Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
6B_175/2016
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Urteil vom 2. Mai 2016
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber Näf.
Verfahrensbeteiligte
Y.________,
vertreten durch Advokat Dr. Christian von Wartburg,
Beschwerdeführerin,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Wiederherstellung der Frist zur Einsprache gegen einen Strafbefehl; überspitzter Formalismus,
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 3. Dezember 2015.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt verurteilte XY.________ mit Strafbefehl vom 4. Februar 2015 wegen mehrfachen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfacher Fälschung von Ausweisen zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je CHF 30.--, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren, und zu einer Busse von CHF 300.--. Der Strafbefehl wurde mit eingeschriebener Post an "X.________" verschickt. Er wurde am 17. Februar 2015 an die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt retourniert. Er wurde mit Begleitschreiben vom 1. Oktober 2015 von der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt in Kopie dem Rechtsvertreter von Y.________ zugestellt, den diese inzwischen beigezogen hatte. Die Kopie des Strafbefehls ging am 8. Oktober 2015 beim Rechtsvertreter ein.
B.
Mit Eingabe vom 14. Oktober 2015 erhob Y.________ bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt Einsprache gegen den Strafbefehl. Sie machte geltend, sie habe weder den Strafbefehl noch die Abholungseinladung erhalten. Der Grund hiefür liege wohl darin, dass seit ihrer Heirat (am 21. Dezember 2007) ihr Briefkasten mit ihrem neuen Namen "Y.________" und nicht mehr mit ihrem Mädchennamen "X.________" angeschrieben sei. Der an "X.________" gerichtete Strafbefehl sei demnach falsch adressiert gewesen. Die Zustellfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gelte jedoch nur, wenn die eingeschriebene Postsendung richtig und korrekt adressiert sei. Dies treffe vorliegend nicht zu.
Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft von einer rechtsgültigen Zustellung des Strafbefehls ausgehen sollte, verlangte Y.________ vorsorglich gestützt auf Art. 94 StPO die Wiederherstellung der Einsprachefrist. Es treffe sie schlicht überhaupt keine Schuld daran, dass sie gegen den Strafbefehl keine Einsprache erhoben habe. Y.________ ersuchte die Staatsanwaltschaft gestützt auf Art. 356 Abs. 2 StPO, die Frage, ob eine gültige Einsprache vorliege, zusammen mit der Hauptsache dem erstinstanzlichen Gericht vorzulegen. Zudem ersuchte sie um Akteneinsicht.
C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt wies das Wiederherstellungsgesuch mit Verfügung vom 22. Oktober 2015 ab. Gleichzeitig verfügte sie, dass Y.________ Akteneinsicht gewährt werde und dass die Verfahrensakten danach ohne weitere Mitteilung an das Strafgericht Basel-Stadt, Abteilung Einsprachen, überwiesen werden.
Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, wies die von Y.________ gegen die Abweisung des Wiederherstellungsgesuchs erhobene Beschwerde am 3. Dezember 2015 ab.
D.
Y.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, der Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt sei aufzuheben. Die Frist zur Einsprache gegen den Strafbefehl sei wiederherzustellen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
E.
Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt hat sich innert Frist nicht vernehmen lassen.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe nicht mit einer eingeschriebenen Postsendung einer Strafbehörde rechnen müssen. Sie sei am 17. Oktober 2014 lediglich polizeilich einvernommen worden. Dies habe kein Prozessrechtsverhältnis begründet. Die Voraussetzungen der Zustellfiktion gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO seien daher nicht erfüllt. Die Beschwerdeführerin macht im Weiteren geltend, sie heisse seit ihrer Heirat nicht mehr "X.________", sondern "Y.________". Entsprechend sei ihr Briefkasten mit dem Namen "Y.________" angeschrieben. Der Strafbefehl sei an eine "X.________" adressiert gewesen. Der Name "Y.________" sei nicht erwähnt worden. Sie habe nicht damit rechnen müssen, dass eine allfällige Postsendung einer Strafbehörde an sie einzig mit dem Namen "X.________" beschriftet sein könnte. Es sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass keine Abholungseinladung betreffend einen Strafbefehl in ihren Briefkasten gelegt worden sei. Die Vorinstanz habe in überspitzt formalistischer Art und Weise die Voraussetzungen für eine Zustellfiktion gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO als gegeben erachtet.
Was die Beschwerdeführerin damit in kritischer Auseinandersetzung mit den Erwägungen der Vorinstanz vorbringt, betrifft nicht die Frage der Wiederherstellung einer versäumten Frist gemäss Art. 94 StPO, sondern die Frage der rechtsgültigen Zustellung des Strafbefehls.
2.
2.1. Die Beschwerdeführerin erhob mit ihrer Eingabe vom 14. Oktober 2015 Einsprache gegen den Strafbefehl vom 4. Februar 2015. Sie ging davon aus, dass ihr der Strafbefehl erst am 8. Oktober 2015 gültig zugestellt worden sei und erst damit die Einsprachefrist von 10 Tagen zu laufen begonnen habe. Die Einsprache sei somit rechtzeitig erfolgt. Entgegen dem Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 1. Oktober 2015 sei ihr der Strafbefehl nicht bereits im Februar 2015 zugestellt und sei zu keinem Zeitpunkt eine Abholungseinladung betreffend den Strafbefehl in ihren Briefkasten gelegt worden.
Damit stellt sich die Frage, ob die Einsprache vom 14. Oktober 2015 gültig ist.
2.2. Ist die Gültigkeit der Einsprache gegen den Strafbefehl umstritten, so entscheidet darüber nicht die Staatsanwaltschaft, sondern das erstinstanzliche Gericht (Art. 356 Abs. 2 StPO; BGE 140 IV 192 E. 1.3; Urteile 6B_756/2014 vom 16. Dezember 2014 E. 2; 6B_1155/2014 vom 19. August 2015 E. 1; a.A. MICHAEL DAPHINOFF, Das Strafbefehlsverfahren in der Schweizerischen Strafprozessordnung, Diss. Freiburg 2012, S. 633 ff.). Ungültig ist die Einsprache unter anderem, wenn sie verspätet ist (Urteil 6B_1155/2014 vom 19. August 2015 E. 1; Botschaft des Bundesrates vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1292 Ziff. 2.8.1; FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 356 StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 356 StPO; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse, 2012, N. 997 zu Art. 352 ff. StPO). Verspätet ist die Einsprache, wenn sie nicht innert 10 Tagen bei der Staatsanwaltschaft erhoben wird (Art. 354 Abs. 1 StPO e contrario).
2.3. Fristen, die durch eine Mitteilung oder den Eintritt eines Ereignisses ausgelöst werden, beginnen am folgenden Tag zu laufen (Art. 90 Abs. 1 StPO). Eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als abgeholt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). Bei eingeschriebenen Postsendungen gilt eine widerlegbare Vermutung, dass der oder die Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert worden ist. Es findet in diesem Fall eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als bei Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten des Empfängers ausfällt, der den Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung erbringt. Da der Nichtzugang einer Abholungseinladung eine negative Tatsache ist, kann dafür naturgemäss kaum je der volle Beweis erbracht werden. Die immer bestehende Möglichkeit von Fehlern bei der Poststelle genügt nicht, um die Vermutung zu widerlegen. Vielmehr müssen konkrete Anzeichen für einen Fehler vorhanden sein (Urteile 1B_695/2011 vom 25. September 2012 E. 3.3; 6B_276/2013 vom 30. Juli 2013 E. 1.3; 2C_128/2012 vom 29. Mai 2012 E. 2.2; 6B_314/2012 vom 18. Februar 2013 E. 1.4.1; je mit Hinweisen). Der aus der Zugangsvermutung gezogene Schluss, der Gegenbeweis sei nicht erbracht, stellt Beweiswürdigung dar (Urteile 6B_940/2013 vom 31. März 2014 E. 2.1.4; 2C_128/2012 vom 29. Mai 2012 E. 2.4; je mit Hinweisen).
2.4. Allfällige Säumnisfolgen bei Fristen können unter Umständen mit der Wiederherstellung gemäss Art. 94 StPO behoben werden. Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie die Wiederherstellung der Frist verlangen; dabei hat sie glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft (Art. 94 Abs. 1 StPO). Das Gesuch ist innert 30 Tagen nach Wegfall des Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Innert der gleichen Frist muss die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt werden (Art. 94 Abs. 2 StPO).
Ein nicht rechtsgültig zugestellter Entscheid entfaltet indessen keine Rechtswirkung; Fristen werden nicht ausgelöst. Einem Betroffenen kann folglich auch nicht vorgehalten werden, er habe eine Frist verpasst. Eine Wiederherstellung zufolge versäumter Fristen im Sinne von Art. 94 StPO fällt insoweit ausser Betracht. Denn von der Möglichkeit zur Ergreifung eines Rechtsmittels oder eines Rechtsbehelfs kann selbstredend nur Gebrauch machen, wer einen Entscheid tatsächlich oder kraft Fiktion rechtsgültig erhalten hat (Urteile 6B_704/2015 vom 16. Februar 2016 E. 2.4; 6B_1155/2014 vom 19. August 2015 E. 2).
Die Frage nach der Wiederherstellung einer Frist zur Einsprache gegen einen Strafbefehl stellt sich mithin nur, wenn die Frist versäumt wurde. Dies setzt voraus, dass die Einsprachefrist gelaufen ist. Dies wiederum setzt voraus, dass der Strafbefehl rechtsgültig tatsächlich oder fiktiv zugestellt wurde. Gleichwohl ist die Frage der rechtsgültigen Zustellung nicht von der Staatsanwaltschaft gleichsam als Vorfrage im Verfahren der Wiederherstellung gemäss Art. 94 StPO zu beurteilen, sondern vom erstinstanzlichen Gericht im Verfahren der Einsprache gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO zu entscheiden.
2.5. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt hätte daher das Wiederherstellungsverfahren sistieren müssen, bis das erstinstanzliche Gericht über die Gültigkeit der Einsprache vom 14. Oktober 2015 und somit über die strittige Frage entschieden hätte, ob der Strafbefehl im Februar 2015 der Beschwerdeführerin rechtsgültig gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO fiktiv zugestellt worden sei (siehe Urteile 6B_1155/2014 vom 19. August 2015 E. 2; 6B_1074/2015 vom 19. November 2015 E. 2; CHRISTIAN DENYS, Ordonnance pénale: Questions choisies et jurisprudence récente, SJ 2016 II 125 ss., 131).
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt hat stattdessen zwar gemäss Ziff. 3 ihrer Verfügung vom 22. Oktober 2015 das Verfahren an das Strafgericht, Abteilung Einsprachen, weitergeleitet, doch hat sie, ohne den Entscheid des Strafgerichts betreffend die Gültigkeit der Einsprache vom 14. Oktober 2015 abzuwarten, über das von der Beschwerdeführerin (vorsorglich) eingereichte Gesuch um Wiederherstellung entschieden und dieses abgewiesen, worüber gar nicht entschieden werden müsste, wenn das erstinstanzliche Gericht die Einsprache vom 4. Oktober 2015 als gültig erachten würde.
Die Vorinstanz schützt dieses Vorgehen der Staatsanwaltschaft und weist die Beschwerde gegen die Abweisung des Wiederherstellungsgesuchs ab. Richtigerweise hätte die Vorinstanz den Entscheid der Staatsanwaltschaft betreffend die Abweisung des Wiederherstellungsgesuchs aufheben und die Staatsanwaltschaft anweisen müssen, das Wiederherstellungsverfahren zu sistieren, bis das Strafgericht, Abteilung Einsprachen, über die Gültigkeit der Einsprache vom 14. Oktober 2015 entschieden hätte.
3.
Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 3. Dezember 2015 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und hat der Kanton Basel-Stadt der Beschwerdeführerin eine Entschädigung zu zahlen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 3. Dezember 2015 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Basel-Stadt hat der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu zahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 2. Mai 2016
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Näf