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Urteilskopf

118 IV 91


18. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 27. Januar 1992 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich

Regeste

Art. 346 und 350 StGB; Gerichtsstand bei Handlungseinheit/-mehrheit.
Treffen mehrere strafbare Handlungen zusammen, bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 346 StGB, wenn die einzelnen Handlungen eine juristische Handlungseinheit ("Kollektivdelikt") bilden. In den übrigen Fällen einer Handlungsmehrheit bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 350 Ziff. 1 StGB (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 91

BGE 118 IV 91 S. 91

A.- Der türkische Staatsangehörige M. und seine Begleiterin B., deutsche Staatsangehörige, wurden am 23. August 1991 kontrolliert, nachdem bei der Kantonspolizei Aargau in Laufenburg/AG eine Meldung eingegangen war, dass in einem Personenwagen mit deutschen Kontrollschildern in Schwaderloch/AG jemand schlafe. Mit Hilfe eines Drogenhundes konnten in der Nähe des Fahrzeuges vergraben etwa ein halbes Gramm Heroin und Fr. 3'730.-- Bargeld aufgefunden werden. M. und B. wurden durch die Kantonspolizei Aargau angehalten und gestützt auf einen Haftbefehl des Bezirksamtmanns Laufenburg gleichentags in Haft genommen. Die Kantonspolizei Aargau eröffnete gegen die beiden Verhafteten ein polizeiliches
BGE 118 IV 91 S. 92
Ermittlungsverfahren wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; M. wird zudem das Führen eines Personenwagens ohne Führerausweis und unter Drogeneinfluss zur Last gelegt.
Während M. jegliche strafbare Handlung leugnete, erklärte die stark drogenabhängige B., M. habe auf dem Platzspitz in Zürich während etwa drei Monaten regelmässig ein paar Male pro Woche je ca. 30 Gramm Heroin oder Kokain gehandelt; kurz vor dem Eingreifen der Polizei habe er ihr das aus dem Drogenverkauf jenen Tages stammende Geld zum Wegwerfen übergeben; M. habe in Zürich Heroin oder Kokain gehandelt und ihr auch zum Konsum davon abgegeben.
Gestützt auf eine Verfügung des Bezirksamtes Laufenburg vom 29. Oktober 1991, welcher der Schlussbericht der Kantonspolizei Aargau vom 22. Oktober 1991 zugrunde liegt, ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau am 1. November 1991 die Bezirksanwaltschaft Zürich um eine Stellungnahme zur Gerichtsstandsfrage.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich lehnte eine Übernahme des Verfahrens am 11. November 1991 ab. Auch der nachfolgende Meinungsaustausch zwischen den beteiligten Staatsanwaltschaften führte zu keiner Einigung.
Die strafbaren Handlungen von B., gegen welche bereits in Deutschland ein Verfahren unter anderem wegen Betäubungsmitteldelikten hängig ist, und die kurz nach ihrer Festnahme wieder nach Deutschland ausreisen konnte, bilden nicht Gegenstand des Gerichtsstandsverfahrens.

B.- Mit Gesuch vom 20. Dezember 1991 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau der Anklagekammer des Bundesgerichts, es seien die Behörden des Kantons Zürich zur Verfolgung und Beurteilung von M. berechtigt und verpflichtet zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt sinngemäss, das Gesuch abzuweisen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. Für die Bestimmung des Gerichtsstandes nach Art. 346 ff. StGB ist folgende Unterscheidung zu treffen:
a) Eine strafbare Handlung im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit liegt dann vor, wenn das gesamte, auf einem einheitlichen Willensakt (einheitliches Ziel, einmaliger Entschluss) beruhende (NOLL/TRECHSEL, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I, S. 232; vgl.
BGE 118 IV 91 S. 93
auch SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. I, S. 131 f.) Tätigwerden des Täters kraft eines engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs der Einzelakte bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv noch als ein einheitliches, zusammengehörendes Geschehen erscheint (vgl. BGE 98 IV 106; STRATENWERTH, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I, § 19 N 11; NOLL/TRECHSEL, a.a.O., S. 232; hierzu sind auch das zusammengesetzte Delikt sowie andere Fälle unechter Gesetzeskonkurrenz zu zählen), indem in diesen Fällen durch mehrere Einzelhandlungen ein einheitlicher "Deliktserfolg" herbeigeführt wird (vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, StGB Kommentar, 23. Auflage, Vorbem. §§ 52 ff. N 17). Wird dem Beschuldigten eine solche strafbare Handlungseinheit vorgeworfen - die durchaus an mehreren Orten ausgeführt worden sein kann -, bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 346 StGB.
b) Werden dem Beschuldigten dagegen mehrere strafbare Handlungen im Sinne mehrerer natürlicher Handlungseinheiten (natürliche Handlungsmehrheit) zur Last gelegt, so findet Art. 350 StGB Anwendung.
c) Mehrere an sich selbständige strafbare Handlungen im Sinne einer natürlichen Handlungsmehrheit (von denen eigentlich jede einen bestimmten Tatbestand erfüllen würde) werden mitunter durch ihre gesetzliche Umschreibung im Tatbestand (gewerbsmässiges Delikt, bandenmässiges Delikt, Dauerdelikt) oder durch Lehre/Rechtsprechung (fortgesetztes Delikt) zu einer rechtlichen (BGE 108 IV 143 E. 1) oder juristischen (NOLL/TRECHSEL, a.a.O., S. 232) Handlungseinheit verschmolzen (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil, S. 348 spricht von "Verbrechenseinheit"); diese juristische Handlungseinheit wird auch als Kollektivdelikt bezeichnet (vgl. BGE 77 IV 9 E. 3: Gewerbsmässigkeit; SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, N 84; HAUSER/REHBERG, Strafrecht I, S. 195; STRATENWERTH, a.a.O., § 19 N 20; SCHULTZ, a.a.O., S. 230; SCHWANDER, Das Schweiz. StGB, Nr. 327; SCHMID, recht 1991, 134). Gekennzeichnet ist die so umschriebene rechtliche Einheit objektiv durch gleichartige Handlungen, die gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sind und in einem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen (BGE 102 IV 78; vgl. auch BGE 116 IV 125), und subjektiv durch einen alle Handlungen umfassenden Entschluss (vgl. BGE 116 IV 125) bzw. Gesamtvorsatz (BGE 102 IV 78).
Der Gerichtsstand bestimmt sich in diesem Fall ebenfalls nach Art. 346 StGB (vgl. BGE 112 IV 63 E. 1, mit Hinweis; BGE 91 IV 170; BGE 86 IV 63, mit Hinweisen).
BGE 118 IV 91 S. 94
d) Mitunter werden unter bestimmten Voraussetzungen auch weitere an sich selbständige Delikte, die nicht Teil eines Kollektivdelikts im dargelegten Sinn bilden, zu diesem in einen Kollektivzusammenhang gestellt. Dies ist etwa der Fall, wenn gewerbsmässige und einzelne nicht gewerbsmässige (versuchte oder vollendete) strafbare Handlungen zusammentreffen (vgl. BGE 105 IV 158 E. 2): Vom Kollektivdelikt werden die einzelnen nichtgewerbsmässigen Handlungen indessen nur dann umfasst, wenn diese als Teilhandlungen des Gewerbes erscheinen, das heisst zu den gewerbsmässig verübten Handlungen zumindest in einem äusseren Zusammenhang - zeitlich und nach Art ihres Gegenstandes - stehen (vgl. BGE 108 IV 144, mit Hinweisen). Ein solcher Kollektivzusammenhang (in der deutschen Lehre auch als "durchlaufende Handlungseinheit oder Idealkonkurrenz durch Klammerwirkung bezeichnet: SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, a.a.O., Vorbem. §§ 52 ff. N 20) bewirkt, dass alle dem Täter unter diesem Titel zur Last gelegten gleichartigen Delikte auch gleich zu behandeln sind und als mit derselben Strafe bedroht zu gelten haben (vgl. BGE 105 IV 159).
Da in diesem Fall keine juristische Handlungseinheit im oben dargelegten Sinn gegeben ist, bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB (vgl. BGE 105 IV 159).

5. a) Die vorstehend dargelegten Voraussetzungen für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit sind im vorliegenden Fall bezüglich der allfälligen Abgabe des halben Gramms Heroin im Kanton Aargau nicht erfüllt; denn es kann nicht gesagt werden, diese bilde mit dem Verkauf in Zürich bei natürlicher Betrachtung eine auf einem einheitlichen Willensakt beruhende Einheit im Sinne eines zusammenhängenden Geschehens. In bezug auf den Beschuldigten ist vielmehr grundsätzlich von einer Handlungsmehrheit auszugehen.
b) Die hier in Frage stehenden strafbaren Handlungen des Verkaufs im Kanton Zürich und der Abgabe im Kanton Aargau können entgegen der Auffassung der Gesuchsgegnerin auch nicht als juristische Handlungseinheit im Sinne eines fortgesetzten Deliktes betrachtet werden. Dazu fehlt es an dem dazu erforderlichen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden Handlungen, die auch nicht als gleichartig bezeichnet werden können. Es kommt hinzu, dass den Akten keine Anhaltspunkte für einen beide Tatbestandsvarianten umfassenden Gesamtvorsatz entnommen werden können.
c) Bezüglich der Abgabe von Heroin im Kanton Aargau und dem Drogenverkauf in Zürich fehlt es auch an einem Kollektivzusammenhang,
BGE 118 IV 91 S. 95
da die Abgabe von Heroin im Kanton Aargau in zeitlicher Hinsicht zwar nur kurze Zeit später geschah, nach Art des Delikts aber klarerweise keinen äusseren Zusammenhang im Sinne einer eigentlichen Teilhandlung des Verkaufs aufweist.
d) Da im vorliegenden Fall somit von einer Handlungsmehrheit auszugehen ist, bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 350 StGB.

6. Es ist somit zu prüfen, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt wurde.
a) Das Bundesgericht hat in Präzisierung der Rechtsprechung in BGE 114 IV 167 entschieden, es sei nicht zulässig, die Annahme eines schweren Falles im Sinne von Art. 19 Ziff. 2 BetmG bei wiederholter Tatbegehung grundsätzlich auszuschliessen, wenn keine der einzelnen Widerhandlungen sich auf eine Menge beziehe, die die Gesundheit vieler Menschen gefährden könne; denn wenn schon eine (einzelne oder fortgesetzte) Widerhandlung einen schweren Fall darstelle, sofern die gehandelte Menge von Betäubungsmitteln die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen könne, dann müssten unter derselben Voraussetzung auch mehrere Widerhandlungen einen schweren Fall bilden können; nach dem Sinn des Gesetzes sollten jene Taten als schwere Fälle gewertet werden, die objektiv und subjektiv schwer wiegen; ein schwerer Fall liege somit bei wiederholter Tatbegehung vor, sofern der Täter durch seine wiederholten Handlungen insgesamt eine Betäubungsmittelmenge umsetze, welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen könne (E. 2b).
b) Es fragt sich somit, ob im vorliegenden Fall die unentgeltliche Abgabe des halben Gramms Heroin im Kanton Aargau im Lichte dieser Rechtsprechung ebenfalls als Teil eines insgesamt schweren Falles zu betrachten sei. Es erscheint zunächst fraglich, ob diese Rechtsprechung auch auf Fälle anzuwenden ist, in welchen - wie hier - einzelne Widerhandlungen als solche bereits schwere Fälle im Sinne von Art. 19 Ziff. 2 BetmG darstellen, da diesfalls kein Bedürfnis besteht, mittels Zusammenfassung der in Verkehr gebrachten Teilmengen einen ohne dieses Zusammenfassen nicht erfüllten (gesetzlich nicht vorgesehenen) schweren Fall sui generis (vgl. BGE 114 IV 168) zu konstruieren. Von einer wiederholten Widerhandlung kann zudem nur die Rede sein, wenn mehrere gleichartige Delikte vorliegen (vgl. HAFTER, a.a.O., S. 373). Als in diesem Sinne wiederholt (erneut, mehrmals) begangen könnten im vorliegenden Fall nur die zum eigentlichen Betäubungsmittelhandel (vgl. auch BGE 114 IV 167 E. 2b, wo es lediglich um die gehandelten
BGE 118 IV 91 S. 96
bzw. transportierten Mengen ging) gehörenden Handlungskomplexe bezeichnet werden, die offensichtlich auf das Erzielen eines Gewinns ausgerichtet waren; die unentgeltliche Abgabe einer geringen Menge Heroins (an eine bereits Süchtige) unterscheidet sich jedoch klar von den zum eigentlichen Handel gehörenden Aktivitäten und könnte daher kaum ebenfalls als schwerer Fall bezeichnet werden. Die Frage braucht im vorliegenden Fall indessen nicht entschieden zu werden, da im Kanton Zürich auch das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit des Beschuldigten liegt.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 4 5 6

Referenzen

BGE: 102 IV 78, 116 IV 125, 105 IV 159, 114 IV 167 mehr...

Artikel: Art. 346 StGB, Art. 346 und 350 StGB, Art. 19 Ziff. 2 BetmG, Art. 350 Ziff. 1 StGB mehr...