im Umfang von 60 % zumutbar. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz habe die MEDAS die Ursache der Krampfanfälle mit Sturzereignissen offengelassen und teilweise deren organische Genese bestätigt. Im Hinblick auf die vermutete gemischte Ursache der Schwindelattacken und Sturzereignisse sowie die deutlichen Hinweise auf bewusstseinsfremde Elemente sei fraglich, ob die zu den somatoformen Schmerzstörungen entwickelte Rechtsprechung hier anwendbar ist. Letztlich könne die Frage offengelassen werden; denn der Expertise der MEDAS sei zu entnehmen, dass die Verdachtsdiagnose der dissoziativen Krampfanfälle die Arbeitsfähigkeit selbst nicht generell einschränkt. Sie verbiete einzig Arbeiten mit Selbst- und Fremdgefährdung, begründe aber nicht die von den Gutachtern bescheinigte teilweise Arbeitsunfähigkeit in sämtlichen beruflichen Tätigkeiten. Vielmehr werde diese Beeinträchtigung durch die mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom begründet. Die invalidisierende Wirkung einer mittelschweren depressiven Störung könne nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom, die gemäss Gutachten seit 2010 besteht, könne nicht bloss als Begleiterscheinung der dissoziativen Störung angesehen werden. Vielmehr handle es sich laut Expertise der MEDAS um die Hauptdiagnose. Letztlich sei es allein die depressive Störung, die zur Einschränkung der Arbeitsfähigkeit um 40 % in einer angepassten Erwerbstätigkeit führt.  
 
3.  
 
3.1. Die Ärzte der MEDAS diagnostizierten beim Beschwerdeführer eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom  
- mit Status nach Suizidversuch 2010, 
- bei Verdacht auf akzentuierte Persönlichkeit 
- bestehend seit 2010 
sowie einen Verdacht auf dissoziative Krampfanfälle als Co-Diagnose zu den beiden ersten Diagnosen sowie ein Schmerzsyndrom mit verschiedenen degenerativen Veränderungen. 
 
Dem Gutachten ist weiter zu entnehmen, dass die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers aufgrund vor allem der psychiatrischen Symptomatik für sämtliche Tätigkeiten um 40 % eingeschränkt ist. 
Von einem pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebild im Sinne von BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 399 kann nach der Rechtsprechung nicht ausgegangen werden, wenn eine depressive Erkrankung nicht bloss als Begleiterscheinung eines psychogenen Schmerzgeschehens, sondern als ein selbstständiges, davon losgelöstes Leiden anzusehen ist (SVR 2012 IV Nr. 22 S. 95, 8C_302/2011 E. 2.4; Urteil 8C_484/2012 vom 26. April 2013 E. 4.3.1), wie dies im vorliegenden Fall gemäss den Erörterungen im polydisziplinären Gutachten zutrifft. Hinsichtlich der Verdachtsdiagnose dissoziative Krampfanfälle gilt dies im Übrigen auch deshalb, weil die MEDAS zu den Sturzereignissen ausführt, die Ursache bleibe trotz multipler Abklärungen unklar. Aufgrund der Schwere der Sturzereignisse mit erheblichen Begleitverletzungen (Zahnfrakturen) könne eine organische Ursache nicht ausgeschlossen werden. Soweit die Vorinstanz beim geschilderten Beschwerdebild, welches von der Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom geprägt wird und im Weiteren davon losgelöste Schwindelattacken und Sturzereignisse unklarer, gemäss Gutachten teils organischer, teils nicht organischer Ursache, umfasst, die Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen gemäss BGE 130 V 352 angewendet hat, hat sie Bundesrecht verletzt. 
 
4.   
Im Lichte dieser Darlegungen stellt sich entgegen den Erwägungen im angefochtenen Entscheid nicht die Frage, "inwieweit dem Beschwerdeführer die Überwindung der dissoziativen Krampfanfälle zumutbar ist"; vielmehr ist mit Rücksicht auf die seitens der Gutachter des MEDAS bescheinigte Arbeitsunfähigkeit von 40 %, an der angesichts der umfassenden und schlüssigen polydisziplinären Abklärung nicht zu zweifeln ist, zu ermitteln, welche Arbeiten der Versicherte zumutbarerweise ausüben und welche Einkünfte er damit erzielen könnte. Alsdann wird anhand eines Einkommensvergleichs der Invaliditätsgrad zu bestimmen sein. Dabei steht fest, dass für das hypothetische Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) vom Lohn auszugehen ist, den der Beschwerdeführer zuletzt im Jahre 2010 als Hausmeister bei der Schule B.________ verdient hat. Das Invalideneinkommen wird die Vorinstanz, an welche die Sache zurückzuweisen ist, gestützt auf die Tabellenlöhne gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik festsetzen, da der Versicherte in den letzten Jahren seit Eintritt des Gesundheitsschadens keine Erwerbstätigkeit mehr verrichtet hat. Dabei wird zu beachten sein, dass der Beschwerdeführer zumutbarerweise nur noch ein teilzeitliches Arbeitspensum auszuüben vermag. Wie in der Beschwerde zu Recht geltend gemacht wird, können persönliche und berufliche Merkmale wie der (reduzierte) Beschäftigungsgrad und das im vorliegenden Fall in Betracht zu ziehende Alter des knapp 56-jährigen Versicherten einen auf höchstens 25 % begrenzten Leidensabzug von dem nach den LSE-Tabellenlöhnen zu ermittelnden Invalideneinkommen rechtfertigen, soweit anzunehmen ist, dass die trotz des Gesundheitsschadens verbleibende Leistungsfähigkeit aufgrund eines oder mehrerer dieser Merkmale auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem Einkommen verwertet werden kann (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301, 134 V 322 E. 5.2 S. 327). Im vorliegenden Fall wird die Vorinstanz mit Blick auf die erwähnten, in der Regel zu einer Lohnreduktion führenden Merkmale einen angemessenen Abzug vorzunehmen haben. 
 
5.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist damit gegenstandslos. Überdies hat die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid vom 9. April 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Entscheidung an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. November 2014 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer