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[AZA 7] 
I 678/00 Gb 
 
I. Kammer 
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Spira, Bundesrichterin 
Widmer und Bundesrichter Ferrari; Gerichtsschreiberin 
Polla 
 
Urteil vom 30. Mai 2001 
 
in Sachen 
 
1. B.________, 
2. V.________, 
Beschwerdeführer, Erben der R.________, 1946, gestorben am 12. März 1999, beide vertreten durch Rechtsanwältin Elisabeth Beéry Siegwart, Webergasse 21, 9001 St. Gallen, 
 
 
gegen 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
A.- Die 1946 geborene R.________ bezog seit 1. August 1978 eine halbe Invalidenrente. Mit Verfügung vom 5. Januar 1994 berechnete die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen (seit 1. Januar 1995: Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, IV-Stelle) die halbe Invalidenrente rückwirkend auf den 1. Januar 1994 unter Einbezug von Erziehungsgutschriften neu und sprach R.________ darauffolgend eine ganze Rente zu (Verfügung vom 3. Mai 1995). Am 8. Dezember 1995 teilte die Versicherte der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen ihre erneute Heirat am 24. November 1995 mit. Revisionsweise bestätigte die IV-Stelle der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine Rente im bisherigen Umfang (Verfügungen vom 15. April 1996 und 2. November 1998). Mit Verfügung vom 19. November 1998 setzte diese die Rente für die Zeit ab 1. Dezember 1995 unter Ausschluss des Anspruchs auf Erziehungsgutschriften infolge Heirat herab und machte eine Rückforderung von Fr. 13'946.- geltend. 
 
 
B.- R.________ erhob hiegegen Beschwerde mit dem Antrag, die Rückerstattungsverfügung sei aufzuheben, da sie ihrer Meldepflicht bezüglich der Wiederverheiratung rechtzeitig nachgekommen sei. Mit Entscheid vom 19. Oktober 2000 wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde mit der Begründung ab, dass der Rückforderungsanspruch nicht verwirkt sei. 
 
C.- Die Erbengemeinschaft der zwischenzeitlich verstorbenen R.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es sei unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids festzustellen, dass der Rückforderungsanspruch in der Höhe von Fr. 13'946.- verwirkt sei. 
Die Sozialversicherungsanstalt schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Im Beschwerdefahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, worunter nach ständiger Rechtsprechung auch die Rückforderung von Versicherungsleistungen fällt (BGE 112 V 100 Erw. 1b mit Hinweisen), ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann insbesondere über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 
 
2.- Die Vorinstanz hat die massgeblichen Bestimmungen über die Rückerstattungspflicht zu Unrecht bezogener Leistungen (Art. 49 IVG in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 AHVG sowie Art. 85 Abs. 3 IVV und Art. 78 AHVV), wie auch die Verjährung des Rückforderungsanspruchs (Art. 47 Abs. 2 AHVG) zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. 
 
3.- Unbestritten ist, dass der Versicherten in der Zeit von 1. Dezember 1995 bis 30. November 1998 eine zu hohe Invalidenrente im Umfang von Fr. 13'946.- ausgerichtet wurde. Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob der Rückforderungsanspruch verwirkt ist, insbesondere wann die einjährige Verwirkungsfrist für die Rückforderung im Sinne der mit BGE 110 V 305 eingeleiteten Rechtsprechung, wonach der Zeitpunkt massgebend ist, in welchem die Verwaltung in Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit den Fehler hätte entdecken müssen, zu laufen begonnen hat. 
a) Mit Vorinstanz und Verwaltung ist davon auszugehen, dass die Mitteilung über die Wiederverheiratung der Versicherten am 24. November 1995, mit welcher ein Anspruch auf Erziehungsgutschriften erlosch (Art. 53ter Abs. 3 AHVV, in Kraft gewesen bis 31. Dezember 1996) der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen am 8. Dezember 1995 zugestellt wurde, was im Übrigen auch nicht bestritten ist. 
Die IV-Stelle reduzierte daraufhin jedoch die Rente nicht um den aus der Erziehungsgutschrift resultierenden Betrag, sondern bemerkte den Rückforderungstatbestand erst anlässlich der im November 1998 durchgeführten Rentenrevision. 
Nach Auffassung des kantonalen Gerichts hätte die Verwaltung dies auch mit der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit nicht früher bemerken müssen, da eine einmal unterlassene Änderung in der Rentenberechnung administrativ erst wieder bemerkt werden könne, wenn sich eine Neuberechnung aufdränge. 
 
Die Beschwerde führenden Erben stellen sich dagegen auf den Standpunkt, dass der Fristenlauf für die einjährige Verwirkungsfrist der Rückforderung in dem Zeitpunkt zu laufen begann, in welchem die IV-Stelle Kenntnis von der Verheiratung von R.________ am 24. November 1995 erlangt hatte (Mitteilung vom 8. Dezember 1995). 
 
b) Dies führt zur Frage, ob auf den Zeitpunkt, in welchem die IV-Stelle Kenntnis von der erneuten Heirat erhalten hatte (am 8. Dezember 1995), zuzüglich einer Frist, welche allenfalls für weitere Erhebungen zur Bestimmung des Rückforderungsanspruchs gebraucht wird (BGE 112 V 182 Erw. 4b), oder den Zeitpunkt, als die IV-Stelle im April 1996 eine Rentenrevision nach Art. 41 IVG vornahm oder als dritte Möglichkeit, auf den ungefähren Zeitpunkt der erlassenen Rückforderungsverfügung vom 19. November 1998 abzustellen ist. 
In BGE 110 V 304 wurde in Änderung der bisherigen Rechtsprechung erkannt, dass mit Bezug auf den Beginn der einjährigen relativen Verwirkungsfrist nicht die tatsächliche, sondern die zumutbare Kenntnis des zur Rückforderung Anlass gebenden Sachverhalts massgebend ist; wobei das Eidgenössische Versicherungsgericht nicht das erstmalige unrichtige Handeln der Verwaltung als fristauslösend hat genügen lassen. Vielmehr stellte es auf jenen Tag ab, an dem sich die Amtsstelle später - beispielsweise anlässlich einer Rechnungskontrolle - unter Anwendung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit über ihren Fehler hätte Rechenschaft geben müssen (BGE 110 V 306 f. Erw. 2b in fine). In BGE 122 V 270 wurde bezüglich der zumutbaren Kenntnis der Rückerstattungsvoraussetzungen einer durch das Handelsregister und die entsprechenden Bekanntmachungen im schweizerischen Handelsamtsblatt mit Publizität versehenen Tatsache nicht auf einen zweiten Anlass im Sinne dieser Rechtsprechung, d.h. die Wahrnehmung der Unrichtigkeit der Leistungsausrichtung aufgrund eines zusätzlichen Indizes, abgestellt. 
Die Verwaltung musste sich vielmehr die Publizitätswirkung des Handelsregisters und die Bekanntmachungen daraus im Schweizerischen Handelsamtsblatt von Anfang an entgegenhalten lassen. 
Von einer analogen Anwendung auf den hier zu beurteilenden Fall ist hingegen abzusehen. Zum einen besitzt das Zivilstandsregister nicht die gleiche Publizitätswirkung wie das Handelsregister. Die Zivilstandsregister sind zwar "öffentliche" Register im Sinne von Art. 9 ZGB, womit jedoch lediglich der "amtliche" Charakter ausgedrückt wird. 
Entsprechend der unterschiedlichen Beschaffenheit und Aufgaben ist das Zivilstandsregister weniger öffentlich und seine Einsicht strenger geregelt (Schüpbach, Der Personenstand, Erfassung und Beurkundung des Zivilstandes, in: 
Schweizerisches Privatrecht, Bd. II/3, Basel/Frankfurt a.M. 
1996, S. 114). 
Zum andern ist vorliegend mit der Publikation der Eheschliessung keine offensichtliche Rechtsfolge verknüpft wie im Falle von BGE 122 V 276, wo die publizierte Tatsache der Verwaltungsratseigenschaft des Ansprechers den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausschloss. Vielmehr ist durch die erneute Heirat lediglich ein Berechnungselement betroffen, nämlich der Wegfall der Anrechnung von Erziehungsgutschriften, sodass sich die IV-Stelle die amtliche Mitteilung im Zivilstandsregister nicht entgegen halten lassen muss. 
Demnach ist in Anwendung der in BGE 110 V 304 ergangenen und in BGE 124 V 380 bestätigten Rechtsprechung bezüglich der zumutbaren Kenntnis des zur Rückforderung Anlass gebenden Sachverhalts nicht auf das erstmalige unrichtige Handeln, sondern auf den späteren Zeitpunkt abzustellen, in dem die Verwaltung unter Anrechnung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit ihren Fehler hätte erkennen müssen. Aufgrund der im April 1996 durchgeführten Rentenrevision bestand ein solcher zweiter Anlass, das Dossier im Sinne einer Kontrolle bezüglich relevanten veränderten Tatsachen durchzusehen. 
Dabei hätte auch die Anzeige der Zivilstandsänderung mit der gebotenen Sorgfalt entdeckt werden müssen, welche als Information genügt, um Zweifel an der Richtigkeit des ausgerichteten Rentenbetrages zu begründen (BGE 124 V 385 Erw. 2 in fine), mit der angezeigten Wiederverheiratung wurde der IV-Stelle zugleich auch die geänderte Berechnungsgrundlage für die Rente zur Kenntnis gebracht. Damit ist rechtsprechungsgemäss die Rentenrevision und nicht erst der Zeitpunkt der ergangenen Rückforderungsverfügung (19. November 1998) als fristauslösend anzusehen. Somit begann die einjährige Frist im April 1996 zu laufen, was zur Verwirkung des Anspruchs auf Rückforderung des ausgerichteten Rentenbetrages in der Höhe von Fr. 13'946.- führt. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden 
der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons 
St. Gallen vom 19. Oktober 2000 und die Verfügung 
der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 19. November 
1998 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der 
Rückforderungsanspruch von Fr. 13'946.- verwirkt ist. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Die IV-Stelle hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich 
 
 
Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
 
IV. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen 
 
 
Prozesses zu befinden haben. 
 
V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht 
des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des 
Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung 
zugestellt. 
Luzern, 30. Mai 2001 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgericht 
Der Präsident der I. Kammer: 
 
Die Gerichtsschreiberin: