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Urteilskopf

150 V 83


10. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_103/2023 vom 6. Dezember 2023

Regeste

Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 Abs. 1-3 IVV; Hilflosigkeit; Anspruch auf Hilflosenentschädigung.
Kann eine versicherte Person eine alltägliche Lebensverrichtung nur in einer unüblichen Weise oder nur mit unzumutbarem Aufwand ausüben, so lässt sich daraus noch nicht unmittelbar auf eine Hilfsbedürftigkeit und damit auf eine Hilflosigkeit im Sinne von Art. 9 ATSG schliessen. Erforderlich ist vielmehr, dass die versicherte Person die fragliche Lebensverrichtung mit Hilfe Dritter auf eine Weise verrichten kann, die im Vergleich zur selbstständigen Ausübung den üblichen Gepflogenheiten entspricht bzw. mit weniger Aufwand verbunden ist (E. 4.3.2).

Sachverhalt ab Seite 84

BGE 150 V 83 S. 84

A. Der 1988 in Deutschland geborene A. leidet seit einem Skiunfall vom 15. Januar 2005 an einer inkompletten Paraplegie sub Th 8 (unterhalb des achten Brustwirbels). Nach seiner Einreise in die Schweiz am 11. Juli 2016 meldete er sich am 11. August 2017 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, wobei er einen Rollstuhl sowie Amortisationsbeiträge für sein Motorfahrzeug beantragte. Nach verschiedenen Abklärungen gewährte ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich (fortan: IV-Stelle oder Beschwerdegegnerin) am 8. Januar 2018 die anbegehrten Amortisationsbeiträge und erteilte überdies Kostengutsprache für verschiedene Anpassungen am Fahrzeug. Am 18. September 2018 sprach sie A. zudem einen Kostenbeitrag für einen neuen Rollstuhl zu. Infolge verschiedener weiterer Anmeldungen in den Jahren 2017 bis 2021 erhielt er zusätzliche Hilfsmittel. Mit Formular vom 7. Oktober 2021 (Eingang bei der IV-Stelle: 11. Oktober 2021) meldete er sich schliesslich zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an. Die IV-Stelle liess vor Ort eine Abklärung für Hilflosenentschädigung durchführen und sprach ihm mit Verfügung vom 1. April 2022 ab 1. Oktober 2020 eine Hilflosenentschädigung aufgrund leichter Hilflosigkeit zu.

B. Die dagegen gerichtete Beschwerde des A. wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Urteil vom 19. Dezember 2022).
BGE 150 V 83 S. 85

C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des kantonalen Urteils sowie der Verfügung der IV-Stelle sei ihm rückwirkend ab 1. August 2016 mindestens eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades zuzüglich Verzugszins zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Vornahme weiterer Abklärungen an die Vorinstanz oder allenfalls an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdeführer in Einklang mit der IV-Stelle ab dem 1. Oktober 2020 eine Hilflosenentschädigung bloss wegen leichter Hilflosigkeit zusprach.

3. (...)

3.2.1 Als hilflos gilt eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Die Angewiesenheit auf die Hilfe Dritter muss dabei regelmässig und erheblich sein (Art. 37 Abs. 1-3 IVV [SR 831.201]). Die richtige Auslegung und Anwendung des Begriffs der Hilflosigkeit betrifft eine Rechtsfrage (Urteil 8C_272/2022 vom 28. Oktober 2022 E. 3.4 mit Hinweisen), die als solche vom Bundesgericht frei überprüft werden kann (vgl. nicht publ. E. 1.1).
(...)

4. (...)

4.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Auffassung der Vorinstanz greife zu kurz. Ihr sei darin zuzustimmen, dass er die Darmentleerung ohne fremde Hilfe vornehme. Unzutreffend scheine sie aber im Weiteren davon auszugehen, dass es sich lediglich um einen Fall gewöhnlicher manueller Darmausräumung handle. Erst durch die Konsultationen in der Ernährungsberatung des Zentrums B. während eines Aufenthalts vom 9. August bis 7. Oktober 2021 sei es ihm gelungen, die Dauer der täglichen Darmentleerung von eineinhalb bis zwei Stunden auf den heutigen Stand von rund einer Stunde zu reduzieren. Er entleere seinen Darm einmal täglich in der Dusche
BGE 150 V 83 S. 86
mit Hilfe eines Klistieraufsatzes, mit dem er einen Einlauf mit warmem Wasser durchführe, wodurch der Stuhl aufgeweicht und teilweise ausgespült werden könne. Anschliessend entferne er den restlichen Stuhl manuell aus dem Darm. Da das Aufweichen stets einige Zeit in Anspruch nehme und oftmals nicht auf Anhieb gelinge, sei der Einlauf sehr zeitintensiv; auch das anschliessende manuelle Ausräumen des Stuhls benötige Zeit, ebenso wie das An- und Auskleiden sowie der Transfer in bzw. aus der Dusche. Hinzu komme, dass die manuelle Stimulation mittels Klistieraufsatz nicht ungefährlich sei. Dies alles führe zu einer erheblichen persönlichen Einschränkung in seiner Lebensweise, zumal er auch bei privaten und beruflichen Reisen auf eine seinen Bedürfnissen angepasste barrierefreie Umgebung bzw. Dusche angewiesen sei, um den Darm entleeren zu können. Damit liege sowohl eine unübliche Art der Verrichtung der Notdurft als auch ein unzumutbarer Aufwand im Sinne von Rz. 8026 des Kreisschreibens des BSV über die Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) vor. Entgegen der Vorinstanz sei der vorliegende Sachverhalt zudem mit den Urteilen betreffend Blasenentleerung mittels Selbstkatheterisierung vergleichbar. Es liege deshalb auf der Hand, dass die Darmentleerung mittels Darmspülung in der Dusche während mindestens einer Stunde pro Tag auch ohne Dritthilfe eine Hilflosigkeit begründe. Indem die Vorinstanz die Verrichtung der Notdurft allein danach beurteilt habe, ob der Beschwerdeführer den Darm selbstständig manuell entleere, ohne den ausserordentlichen zeitlichen und organisatorischen Aufwand sowie die Aussergewöhnlichkeit der Darmentleerung zu würdigen, habe sie den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt und den Begriff der Hilflosigkeit bundesrechtswidrig ausgelegt.

4.3 (...)

4.3.2 Zur Begründung seiner Hilflosigkeit macht der Beschwerdeführer unter Hinweis auf das Urteil 8C_674/2007 vom 6. März 2008 E. 6 im Kern geltend, er könne die Notdurft nur auf unübliche Weise und mit unzumutbarem Aufwand verrichten. Im erwähnten Urteil habe das Bundesgericht bei einem Versicherten, der sechsmal täglich einen Katheter zur Blasenentleerung habe einsetzen müssen, die Hilflosigkeit wegen der Unüblichkeit der Notdurftverrichtung bejaht, obwohl es am Erfordernis einer effektiven Dritthilfe gefehlt habe.

4.3.2.1 Wie sich aus dem nach wie vor wegweisenden Urteil BGE 106 V 153 ergibt, auf dem sowohl das von der Vorinstanz als auch
BGE 150 V 83 S. 87
das vom Beschwerdeführer zitierte Urteil beruhen, greift diese Argumentation zu kurz. In der Tat erkannte das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht (heute: Dritte und Vierte öffentlich-rechtliche Abteilungen des Bundesgerichts) in Erwägung 2b des besagten Urteils, dass die Voraussetzung der Angewiesenheit auf Dritthilfe grundsätzlich als erfüllt zu betrachten ist, wenn die versicherte Person eine alltägliche Lebensverrichtung nur in einer nicht den üblichen Gepflogenheiten entsprechenden Weise auszuführen vermag. Die dort beurteilte Fallkonstellation ist mit der vorliegenden jedoch nicht vergleichbar. Fraglich war, ob eine in einem Heim lebende Versicherte auch bei der alltäglichen Lebensverrichtung "Essen" auf Hilfe angewiesen war. Die Hilfe des Personals bei dieser Lebensverrichtung beschränkte sich darauf, die Versicherte im Rollstuhl in den Speisesaal zu bringen, wo sie dann selbstständig ass, indem sie die Nahrung mit den Fingern zum Mund führte. Das Eidgenössische Versicherungsgericht erwog, dass die Voraussetzung der Angewiesenheit auf Dritthilfe beim Essen zweifellos als erfüllt betrachtet würde, wenn der Versicherten die Speisen von einer Drittperson angereicht worden wären. Es wäre unbillig, ja geradezu stossend, wenn der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung nur deswegen verneint würde, weil die Versicherte, sich selber überlassen, mit den Fingern zu essen vermochte.

4.3.2.2 Wie sich daraus ergibt, lässt sich aus dem Umstand, dass die versicherte Person eine alltägliche Lebensverrichtung nur in einer unüblichen Weise ausüben kann, nicht unmittelbar auf eine Hilfsbedürftigkeit und damit auf eine Hilflosigkeit bei dieser Lebensverrichtung schliessen. Vielmehr ist hierfür auch erforderlich, dass die versicherte Person die fragliche Lebensverrichtung mit Hilfe Dritter im Vergleich zur selbstständigen Ausübung auf eine den üblichen Gepflogenheiten entsprechende bzw. würdigere Art und Weise vornehmen kann. Gleiches gilt, soweit die Rechtsprechung zur Bejahung der Hilfsbedürftigkeit daran anknüpft, dass die versicherte Person eine Lebensverrichtung nur mehr mit unzumutbarem Aufwand ausüben kann (vgl. Urteile 8C_533/2019 vom 11. Dezember 2019 E. 3.2.3; 9C_560/2017 vom 17. Oktober 2017 E. 4.3; 9C_809/2015 vom 10. August 2016 E. 5.1.2; jeweils mit Hinweis auf Rz. 8026 KSIH). Auch dort ist zu verlangen, dass es der versicherten Person durch die Hilfe Dritter möglich ist, die fragliche Lebensverrichtung in einer weniger aufwändigen Weise vorzunehmen.
BGE 150 V 83 S. 88
Sollte das vom Beschwerdeführer zitierte Urteil 8C_674/2007 vom 6. März 2008 E. 6 dahingehend zu verstehen sein, dass die Hilflosigkeit bei der Verrichtung der Notdurft allein deshalb bejaht wurde, weil die sechsmal tägliche Blasenentleerung mittels Katheters als unüblich eingestuft wurde (vgl. diesbezüglich auch Rz. 8021 der hier anwendbaren Fassung des KSIH vom 1. Januar 2021), kann daran nach dem Gesagten nicht festgehalten werden. Gleiches gilt hinsichtlich des Urteils des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 431/86 vom 3. Februar 1988, in welchem das Ausräumen des Darms von Hand als eine unübliche Art und Weise der Notdurftverrichtung eingestuft wurde, ohne in diesem Zusammenhang auf die Angewiesenheit auf Hilfe Dritter einzugehen (vgl. E. 2d des Urteils).

4.3.2.3 Vor diesem Hintergrund sind die Vorbringen des Beschwerdeführers nicht stichhaltig. Wie er geltend macht, erscheint die von ihm praktizierte Verrichtung der Notdurft zwar durchaus als mit erheblichem Aufwand verbunden und unüblich. Er legt jedoch nicht dar und es ist auch nicht ersichtlich (vgl. nicht publ. E. 4.1 und vorne E. 4.2), inwiefern es ihm durch die Hilfe Dritter möglich wäre, seine Notdurft in einer üblicheren und weniger aufwändigen bzw. belastenden Weise zu verrichten. Fehlt es im Zusammenhang mit dieser Lebensverrichtung somit von vornherein an der Notwendigkeit erheblicher Hilfe Dritter, so verstösst die vorinstanzliche Schlussfolgerung, der Beschwerdeführer sei in der alltäglichen Lebensverrichtung "Notdurft" nicht hilflos im Sinne von Art. 9 ATSG, nicht gegen Bundesrecht. Da der Beschwerdeführer lediglich in drei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, ist auch die Zusprache einer Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit nicht zu beanstanden.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4

Referenzen

BGE: 106 V 153

Artikel: Art. 9 ATSG, Art. 37 Abs. 1-3 IVV, Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG