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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1B_146/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 30. Mai 2016  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Merkli, Chaix, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Simone Gasser, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, 
Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Entsiegelung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 23. März 2016 des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ wurde am 4. August 2014 verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft versetzt. Er soll in einer Thuner Apotheke die Apothekerin mit einem Messer bedroht haben, nachdem er wegen Meinungsverschiedenheiten über die Dosierung des ihm abzugebenden Methadons in Wut geraten sei. Nach seiner Verhaftung auf der Wache soll er zudem den Polizeibeamten gedroht haben, sie bei nächstbester Gelegenheit zu erschiessen. 
Am 24. Juni 2015 verurteilte das Regionalgericht Oberland A.________ wegen Drohung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Verstössen gegen das BetmG zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen und einer stationären Massnahme. Gleichzeitig versetzte es ihn in den vorzeitigen Massnahmenvollzug. Die Urteilsbegründung eröffnete das Regionalgericht Oberland am 8. Oktober 2015. Mit Berufungserklärung vom 10. November 2015 ans Obergericht des Kantons Bern beantragte A.________, die stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB aufzuheben und eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB anzuordnen. Mit Anschlussberufung vom 30. November 2015 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, anstelle der Geldstrafe eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten auszusprechen. 
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2015 informierte das Regionalgefängnis Burgdorf das Obergericht im Rahmen des hängigen Berufungsverfahrens, bei der Durchsicht der Effekten von A.________ sei ein Tagebuch mit mehreren Einträgen mutmasslich strafrechtlich relevanten Inhalts gefunden worden. Darin beschreibe A.________ unter anderem, dass er gerne eine Frau gnadenlos und ohne Reue töten würde, weil ihm dies ein Dämon befehle. 
Mit Verfügung vom 22. Dezember 2015 nahm der Präsident der 2. Strafkammer des Obergerichts vom Bericht des Regionalgefängnisses Burgdorf Kenntnis und stellte ihn den Parteien zu. Er stellte in Aussicht, die im Bericht erwähnten Tagebuchtexte A.________s im Hinblick auf eine Beweisbeschlagnahme zu durchsuchen und wies das Regionalgefängnis Burgdorf an, sie A.________ bis auf andere Anordnung nicht herauszugeben. Er setzte A.________ Frist an, sich im Sinn von Art. 247 Abs. 1 StPO zur beabsichtigten Durchsuchung und allfälligen Beschlagnahme der Texte zu äussern. 
Mit Eingabe vom 25. Januar 2016 beantragte A.________ die Siegelung der Tagebuchtexte nach Art. 248 Abs. 1 StPO. Die Generalstaatsanwältin beantragte mit Stellungnahme vom 18. Februar 2016, die Versiegelung des Tagebuchs aufzuheben, es zu durchsuchen und die beweisrelevanten Passagen zu den Akten zu nehmen. 
Mit Beschluss vom 23. März 2016 hob das Obergericht (u.a.) die Versiegelung des Tagebuchs auf und ordnete an, es zu durchsuchen und, soweit beweisrelevant, in Kopie zu den Akten zu nehmen (Dispositiv-Ziffer 4). 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 14. April 2016 beantragt A.________, den Beschluss des Obergerichts vom 23. März 2016 (bzw. dessen Dispositiv-Ziffer 4, gegen die sich die Beschwerde ausschliesslich richtet) aufzuheben, das Tagebuch zu versiegeln und seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C.   
Am 18. April 2016 verfügte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung superprovisorisch, dass bis zum Entscheid über das Gesuch um aufschiebende Wirkung alle Vollziehungsvorkehrungen zu unterbleiben haben. 
Gleichentags hob das Obergericht seinen Beschluss auf, die Versiegelung des Tagebuchs aufzuheben und es zu durchsuchen. Es ordnete an, die von diesem erstellten Kopien zusammen mit dem Original vorläufig bis zum Entscheid des Bundesgerichts aus den Akten zu entfernen. Es wies die Parteien und die Expertin an, die ihnen zugestellten Tagebuchkopien unverzüglich und ohne Erstellung von Kopien zurückzusenden. 
 
D.   
Das Obergericht beantragt in seiner Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen und teilt mit, die Berufungsverhandlung sei auf den 17. Juni 2016 angesetzt. Die Generalstaatsanwältin beantragt, die Beschwerde abzuweisen. 
A.________ liess sich innert Frist nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer Strafsache; dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen offen (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 BGG). Er schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab, sondern ermöglicht vielmehr dessen Weiterführung. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der die Staatsanwaltschaft ermächtigt, das Tagebuch des Beschwerdeführers zu durchsuchen und, soweit für das Berufungsverfahren relevant, als Beweismittel zu den Akten zu nehmen. Das kann für den Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken, weshalb die Beschwerde ans Bundesgericht nach konstanter Praxis zulässig ist (BGE 140 IV 108 nicht publ. E. 1.5; 139 IV 246 E. 1.3; Urteile 1B_414/2013 vom 29. April 2014 E. 1; 1B_672/2012 vom 8. Mai 2013 E. 1.3; 1B_109/ 2010 vom 14. September 2010 E. 1.1; 1B_232/2009 vom 25. Februar 2010 E. 1). Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse zu verhindern, dass das umstrittene Tagebuch durchsucht und als Beweismittel gegen ihn verwendet wird; er ist damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.  
 
1.2. Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos geworden.  
 
1.3. Gegenstand des Verfahrens ist einzig die Entsiegelung des Tagebuchs, dessen Existenz das Regionalgefängnis Burgdorf dem Obergericht mit Schreiben vom 18. Dezember 2015 zur Kenntnis brachte. Nicht zu beurteilen ist, wie das Obergericht mit dem weiteren Tagebuch, welches offenbar im Februar 2016 in der Zelle des Beschwerdeführers gefunden wurde und das Regionalgefängnis Burgdorf zu einer Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer veranlasste, im Berufungsprozess zu verfahren hat.  
 
2.  
 
2.1. Nach Art. 13 BV hat jede Person u.a. Anspruch auf Achtung ihres Privatlebens sowie auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten. Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO konkretisiert diese Verfassungsbestimmung für die Belange der Strafverfolgung dahingehend, dass persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz des Beschuldigten nicht beschlagnahmt werden dürfen, wenn sein Interesse am Schutz der Persönlichkeit das Strafverfolgungsinteresse überwiegt. Der angefochtene Entscheid ist somit dann rechtmässig, wenn das Interesse der Untersuchungsbehörden an der Kenntnisnahme der Tagebucheinträge höher einzustufen ist als das entgegenstehende Geheimhaltungsinteresse des Beschwerdeführers.  
 
2.2. Der Beschwerdeführer wurde zu einer Geldstrafe und einer stationären Massnahme verurteilt, weil ihm gutachterlich eine Abhängigkeit von verschiedenen Betäubungsmitteln (Opiaten, Kokain und Cannabis; ICD-10 F11.22 und F12.24) und Alkohol (ICD-10 F10.1) sowie eine paranoide Schizophrenie (ICD-10 F20.0) und eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.2) attestiert wurden.  
 
2.3. Hauptgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Frage, ob gegen den Beschwerdeführer eine stationäre oder eine ambulante Massnahme verhängt werden soll. Deren Beantwortung hängt wesentlich davon ab, ob von ihm ein hohes Risiko für schwere Gewalttaten ausgeht und ob dieses gegebenenfalls auch durch eine ambulante Behandlung auf ein tragbares Mass reduziert werden kann oder nicht. Ob und in welcher Art der Beschwerdeführer Tötungsfantasien in seinem Tagebuch niedergeschrieben hat, kann für die Beurteilung seiner psychischen Verfassung und damit auch für die gutachterliche Risikoeinschätzung selbstredend von erheblicher Bedeutung sein. Unter diesen Umständen geht das öffentliche Interesse an einer möglichst umfassenden gutachterlichen Abklärung dem entgegenstehenden Anspruch des Beschwerdeführers auf Schutz seiner Privatsphäre vor. Es gilt zu vermeiden, dass die Gutachterin das vom Beschwerdeführer allenfalls ausgehende Gewaltrisiko falsch einschätzt, weil ihr nicht alle relevanten Akten zur Verfügung stehen. Würde sie auf einer unvollständigen tatsächlichen Grundlage allenfalls eine ungeeignete Massnahme empfehlen, so könnte das sowohl den Beschwerdeführer um eine sachgerechte Behandlung und Betreuung bringen als auch möglicherweise die öffentliche Sicherheit grob gefährden, wenn er etwa in Freiheit während eines psychotischen Schubs versuchen würde, allfällige Tötungsfantasien in die Realität umzusetzen. Da die Gutachterin mit den Besonderheiten des Falles vertraut ist, insbesondere auch mit dem Umstand, dass der unbestrittenermassen massnahmenbedürftige Beschwerdeführer seit seiner Verhaftung vom 14. August 2014, mithin seit rund 21 Monaten, in Gefängnissen und nicht in einer besser geeigneten Anstalt untergebracht ist, ist sie in der Lage zu beurteilen, ob und wie die Tagebucheinträge mit einer allenfalls mangelhaften Betreuung und Therapierung des Beschwerdeführers zusammenhängen. Dieser Umstand rechtfertigt daher entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht, das Tagebuch der gutachterlichen Beurteilung vorzuenthalten. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet.  
 
3.   
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trüge an sich der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht aussichtslos war und die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen: 
 
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwältin Simone Gasser wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtliche Verteidigerin eingesetzt und mit Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.  
 
3.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. Mai 2016 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi