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Urteilskopf

125 I 21


4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. Oktober 1998 i.S. Grüne Bewegung Uri (u.a.) gegen Landrat des Kantons Uri (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 85 lit. a OG; Urner Volksinitiative `für gleiche Wahlchancen' ("Wahlchanceninitiative").
Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 2 BV im Allgemeinen (E. 3a) und zu Frauenquoten im Besonderen (E. 3b); Auseinandersetzung mit der hieran geübten Kritik (E. 3c und 3d).
Als Gleichstellungsmassnahmen kommen auch ergebnisbezogene Quoten in Betracht (E. 3d/aa; Präzisierung von BGE 123 I 152).
Die quotenmässige Zuteilung von Volkswahl-Mandaten stellt eine unzulässige Einschränkung des freien und gleichen Wahlrechts dar (E. 3d/dd).
Kriterien für die Beurteilung von Quotenregelungen nach Völkerrecht (E. 4).
Beurteilung der Gleichstellungsmassnahmen der `Wahlchanceninitiative': Quoten für Behörden und Kommissionen, die direkt vom Volk gewählt werden (E. 5a); Quoten für Behörden und Kommissionen, die nur indirekt vom Volk gewählt werden (E. 5b); Quoten für Majorzwahlen und Wahlvorschlagsquoten für Proporzwahlen zum Landrat (E. 5c); Teilgültigkeit der Initiative (E. 7).
Befristungsproblematik (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 22

BGE 125 I 21 S. 22
Am 15. April 1996 wurde dem Regierungsrat des Kantons Uri die Volksinitiative "für gleiche Wahlchancen (Wahlchancen-Initiative)" mit folgendem Wortlaut eingereicht:
"Die Verfassung des Kantons Uri ist durch den folgenden Artikel 75bis
(Gleichstellung der Geschlechter) zu ergänzen:
1 Alle Behörden und Kommissionen, die vom Volk gewählt oder durch gewählte Organe bestimmt werden, sind annähernd je zur Hälfte mit Frauen und Männern besetzt. Jedes Geschlecht ist jedoch mindestens zu einem Drittel vertreten. Für den Landrat gelten die Vorschriften der Absätze 2 und 3.
2 Bei den Landratswahlen in Gemeinden, in denen nach Proporzsystem gewählt wird, beträgt die zahlenmässige Differenz zwischen Frauen und Männern auf den gedruckten Wahllisten höchstens eins.
BGE 125 I 21 S. 23
3 Bei den Landratswahlen in Gemeinden, denen nur ein Sitz zusteht, wird eine Kandidatin oder ein Kandidat gewählt. In Gemeinden mit zwei Sitzen werden je eine Frau und ein Mann gewählt.
Übergangsbestimmungen:
1 Nimmt ein gewähltes Organ Ersatzwahlen für eine Behörde oder Kommission vor, hat jedes Geschlecht Anspruch auf jede zweite Nachfolge, bis das Minimalziel von Artikel 75bis Abs. 1 erfüllt ist.
2 Bei der ersten nach den Bestimmungen von Artikel 75bis durchgeführten Gesamterneuerungswahl von Behörden oder Kommissionen, die vom Volk im Majorz gewählt werden, gilt folgende Ausnahme: Personen, die bereits bisher Mitglieder der gleichen Behörde oder der gleichen Kommission waren und wiedergewählt werden, gelten auch dann als gewählt, wenn das Ziel von Artikel 75bis noch nicht erfüllt ist.
3 Bei der ersten Gesamterneuerungswahl des Landrates nach Annahme von Artikel 75bis beträgt in den Gemeinden, in denen nach Proporz gewählt wird, der Anteil jedes Geschlechts auf den gedruckten Wahllisten mindestens je 30 Prozent."
Der Regierungsrat erstattete am 22. April 1997 Bericht und Antrag an den Landrat des Kantons Uri. Er führte aus, die Initiative wirke sich diskriminierend aus. Sie führe dazu, dass in konkreten Wahlen ein Mann oder eine Frau wegen des Geschlechts nicht wählbar sei. Dies verletze den Anspruch der Kandidaten und Kandidatinnen auf rechtsgleiche Behandlung und, soweit Volkswahlen betroffen seien, auch die Wahl- und Abstimmungsfreiheit der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen. Desgleichen schränke die unterbreitete Wahlvorschlagsquote für die Landratswahlen in den Proporzgemeinden die Auswahlfreiheit der Stimmberechtigten ein. Dafür gebe es keine Rechtfertigung. Der Regierungsrat beantragte deshalb, die Wahlchancen-Initiative sei für ungültig zu erklären und nicht dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Der Landrat folgte mit Beschluss vom 4. Juni 1997 dem Antrag des Regierungsrats.
Die Grüne Bewegung Uri, Annalise Russi, Doris Rosenkranz, Raphael Brand und Alf Arnold Rosenkranz haben gegen die Ungültigerklärung der Initiative eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht und beantragen die Aufhebung des Beschlusses des Landrates. Eventualiter sei der Beschluss im Umfang der Teilgültigkeit der Wahlchancen-Initiative aufzuheben. Die Beschwerdeführerinnen und die Beschwerdeführer (nachfolgend: Beschwerdeführerinnen) machen eine Verletzung ihrer politischen Rechte geltend.
BGE 125 I 21 S. 24
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut

Erwägungen

aus folgenden Erwägungen:

3. a) Im Mittelpunkt der Rechtserörterungen steht Art. 4 Abs. 2 BV. Diese Bestimmung umfasst drei Sätze: Satz 1 statuiert die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Nach Satz 2 hat das Gesetz - vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit - für die Gleichstellung von Frauen und Männern zu sorgen. Satz 3 legt das Lohngleichheitsprinzip fest. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gewährleistet Satz 1 ein verfassungsmässiges Recht, das mit bestimmten Ausnahmen eine rechtliche Differenzierung nach dem Geschlecht verbietet und unmittelbar anwendbar ist. Eine unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau ist nur zulässig, wenn auf dem Geschlecht beruhende biologische oder funktionale Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschliessen (BGE 108 Ia 22 E. 5a S. 29 und nachfolgend bestätigt in BGE 123 I 152 E. 3a S. 156; BGE 120 V 312 E. 2a S. 314; BGE 117 Ia 262 E. 2a S. 264, 270 E. 2a S. 272; BGE 117 V 318 E. 2a S. 321; BGE 116 V 198 E. II/ 2a/bb S. 208). Gemäss Satz 2 ist der Gesetzgeber beauftragt, die Gleichstellung von Mann und Frau zu verwirklichen. Hieraus ergibt sich die staatliche Aufgabe, tatsächliche Gleichstellung in der sozialen Wirklichkeit zu schaffen (BGE 116 Ib 270 E. 7a S. 283, 284 E. 7a S. 297; bestätigt in BGE 123 I 152 E. 3a S. 156 f. und BGE 117 V 194 E. 4a S. 196). In diesem Sinn nimmt die Rechtsprechung eine Zweiteilung vor: Satz 1 statuiert das Diskriminierungsverbot als formalrechtliche Gleichstellung und Satz 2 das Egalisierungsgebot als Auftrag, materielle Chancengleichheit zu schaffen. Das Lohngleichheitsprinzip gemäss Satz 3 ist im vorliegenden Zusammenhang nicht relevant.
Nach den zitierten Präjudizien versteht das Bundesgericht den Geschlechtergleichheitssatz als formelles Diskriminierungsverbot. Der formalrechtliche Charakter ist allerdings insoweit durchbrochen, als aufgrund biologischer und funktionaler Unterschiede der Geschlechter Differenzierungen erforderlich sind. In dieser Hinsicht weist auch Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV einen Aspekt materieller Gleichstellung auf (s. CHRISTA TOBLER, Quoten und Verständnis der Rechtsgleichheit der Geschlechter im schweizerischen Verfassungsrecht, unter vergleichender Berücksichtigung der EuGH-Entscheidung Kalanke, in: Frauenförderung durch Quoten, Hrsg. KATHRIN ARIOLI, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 68). Die Erforderlichkeit politischer Quoten kann nicht mit biologischen oder funktionalen Unterschieden
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der Geschlechter begründet werden. Quotenregelungen lassen sich nach der gegenwärtigen Rechtsprechung nicht auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV abstützen. Indessen umfasst der in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV enthaltene Auftrag an den Gesetzgeber, die tatsächliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau herbeizuführen, den Erlass positiver Gleichstellungsmassnahmen. Dies schliesst Frauenförderungsmassnahmen mit ein. Wieweit solche Massnahmen unter Satz 2 von Art. 4 Abs. 2 BV fallen, hängt davon ab, welche Tragweite man dem Begriff der materiellen Chancengleichheit zumisst, der dem Egalisierungsgebot zugrunde liegt.
b) Im Zusammenhang mit der "Solothurner Quoteninitiative" hatte das Bundesgericht erstmals Gelegenheit, sich zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit politischer Quoten zu äussern (BGE 123 I 152). Zum Verhältnis von Satz 1 zu Satz 2 des Art. 4 Abs. 2 BV wird in den Erwägungen ausgeführt, dass die Verfassungsbestimmung positive Massnahmen zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung - insbesondere Frauenförderungsmassnahmen - zulasse und damit unter Umständen ein Abweichen vom Diskriminierungsverbot erlaube, sofern die Förderungsmassnahmen in einem vernünftigen Verhältnis zum Regelungsziel stehen, d.h. sich gestützt auf eine Interessenabwägung als verhältnismässig erweisen (E. 3b S. 157 f.). Die `Solothurner Quoteninitiative' verlangte eine dem Bevölkerungsanteil entsprechende Vertretung von Frauen und Männern in Parlament, Regierung und Gerichten. Das Bundesgericht erblickte in einer solchen Quotenregelung ein Abweichen vom Diskriminierungsverbot, wofür es nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit keine Rechtfertigung gebe. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit untersuchte es, ob die unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau für die Erfüllung des Auftrags zur Herstellung der tatsächlichen Gleichstellung im konkreten Fall geeignet und erforderlich sei und ob das Zweck-Mittel-Verhältnis stimme. Es führte dazu u.a. aus, es gehe bei dem in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV enthaltenen Gebot um die rechtliche und faktische Möglichkeit eines jeden, seine Stellung in der Gesellschaft ohne Einfluss geschlechtsspezifischer Hemmnisse zu gestalten. Die angestrebte Gleichheit sei eine Gleichheit der Chancen und nicht des Resultats. Eine Quotenregelung, welche eine paritätische Vertretung der Geschlechter vorschreibe oder anstrebe, ziele auf Ergebnisgleichheit ab und gehe damit über das Ziel des in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV enthaltenen Egalisierungsgebots hinaus. Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV biete keine Handhabe für eine paritätische Verteilung der politischen
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Mandate und Richterstellen zwischen Männern und Frauen. Das Bundesgericht hielt deshalb die vorgeschlagene Quotenregelung für kein geeignetes Mittel zur Verwirklichung tatsächlicher Gleichstellung (E. 5b S. 164 f.). Hinsichtlich der Voraussetzung der Erforderlichkeit folgte es der Ansicht der Solothurner Regierung. Diese hatte ausgeführt, dass sich die Wahlchancen der Frauen im Kanton Solothurn zu Beginn der 90er Jahren erheblich verbessert hätten (Frauenanteil im Kantonsrat von 34,7%) und dass in den nächsten Jahren eine langsame Annäherung der Sitzzahlen der Geschlechter im Parlament zu erwarten sei. Deshalb könne auf harte Massnahmen, wie Quotenregelungen es seien, verzichtet werden (E. 6 S. 167 ff.). Das Bundesgericht erachtete sodann die Verhältnismässigkeit im engeren Sinn (Zweck-Mittel-Relation) als verletzt, da die vorgeschlagene Quotenregelung keine Rücksicht auf die Qualifikation der Bewerber nehme (E. 7b S. 169 ff.).
Schliesslich prüfte das Bundesgericht die vorgeschlagene Quotenregelung in Bezug auf vom Volk gewählte Behörden unter dem Gesichtspunkt des Stimm- und Wahlrechts. Es hielt fest, dass das allgemeine, freie und gleiche Stimm- und Wahlrecht grundsätzlich absolut gelte und dass Einschränkungen nur zulässig seien, um ein Wahlsystem zu verwirklichen. Das Abstellen auf das Geschlecht sei keine solche systembedingte Abweichung. Das Geschlecht sei deshalb sowohl in Bezug auf das aktive wie auch das passive Wahlrecht grundsätzlich ein unzulässiges Kriterium. Werde das Geschlecht zum determinierenden Kriterium erhoben, könne der freie Willen der Stimmbürger nicht mehr zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck kommen. Das Bundesgericht nahm deshalb an, die vorgeschlagene Initiative kollidiere - soweit sie vom Volk gewählte Behörden betraf - auch mit den politischen Rechten beider Geschlechter (E. 8 S. 171 ff.).
c) Der bundesgerichtliche Quotenentscheid ist in der Lehre unterschiedlich aufgenommen worden. Im folgenden Überblick sollen hauptsächlich die Punkte stichwortartig aufgezeigt werden, die zu abweichenden Meinungsäusserungen Anlass gegeben haben und auf welche im Rahmen der Beurteilung der vorliegenden Quoteninitiative - soweit erforderlich - einzugehen ist.
Das Quotenurteil hat bei YVO HANGARTNER Zustimmung gefunden (Urteilsbesprechung in AJP 1997, S. 1031-1033). ETIENNE GRISEL hält das Urteil im Ergebnis für richtig, kritisiert aber die bundesgerichtliche Auslegung von Art. 4 Abs. 2 BV: Seines Erachtens ist auch das Gleichstellungsgebot in Satz 2 formalrechtlicher Natur,
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weshalb es kein Spannungsverhältnis zwischen Satz 1 und Satz 2 gebe (Egalité des sexes et quotas de représentation, in: Festschrift Hangartner, St. Gallen 1998, S. 537-550, insbes. S. 539 ff.). ASTRID EPINEY kritisiert die vom Bundesgericht getroffene Unterscheidung zwischen Massnahmen, die eine "Ergebnisgleichheit", und solchen, die eine "Chancengleichheit" im Auge haben, sowie die daran anknüpfende Verfassungswidrigkeit der ersteren (Chancengleichheit über das Ergebnis? AJP 1997, S. 1033-1036). Es sei nicht sachgerecht, eine bestimmte, dazu noch sehr schwer abzugrenzende Kategorie von Massnahmen von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV auszuschliessen; es müsse vielmehr, um dem Spannungsfeld zwischen der zweifellos stattfindenden Diskriminierung betroffener Männer und der Verwirklichung einer tatsächlichen Chancengleichheit zu begegnen, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit herangezogen werden. Das Bundesgericht habe im Prinzip die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Ziels selbst verneint und nicht die Geeignetheit der Massnahme im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation geprüft. Elisabeth Freivogel beklagt, dass sich das Bundesgericht nur vereinzelt und einseitig mit der einschlägigen Literatur zur Quotenproblematik auseinander gesetzt habe (Kommentar zum Gleichstellungsgesetz, Hrsg. Margrith Bigler Eggenberger und Claudia Kaufmann, Basel und Frankfurt am Main 1997, Art. 3 Rz. 170 Fn. 226).
DENISE BUSER und TOMAS POLEDNA haben das bundesgerichtliche Quotenurteil einer eingehenden Analyse unterworfen (Politische Quoten auf dem Schafott - Reflexionen zum Bundesgerichtsurteil zur "Solothurner Quoteninitiative", AJP 1997, S. 981-989). Die Autoren bezeichnen das Urteil im Ergebnis als verständlich, angesichts der strengen Vorschriften der Solothurner Quoteninitiative und in Anbetracht des hohen Anteils von Frauen im Solothurner Parlament. Sie halten jedoch die Urteilsbegründung in mehrfacher Hinsicht für problematisch. Nach ihrer Kritik hat das Bundesgericht die Tragweite von Art. 4 Abs. 2 BV unter dem isolierten Blickwinkel des ersten Satzes der Bestimmung beurteilt und auf eine integrale Auslegung des Gleichheitsartikels unter Einbezug all seiner Gehalte verzichtet. Eine solche verengte Optik verletze letztlich das verfassungsmässige Gleichstellungsprinzip. Sodann bemängeln die Autoren, dass das Bundesgericht den Diskriminierungsgehalt von Quotenregelungen als gegeben voraussetze, was jedoch nicht ohne weiteres selbstverständlich sei. Eine materielle Gleichstellung gehe zwingend einher mit dem Abbau tatsächlicher Privilegien der
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Gegenseite. Dies sei der Normalfall bei Gleichstellungsmassnahmen. Formell geschlechtsneutral ausgestaltete Quoten hätten an sich keine Schlechterstellung eines Geschlechtes zur Folge. Sie bewirkten zwar materiell eine Besserstellung des bis anhin untervertretenen Geschlechts. Die Kompensationswirkung von Gleichstellungsmassnahmen sei jedoch verfassungsrechtlich gewollt. Gegen die Annahme des Bundesgerichts, dass die umstrittene Quotenregelung wegen ihrer Ergebnisorientiertheit über die Zielsetzung von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV hinausgehe, wenden Buser/Poledna ein, dass der in der Bestimmung verwendete Begriff Gleichstellung - entsprechend bislang herrschender Lehre - sowohl den Aspekt der Chancengleichheit als auch denjenigen der Ergebnisgleichheit umfasse. In Bezug auf die Gleichstellung im politischen Bereich bemängeln sie, das Bundesgericht habe seine Sicht allein auf die politischen Rechte - insbesondere das Wahlrecht - ausgerichtet. Das Gebot der Gleichbehandlung einschliesslich des Gleichstellungsgebots gelte indessen ausnahmslos für alle Bereiche des Lebens, mithin auch hinsichtlich einer ausgeglichenen Vertretung beider Geschlechter in staatlichen Organen. Indem das Bundesgericht die politische Repräsentationsebene vom Gleichheitskonzept ausklammere, ignoriere es die weiterreichende Dimension des Verfassungsrechts. Sodann stellten Quotenregelungen keine unzulässige Abweichung von der Wahlrechtsgleichheit dar. Der Gesetzgeber habe durch die Bundesverfassung den positiven Auftrag erhalten, für eine Verbesserung der heutigen Untervertretung der Frauen in politischen Organen zu sorgen. Quotenregelungen bewirkten eine Optimierung der Gleichheit im Sinn von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV, seien also verfassungsrechtlich abgestützt und in diesem Sinn mit systembedingten Abweichungen von der Wahlgleichheit vergleichbar. Schliesslich vertreten Buser/Poledna die Ansicht, dass Wahlquoten - anders als Quotenregelungen im Erwerbsleben - sich einem Qualifikationsbezug entziehen (vgl. auch Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. Aufl., Zürich 1998, Rz. 1561d, S. 512).
ANDREAS AUER und VINCENT MARTENET kritisieren den Quotenentscheid unter demokratischen und föderalistischen Aspekten (Les quotas, la démocratie et le fédéralisme, SJ 1997, S. 629-659). Sie heben u.a. hervor, dass es in der schweizerischen Doktrin keinen Konsens über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Quotenregelungen gebe und dass die Einführung von Geschlechterquoten in vielen westlichen Demokratien zur Diskussion stehe. Die Entwicklung
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sei im Fluss. Bei dieser Sachlage hätte sich das Bundesgericht - entsprechend seiner traditionellen Praxis - grosse Zurückhaltung auferlegen und der Verfassungsautonomie der Kantone Rechnung tragen sollen, welche diesen einen weiten Spielraum bei der Handhabung von Art. 4 Abs. 2 BV einräume.
d) Im Folgenden sind einige der umstrittenen Punkte aufzugreifen:
aa) Im Vordergrund steht die Frage, ob Gleichstellungsmassnahmen im Sinn von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV auch Quotensysteme erfassen. In den Erwägungen zum "Solothurner Quotenurteil" wird gesagt, dass die anzustrebende materielle Chancengleichheit auf eine Gleichheit der Startbedingungen und nicht des Resultats abziele (E. 5b). In diesem Zusammenhang wird auch auf die Kalanke-Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hingewiesen (Urteil vom 17. Oktober 1995 in der Rs. C-450/93, Kalanke, Slg. 1995, S. I-3051 ff. = EuGRZ 1995, S. 546 ff. [zwischenzeitlich wurde diese Rechtsprechung im Urteil vom 11. November 1997 in der Rs. C-409/95, Marschall, Slg. 1997, S. I-6363 = EuGRZ 1997, S. 563 ff. präzisiert]). Diese Hinweise könnten in dem Sinn verstanden werden, das Bundesgericht habe ergebnisbezogene Gleichstellungsmassnahmen generell als mit Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV unvereinbar erachtet und dem Begriff der materiellen Chancengleichheit eine rein formalrechtliche Tragweite zugemessen (vgl. BGE 108 Ia 22 E. 5b S. 31, wo Folgendes ausgeführt wird: 'Quant à la notion d'égalité des chances, elle n'a, selon le Conseil fédéral, jamais signifié autre chose que: "formellement, les hommes et les femmes doivent être placés dans la même situation juridique" [FF 1980 I p. 124].'). Bei einem solchen Verständnis des Begriffes der Gleichstellung in Satz 2 wären Quotenregelungen wegen ihrer Ergebnisorientiertheit ausgeschlossen; die Frage der Verhältnismässigkeit würde sich gar nicht mehr stellen. Eine solch einschränkende Auslegung liegt dem `Solothurner Quotenentscheid' jedoch nicht zugrunde. Das Bundesgericht war der Auffassung, die Solothurner Initiative gehe unter dem Aspekt der materiellen Chancengleichheit über das Gebotene hinaus, indem sie zeitlich unbefristet eine paritätische Repräsentation der Geschlechter und in diesem Sinn eine Ergebnisgleichheit festschreiben wollte. Dagegen erklärt das bundesgerichtliche Urteil nicht von vornherein alle Quoten für unzulässig, die ein bestimmtes Ergebnis zwingend vorschreiben. Deren Zulässigkeit muss vielmehr im Einzelfall am Massstab des Verhältnismässigkeitsprinzips geprüft werden. HANGARTNER
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bemerkt in der oben zitierten Urteilsbesprechung, es wäre eine unzulässige Vereinfachung, aus dem Entscheid ableiten zu wollen, Quoten als Massnahme zur Gleichstellung von Frauen (oder von Männern) seien zum Vornherein stets unzulässig (a.a.O., S. 1031). In der Doktrin besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Gleichstellungsmittel im Sinn von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV ergebnisbezogene Massnahmen einschliessen (Georg Müller, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 4, Rz. 137b und die dortigen Hinweise). Im Folgenden ist daher davon auszugehen, dass Quotenregelungen nicht wegen ihrer Ergebnisbezogenheit generell aus dem Gleichstellungsinstrumentarium ausgeschlossen werden können.
bb) Nach allgemeiner Auffassung bildet - wie gesagt - Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt für Quotenregelungen (GEORG MÜLLER, BV-Kommentar, Art. 4 Rz. 137b; derselbe, Quotenregelungen - Rechtssetzung im Spannungsfeld von Gleichheit und Verhältnismässigkeit, ZBl 91/1990, S. 306-318, insbes. S. 310; TOMAS POLEDNA, Geschlechterquoten im Wahl- und Parlamentsrecht, in: Frauenförderung durch Quoten, Hrsg. KATHRIN ARIOLI, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 141 ff.; MARIANNE SCHWANDER CLAUS, Verfassungsmässigkeit von Frauenquoten, Diss. Bern 1995, 37 ff.; DENISE BUSER, Die Zulässigkeit der Quotierung von Parlamentsmandaten, AJP 1994, S. 330-337, insbes. S. 333 ff.; ANDREAS AUER, Les mesures positives et l'art. 4 al. 2 Cst., AJP 1993, S. 1336-1348, insbes. S. 1342 f.; BEATRICE WEBER-DÜRLER, Aktuelle Aspekte der Gleichberechtigung von Mann und Frau, ZBJV 128/1992, S. 357-380, insbes. S. 366; KATHARINA SIMONE ARIOLI, Frauenförderungsmassnahmen im Erwerbsleben unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsmässigkeit von Quotenregelungen, Diss. Zürich 1991, S. 101 ff.; TOMAS POLEDNA/CHRISTINE KAUFMANN, Die parteiinterne Kandidatennomination - ein demokratisches Defizit?, ZBl 90/1989, S. 281-310, insbes. S. 286 ff.; CHARLES-ALBERT MORAND, L'érosion jurisprudentielle du droit fondamental à l'égalité entre hommes et femmes, in: L'égalité entre hommes et femmes: bilan et perspectives, Hrsg. CHARLES-ALBERT MORAND, Lausanne 1988, S. 73-107, insbes. S. 85 ff.; MICHEL ROSSINELLI, Actions positives et égalité des sexes en droit suisse, in: L'égalité entre hommes et femmes, a.a.O., S. 253-270; a.A. ETIENNE GRISEL, a.a.O., S. 539 ff., wonach sich Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV - ebenso wie Satz 1 - nur auf die formalrechtliche Gleichstellung bezieht).
Demgegenüber vertritt CHRISTA TOBLER eine Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV, die Raum lässt für eine differenzierende
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Behandlung der Geschlechter durch Frauenquoten (a.a.O., S. 115 ff.). Die Autorin kritisiert, dass das Bundesgericht den Geschlechtergleichheitssatz im Ansatz als formelle Gleichbehandlung der Geschlechter versteht. Damit lasse sich echte Rechtsgleichheit und mithin das Ziel der seinerzeitigen Verfassungsrevision, nämlich die umfassende Besserstellung der Frau, nicht erreichen (s. Botschaft über die Volksinitiative "Gleiche Rechte für Mann und Frau" vom 14. November 1979, BBl 1980 I 69 ff., insbes. S. 141 f.). Ausgehend von einem materiellen Verständnis der Rechtsgleichheit befürwortet die Autorin eine Änderung der Praxis zu Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV: Danach sollten nicht mehr nur biologische und funktionale Unterschiede eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sondern auch andere tatsächliche Unterschiede als relevant anerkannt werden. Dies führe zu einem materiellen Verständnis der Rechtsgleichheit und ermögliche eine umfassende Förderung der Rechtsgleichheit, einschliesslich positive Massnahmen wie Quoten.
Die für eine Praxisänderung angegebenen Gründe (CHRISTA TOBLER, a.a.O., S. 120 ff.) sind nicht zwingend. Das Bundesgericht hat sich bei seiner Auslegung am Willen des historischen Verfassungsgebers orientiert (s. BGE 108 Ia 22 E. 5a S. 29). Dass es dabei die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die darauf beruhenden Wertentscheidungen unzuverlässig ermittelt hätte, kann nicht gesagt werden. Natürlich beruht auch diese Entscheidung auf wertenden Gesichtspunkten, die je nach Standpunkt verschieden ausfallen können. Es ist kein grundlegender Wandel in den Anschauungen zu erkennen, der ein Abrücken von der herkömmlichen Auslegung nahelegt. Es ist daran festzuhalten, dass Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV die absolute Gleichbehandlung von Mann und Frau verlangt, sofern diese nicht durch biologische oder funktionale Gründe ausgeschlossen ist. Das schliesst aber Massnahmen zur umfassenden Verbesserung der Stellung der Frauen in Gesellschaft und Politik keineswegs aus: Die Beurteilung einer konkreten Gleichstellungsmassnahme muss immer anhand von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 erfolgen, d.h. der materielle Gleichstellungsauftrag muss als gleichwertiger Bestandteil von Art. 4 Abs. 2 BV gesehen werden und darf nicht etwa als Ausnahmebestimmung betrachtet und deshalb restriktiv interpretiert werden. Eine angemessene Massnahme zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung stellt daher keine verfassungswidrige Diskriminierung dar (vgl. Art. 3 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann [SR 151; GlG]).
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cc) Bei diesem Verständnis der Geschlechtergleichheit stehen Satz 1 und Satz 2 von Art. 4 Abs. 2 BV in einem Spannungsverhältnis. Positive Gleichstellungsmassnahmen können mit dem Gebot der formalrechtlichen Gleichstellung in Konflikt geraten. Aus der Verfassung lässt sich kein prinzipieller Vorrang für den einen oder anderen Teilgehalt von Art. 4 Abs. 2 BV herleiten. Das Bundesgericht hat im "Solothurner-Quotenurteil" anerkannt, dass das Spannungsverhältnis durch eine Abwägung der Interessen aufzulösen ist (BGE 123 I 152 E. 3b S. 157 ff.). Dabei kommt dem Verhältnismässigkeitsprinzip entscheidende Bedeutung zu. Das Bundesgericht steht somit im Einklang mit der vorherrschenden Doktrin, die sich mehrheitlich am System der "praktischen Konkordanz" orientiert (GEORG MÜLLER, BV-Kommentar, Art. 4 Rz. 137c; derselbe, Quotenregelungen, S. 310 ff.; YVO HANGARTNER, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Band II, Zürich 1982, S. 190; ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER, a.a.O., Rz. 1561b f., S. 511 f.; POLEDNA, Geschlechterquoten im Wahl- und Parlamentsrecht, a.a.O., S. 142 ff.; SCHWANDER CLAUS, a.a.O., S. 73 ff.; AUER, a.a.O., S. 1345 ff. [der allerdings auf die Anwendungsschwierigkeiten hinweist und die Bedeutung des Verhältnismässigkeitsprinzips relativiert]; WEBER-DÜRLER, a.a.O., S. 369; ARIOLI, a.a.O., S. 125 ff.). Aus dem Prinzip der praktischen Konkordanz folgt, dass keines der entgegenstehenden Prinzipien und der darin zum Ausdruck kommenden Anliegen völlig zu Lasten des anderen verwirklicht werden darf (vgl. GEORG MÜLLER, BV-Kommentar, Art. 4 Rz. 137c mit Hinweis auf Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., Heidelberg 1993, Rz. 72).
dd) Im Schrifttum wird dem Prinzip der praktischen Konkordanz nicht nur im Verhältnis von Satz 1 und Satz 2 von Art. 4 Abs. 2 BV Bedeutung zugemessen, sondern auch in Bezug auf andere verfassungsrechtliche Grundsätze, wie z.B. diejenigen über die politischen Rechte (POLEDNA, Geschlechterquoten im Wahl- und Parlamentsrecht, a.a.O., S. 144 f.). Im "Solothurner-Quotenurteil" hat das Bundesgericht indessen entschieden, dass Quotenvorgaben die Prinzipien der allgemeinen, freien und gleichen Wahl einschränken, dass solche Einschränkungen nur zulässig seien, um ein Wahlsystem zu verwirklichen, und dass Quotierungen keine wahlsystembedingten Abweichungen darstellen und deshalb unzulässig seien: Es sei grundsätzlich unzulässig, das Geschlecht zum determinierenden Wahlkriterium zu erheben (BGE 123 I 152 E. 8 S. 173 f.). In der Literatur ist diese Auffassung - wie bereits ausgeführt worden ist -
BGE 125 I 21 S. 33
auf Kritik gestossen. Es sei nicht erklärbar, weshalb allein wahlsystembedingte Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit verfassungsrechtlich Bestand haben sollen, obwohl diese (im Gegensatz zum Gleichstellungsauftrag) nicht verfassungsrechtlich vorgegeben seien (POLEDNA/BUSER, a.a.O., S. 986). Sodann habe das Bundesgericht den weiten Spielraum der Kantone bei der Ausgestaltung ihrer Verfassung und insbesondere ihres Wahlrechts missachtet (POLEDNA/BUSER, a.a.O., S. 986; AUER/MARTENET, a.a.O., S. 641 ff.).
Die Stimmrechtsfreiheit und die Wahlrechtsgleichheit stellen fundamentale Prinzipien des demokratischen Staatswesens dar, die nur aus gewichtigen, zwingenden Gründen eingeschränkt werden dürfen. Nur einzelne wenige spezifische Elemente können im Bereich der politischen Rechte eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen (BGE 124 I 55 E. 5a S. 62 unter Berufung auf ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich, Bern 1985, S. 57); in der Literatur wird daher von einem "absoluten" oder "strengen" Gleichheitsgrundsatz im Bereich des Stimmrechts gesprochen (vgl. FRITZ FLEINER/ZACCARIA GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, S. 407; HÄFELIN/HALLER, a.a.O., Rz. 1568, S. 514; YVO HANGARTNER, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, S. 180; TOMAS POLEDNA, Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, Diss. Zürich 1988, S. 5 ff. und S. 23 ff. unter Hinweis auf Art. 4 Abs. 1 BV). Dem Grundsatz der Zählwertgleichheit kommt unstreitig absoluter Charakter zu: Jedem Wähler steht ausnahmslos die gleiche Anzahl von Stimmen zu; Unterscheidungen nach Bildung, Geschlecht, Einkommen, Besitz, Wohnsitz oder anderen subjektiven Merkmalen sind ausgeschlossen (POLEDNA, Wahlrechtsgrundsätze, S. 26 mit weiteren Literaturnachweisen). Dagegen lässt die bundesgerichtliche Rechtsprechung gewisse Einschränkungen der Stimmkrafts- und der Erfolgswertgleichheit (bei Proporzwahlen) unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit und aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses zu (vgl. BGE 123 I 97 E. 4b S. 105). Dabei können - was einzuräumen ist - auch Gründe in Betracht fallen, die nur in einem weiten Sinne wahlsystembedingt sind, wie z.B. der Schutz regionaler oder sprachlicher Minderheiten (vgl. etwa den in Art. 84 Abs. 2 und Art. 85 der Berner Verfassung dem Berner Jura garantierten Sitz im Regierungsrat). Wegen des hohen Stellenwertes der betroffenen politischen Rechte sind solche Einschränkungen allerdings nur mit grösster Zurückhaltung anzuerkennen.
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Im Solothurner Quotenfall hat das Bundesgericht entschieden, dass die quotenmässige Zuteilung von Volkswahl-Mandaten eine unzulässige Einschränkung des freien und gleichen Wahlrechts darstellt. Derartige Quotenregelungen greifen in höherem Masse in die Wahlfreiheit und -gleichheit ein als andere Modalitäten des Wahlsystems und sind daher als verfassungswidrig zu betrachten. An dieser erst vor kurzem begründeten Praxis ist festzuhalten.

4. a) Nebst Art. 4 Abs. 2 BV fällt auch Art. 25 UNO-Pakt II ins Blickfeld. Danach hat jeder Staatsbürger das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Art. 2 des Pakts genannten Merkmalen (namentlich des Geschlechts) und ohne unangemessene Einschränkung "bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äusserung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden" (lit. b) und "unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben" (lit. c). Art. 3 des Pakts verpflichtet die Vertragsstaaten, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller im Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen. Darüber hinaus enthält Art. 26 des Pakts ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Diese Bestimmungen schliessen allerdings "positive Diskriminierungen" zur Gleichstellung benachteiligter Bevölkerungsschichten nicht aus. Derartige Massnahmen werden als zulässig betrachtet, solange sie angemessen sind und nur vorübergehend Geltung haben (MANFRED NOWAK, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll: CCPR-Kommentar, Kehl, Strassburg, Arlington 1989, Rz. 35 zu Art. 25 UNO-Pakt II, S. 484; WALTER KÄLIN/GIORGIO MALINVERNI/MANFRED NOWAK, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2. Auflage, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 229; TOMAS POLEDNA, Geschlechterquoten im Wahl- und Parlamentsrecht, a.a.O., S. 148 f.; ASTRID EPINEY/NORA RAFAEIL: Chancengleichheit: ein teilbarer Begriff, AJP 1996, S. 179 - 187, insbes. S. 185; vgl. auch Ausschuss für Menschenrechte, Allgemeine Bemerkungen 4[13] (1981) und 18[37] (1989) zu positiven Massnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen, abgedruckt in: KÄLIN/ MALINVERNI/NOWAK, a.a.O., S. 359 f. und S. 399 ff., insbes. S. 402, sowie Entscheid des Menschenrechtsausschusses vom 9. Juli 1987 i.S. R. Stalla Costa v. Uruguay, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1989 S. 123, zur bevorzugten Einstellung von Opfern der Militärdiktatur im öffentlichen Dienst).
b) Diese Auslegung wird durch das UNO-Übereinkommen vom
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18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau bestätigt, das den Pakt konkretisiert und ergänzt. Das Übereinkommen ist für die Schweiz am 26. April 1997 in Kraft getreten, wurde allerdings (entgegen Art. 2 lit. a und 6 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt vom 21. März 1986 [Publikationsgesetz; PublG.; SR 170.512]) noch nicht in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts veröffentlicht (was im Lichte von Art. 10 Abs. 1 PublG. bedenklich ist). Es verpflichtet die Vertragsstaaten, auf allen Gebieten, insbesondere auf politischem, sozialem, wirtschaftlichem und kulturellen Gebiet, alle geeigneten Massnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau zu ergreifen, damit gewährleistet wird, dass sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt mit dem Mann ausüben und geniessen kann (Art. 3). Die Vertragsstaaten sichern zu, durch gesetzgeberische und sonstige Massnahmen für die tatsächliche Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Mann und Frau zu sorgen (Art. 2 lit. a in fine) und jede Diskriminierung der Frau zu verbieten (Art. 2 lit. b). Die Vertragsstaaten verpflichten sich insbesondere, alle geeigneten Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im politischen und öffentlichen Leben ihres Landes zu treffen (Art. 7); sie gewährleisten insbesondere allen Frauen in gleicher Weise wie den Männern das Stimmrecht bei allen Wahlen und Volksabstimmungen sowie das passive Wahlrecht für alle öffentlich gewählten Gremien (lit. a), das Recht auf Mitwirkung an der Ausarbeitung der Regierungspolitik und deren Durchführung sowie auf Bekleidung öffentlicher Ämter und auf Wahrnehmung aller öffentlichen Aufgaben auf allen Ebenen staatlicher Tätigkeit (lit. b). Art. 4 Abs. 1 des Übereinkommens stellt klar, dass die Vertragsstaaten hierzu zeitweilig auch gleichheitsdurchbrechende Massnahmen (`Sondermassnahmen') ergreifen dürfen. Derartige Massnahmen zur beschleunigten Herbeiführung der De-facto-Gleichberechtigung von Mann und Frau gelten nicht als Diskriminierung im Sinne des Übereinkommens. Sie dürfen allerdings keinesfalls die Beibehaltung ungleicher oder gesonderter Massstäbe zur Folge haben und müssen aufgehoben werden, sobald die Ziele der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung erreicht sind. Der vom Übereinkommen eingesetzte Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau hat die Mitgliedstaaten in einer allgemeinen Empfehlung aufgefordert, vermehrt von zeitlich befristeten Sondermassnahmen - wie beispielsweise Vorzugsbehandlungen oder Quoten-Systemen - Gebrauch
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zu machen, um die Integration der Frauen namentlich im Bereich der Politik zu fördern (Allgemeine Empfehlung Nr. 5, 7. Session, 1988, abgedruckt in: Lars Adam Rehof, Guide to the Travaux Préparatoires of the United Nations Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, Dordrecht/Boston/ London, 1993, S. 308; vgl. auch Botschaft des Bundesrates vom 23. August 1995 betreffend das Übereinkommen von 1979 zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau, BBl 1995 IV 934). Das Übereinkommen enthält diesbezüglich aber keine konkrete Verpflichtung, sondern überlässt den Vertragsstaaten die Wahl der Mittel, mit denen sie die Untervertretung von Frauen im politischen und öffentlichen Leben beheben wollen (CHRISTINA HAUSAMMANN/ERIKA SCHLÄPPI: Menschenrechte und Frauenrechte: Das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und seine Bedeutung für die Schweiz, AJP 1995, S. 32-46, insbes. S. 38 und 44; Botschaft des Bundesrates, BBl 1995 IV S. 941).

5. Die vorliegende Quoteninitiative ist im Lichte der obigen Rechtserörterungen zu prüfen. Sie trifft eine Quotenregelung für:
a) Behörden und Kommissionen, die direkt vom Volk gewählt werden;
b) Behörden und Kommissionen, die nur indirekt vom Volk gewählt werden;
c) Landratswahlen.
Die Zulässigkeit einer Quotierung ist für jede der drei Kategorien einzeln zu prüfen, weil sich unterschiedliche Fragen stellen und nicht überall dieselben Kriterien massgebend sind.
a) Abs. 1 des vorgeschlagenen Art. 75bis KV sieht u.a. eine Quotenregelung für die Organe vor, die vom Volk gewählt werden. Satz 1 statuiert die annähernd hälftige Vertretung beider Geschlechter. Satz 2 schreibt als Minimalziel vor, dass jedes Geschlecht mindestens zu einem Drittel vertreten sein muss. Von dieser Regelung sind die Landratswahlen ausgenommen, für welche ausschliesslich die besonderen Vorschriften der Absätze 2 und 3 gelten.
Nach dem in E. 3d/dd Gesagten sind Quotenvorgaben für die Zuteilung von Volkswahl-Mandaten grundsätzlich unzulässig. Dies gilt auch für die von der Wahlchancen-Initiative erfassten Volkswahlen. In dieser Hinsicht sind die politischen Rechte der Beschwerdeführerinnen durch den angefochtenen Entscheid des Landrates nicht verletzt worden. Man kann sich allerdings fragen, ob der erste Satz von Art. 75bis Abs. 1 KV nicht Bestand haben könnte. Die annähernd
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paritätische Repräsentation wird lediglich als Ziel formuliert, ohne einen unmittelbaren Rechtsanspruch auf eine bestimmte Vertretung zu begründen. Dies ist - auch unter dem Blickwinkel der politischen Rechte - mit einer starren Quotenregelung nicht vergleichbar. Wie es sich damit verhält, kann aber vorliegend offen bleiben. Die Zielnorm (Satz 1) und der vorgeschriebene Mindestvertretungsanteil (Satz 2) bilden eine einheitliche Regelung. Erweist sich der eine Teil als verfassungswidrig, macht es wenig Sinn, den anderen Teil zu belassen. Der angefochtene Entscheid ist somit zu schützen, soweit er sich auf Volkswahlen gemäss Art. 75bis Abs. 1 der Wahlchancen-Initiative sowie die dazugehörige Übergangsbestimmung (Abs. 2) bezieht.
b) Anders zu beurteilen ist dagegen die Regelung in Art. 75bis Abs. 1, soweit es um die Wahl von Behörden und Kommissionen durch vom Volk gewählte Organe geht. Bei diesen Wahlen wird die Wahl- und Abstimmungsfreiheit nicht berührt. Das Stimmrecht schützt nur diejenigen politischen Rechte, die dem Bürger eine direkte Mitwirkung an der politischen Willensbildung ermöglichen, sei es durch die Unterzeichnung von Referendums- und Initiativbegehren oder durch die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen, nicht aber die besonderen Befugnisse, die einem Bürger als Behörde- oder Parlamentsmitglied zustehen (Bundesgerichtsurteil vom 4. Oktober 1978, publ. im ZBl 80/1979 S. 74 E. 1a mit Hinweisen; vgl. auch GEORG MÜLLER, Quotenregelungen, a.a.O., S. 315 a.E.). Demzufolge ist aufgrund einer Verhältnismässigkeitsprüfung zu beurteilen, ob die Quotenregelung für Behördenwahlen im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV gerechtfertigt werden kann.
aa) Nach den Darlegungen der Beschwerdeführerinnen sind die Frauen in zahlreichen Behörden und Kommissionen stark untervertreten. Zwar erreicht der Frauenanteil in vielen Gremien ein Drittel und mehr, insgesamt ist jedoch den Beschwerdeführerinnen beizupflichten und von einer erheblichen Unterrepräsentanz auszugehen. Diese lässt auf eine faktische Benachteiligung der Frauen im öffentlichen und politischen Leben des Kantons schliessen. Zum Abbau der Benachteiligung sind Gleichstellungsmassnahmen angezeigt (Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV; Art. 7 i.V.m. Art. 3 UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau). Diesem Ziel dient die vorliegende Quotenregelung. Eine verfassungskonforme Auslegung ermöglicht auch hier, in Satz 1 des vorgeschlagenen Art. 75bis KV eine Zielnorm zu erblicken, die lediglich eine Richtschnur festlegt, welche den Wahlbehörden für
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Differenzierungen Raum lässt. Hingegen darf der in Satz 2 garantierte Drittelsanteil nicht unterschritten werden. Die Wahlbehörden können - unter dem Vorbehalt der Mindestvertretungsgarantie - aus nachvollziehbaren Gründen vom allgemeinen Ziel des annähernden Geschlechtergleichgewichts abweichen, so etwa dann, wenn nicht genügend geeignete Kandidatinnen zur Verfügung stehen. Dies kann so weit gehen, dass ein Geschlecht mit zwei Dritteln und das andere mit nur einem Drittel vertreten ist. Es besteht somit nur in Bezug auf die Mindestanteilgarantie eine starre Quote. Diese verunmöglicht keineswegs eine Auswahl nach Leistungs- und Eignungskriterien. Wird die Minimalgrenze von einem Drittel unterschritten, ist dies vielmehr ein Indiz dafür, dass traditionelle Rollenvorstellungen den Ausschlag gegeben haben, deren Überwindung Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV gerade bezweckt. In diesem Sinn kann die vorgeschlagene Mindestquote als ergebnisbezogene Regelung verstanden werden, die geeignet ist, eine gewisse materielle Chancengleichheit herzustellen.
bb) Ist trotz bestehender formalrechtlicher Gleichheit der Frauenanteil tief geblieben, können sich Quotierungen rechtfertigen. Bei einer Quotenhöhe von einem Drittel muss eher von einer milden Massnahme gesprochen werden. Überdies sieht Abs. 1 der Übergangsbestimmungen vor, dass der Mindestanteil nicht sofort erreicht werden muss; vielmehr hat das unterrepräsentierte Geschlecht lediglich Anspruch auf jede zweite Nachfolge durch Ersatzwahlen. Weniger eingreifende Massnahmen, die ebenso geeignet wären, sind nicht offenkundig. Unter diesen Umständen kann die Erforderlichkeit der vorgeschlagenen Gleichstellungsmassnahme nicht verneint werden. In diesem Zusammenhang ist ein gewisser Ermessensspielraum des kantonalen Verfassungsgebers anzuerkennen. Ihm obliegt letztlich der Entscheid, ob er Quoten für ein angemessenes Mittel zur Gleichstellung der Frauen im politischen Bereich hält oder nicht.
cc) Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit im engen Sinn hielt der Landrat die vorgesehene Quotenregelung auch wegen der fehlenden Befristung für unzulässig. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Die Quotenregelung greift nur zwingend ein, wenn der Mindestanteil von einem Drittel unterschritten wird. Es ist davon auszugehen, dass ein solcher Mindestanteil sich nach Abbau der noch bestehenden Hindernisse für eine gleichberechtigte Teilnahme der Frauen am politischen Leben von selbst einstellen und die Quotenvorgabe somit gegenstandslos werden wird. Insoweit kommt ihr ohnehin eine limitierte Wirkung zu, weshalb eine zeitliche
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Befristung unter dem Blickwinkel der Verhältnismässigkeit nicht in Betracht gezogen werden muss. Die vorgesehene Übergangslösung verhindert sodann - anders als im Solothurner Quotenfall -, dass Männer auf Jahre hinaus bei Ersatzwahlen nicht berücksichtigt werden könnten und hat somit nicht zur Folge, dass Männern der Zugang zu gewissen Ämtern oder Kommissionen jahrzehntelang versperrt wäre.
dd) Insgesamt kann der Quotenregelung für Behördenwahlen die Verhältnismässigkeit nicht abgesprochen werden, so dass sie keine Diskriminierung im Sinn von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV darstellt.
c) Für die Landratswahlen sind drei Regelungen zu unterscheiden. In den Gemeinden, in denen nach dem Proporzsystem gewählt wird (d.h. denen drei oder mehr Landräte zustehen; vgl. Art. 88 Abs. 1 KV/UR), sieht die Wahlchancen-Initiative eine Wahlvorschlagsquotierung vor: Die zahlenmässige Differenz zwischen Frauen und Männern auf den gedruckten Wahllisten darf höchstens eins betragen (Abs. 2 des vorgeschlagenen Art. 75bis KV). In Gemeinden mit zwei Sitzen, in denen das System der Mehrheitswahl gilt (Art. 88 Abs. 1 KV/UR), sind je eine Frau und ein Mann zu wählen (Abs. 3). Keine Vorschriften bestehen für Einerwahlkreise (Abs. 3). Die Einführung der Wahlvorschlagsquotierung soll stufenweise erfolgen; Abs. 3 der Übergangsbestimmungen setzt für die erste Gesamterneuerungswahl nach Annahme der Initiative den Mindestgeschlechteranteil auf den Wahllisten auf 30% fest.
Für die Zweierwahlkreise statuiert die Initiative eine Geschlechterparität, was nach dem oben Dargelegten (E. 3d/dd) unzulässig ist. In Bezug auf Abs. 3 der Wahlchancen-Initiative ist der angefochtene Entscheid deshalb nicht zu beanstanden. Der erste Satz von Abs. 3 ist zwar - für sich allein - unbedenklich; er hat aber keine selbständige Bedeutung, weshalb die Ungültigerklärung zu Recht den ganzen Absatz umfasst.
Es bleibt somit lediglich zu prüfen, ob sich die Wahlvorschlagsquotierung bei Proporzwahlen als zulässig erweist. Diese Art Quote sichert keine bestimmte Anzahl von Sitzen im Landrat zu. Sie erhöht einzig die Nominierungschancen des untervertretenen Geschlechts. Inwieweit beide Geschlechter im Landrat repräsentiert sind, hängt von der Wahlentscheidung der Stimmberechtigten ab. Da Art. 75bis Abs. 1 Satz 2 KV auf die Landratswahlen nicht anwendbar ist, kann der Frauenanteil im Landrat im Ergebnis sogar unter einem Drittel liegen. Nominationsquoten gelten allgemein als mildeste Form der Wahlquote. Im "Solothurner-Quotenurteil" hat das Bundesgericht
BGE 125 I 21 S. 40
durchblicken lassen, dass die Wahlrechtsgrundsätze Massnahmen der Wahllistengestaltung nicht von vornherein ausschliessen (BGE 123 I 152 E. 6 S. 167 f.). Nominationsquoten wirken sich auf einer anderen Stufe aus als Mandatsquoten. Freilich erfassen die Wahlrechtsgrundsätze auch die Phase der Wahlvorbereitung und mithin das Nominationsverfahren (vgl. BGE 121 I 138 E. 3 S. 141 f. mit Hinweisen). Betroffen sind die passive Wahlgleichheit der Kandidierenden, die Wahlvorschlagsfreiheit der Stimmberechtigten und der Parteien und die Auswahlfreiheit der Stimmenden (s. DENISE BUSER, Verfassungskonforme Quoten für Volkswahl-Mandate, in: Frauenförderung durch Quoten, Hrsg. KATHRIN ARIOLI, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 187-230, insbes. S. 208). Das Mass der Betroffenheit hängt davon ab, wie das Wahlsystem im Einzelnen ausgestaltet ist.
aa) Die Verhältniswahl des Urner Landrates ist im Proporzgesetz vom 3. März 1991 (ProporzG) geregelt. Dieses sieht ein System konkurrierender, freier Listen vor, wie es die meisten schweizerischen Kantone kennen (vgl. PIERRE GARRONE, L'élection populaire en Suisse, Diss. Genève 1991, S. 179 ff.). Wahlvorschläge können von mindestens 15 in der Gemeinde wohnhaften stimmberechtigten Personen eingereicht werden (Art. 2). Sie dürfen höchstens so viele Namen enthalten als in der Gemeinde Landräte zu wählen sind (Art. 4 Abs. 1). Eine stimmberechtigte Person darf nicht mehr als einen Wahlvorschlag unterzeichnen (Art. 6 Abs. 2). Die bereinigten Wahlvorschläge heissen Listen (Art. 12 Abs. 1). Zwei oder mehrere Listen können durch übereinstimmende Erklärungen ihrer Vertreter miteinander verbunden werden (Art. 13 Abs. 1). Wählbar ist nur, wer auf einer Wahlliste steht (Art. 17 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2). Die Gemeinde stellt den Stimmberechtigten neben den Wahllisten auch einen amtlichen Wahlzettel ohne Vordruck zu (Art. 15 Abs. 1 und 2). Darauf kann der Wähler nach Belieben Namen von Kandidaten verschiedener Wahllisten eintragen (Art. 17 Abs. 1). Wähler, die vorgedruckte Wahllisten benutzen, können einzelne Kandidatennamen streichen und Kandidatennamen aus anderen Listen eintragen (panaschieren; vgl. Art. 17 Abs. 2). Art. 17 Abs. 3 ProporzG gestattet, den Namen des gleichen Kandidaten auf dem Wahlzettel zweimal aufzuführen (kumulieren).
bb) Die passive Wahlgleichheit kann insofern betroffen sein, als nach Ausschöpfung der Quote auf einer Liste Kandidierende des betreffenden Geschlechts nicht mehr berücksichtigt werden können. Indessen besteht ohne weiteres die Möglichkeit, auf einer anderen
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Liste zu kandidieren. Dies wird dadurch erleichtert, dass schon eine kleine Anzahl Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag einreichen kann und das Urner Wahlrecht die Listenverbindung gestattet. Allerdings gibt es in der Regel mehr kandidaturwillige Männer als Frauen. Kandidaturwillige Männer müssen daher unter Umständen eher zurücktreten als mitkonkurrierende Frauen. Die schlechteren Ausgangschancen von Frauen beruhen jedoch zum Teil auf frauenspezifischen Hindernissen (vgl. Bericht der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen: Viel erreicht - wenig verändert? Zur Situation der Frauen in der Schweiz, Bern 1995, S. 48), deren Abbau Nominationsquoten gerade bezwecken. Die Verringerung der Nominierungschancen der Männer ist die notwendige Konsequenz der gewollten Verbesserung der Chancen der Frauen. Nominationsquoten tangieren die passive Wahlgleichheit nach dem Gesagten nur marginal. Desgleichen erfährt die Wahlvorschlagsfreiheit der Stimmberechtigten und der Parteien (Vereinsfreiheit) angesichts der Ausgestaltung des Urner Wahlrechts keine wesentliche Einschränkung. Die Auswahlfreiheit der Stimmenden ist ohnehin durch das System der Listenwahl beschränkt, wonach nur ein gültig nominierter Kandidat wählbar ist. In der Praxis werden die Wahlvorschläge in aller Regel von den Parteien ohne Mitwirkung der übrigen Stimmberechtigten ausgearbeitet. Es lässt sich argumentieren, dass Nominationsquoten, welche die faktische Diskriminierung von Frauen im politischen Bereich durch Vorgaben für das parteiinterne Auswahlverfahren ausgleichen sollen, gerade dadurch eine diskriminationsfreie Auswahl durch die Stimmberechtigten ermöglichen.
cc) Wahlvorschlagsquoten sind geeignete Gleichstellungsmassnahmen. Zwar sichern sie dem unterrepräsentierten Geschlecht keine Mandate zu, sie erhöhen aber deren Wahlchancen. Im Wahljahr 1996 zählte der 64-köpfige Landrat nur 10 Landrätinnen, was einem Anteil von 16% entspricht (im Wahljahr 1980: 1; 1984: 2; 1988: 6; 1992: 8). Mit diesem relativ tiefen Anteil lässt sich grundsätzlich die Erforderlichkeit von Wahlvorschlagsquotierungen begründen. Dabei ist, wie bereits gesagt wurde (vgl. oben, E. 5b/bb), ein gewisser Spielraum des kantonalen Verfassungsgebers anzuerkennen.
Bei der Erforderlichkeitsprüfung ist auch die Quotenhöhe zu berücksichtigen. Diese erscheint auf den ersten Blick relativ hoch - in den Proporzgemeinden mit einer geraden Anzahl Landratssitze läuft Art. 75bis Abs. 2 KV auf eine 50%-Quote hinaus. Die Erfahrungen seit 1971 haben jedoch gezeigt, dass die Wahlchancen der
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Frauen schlechter sind als die der Männer (RUTH VOGGENSBERGER, Frauenpartizipation, Wahlaspekte und Quotenregelungen für Kantonsparlamente: eine Annäherung von zwei Seiten, in: Frauenförderung durch Quoten, Hrsg. KATHRIN ARIOLI, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 231-278, insbes. S. 240 ff.; Bericht der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen: Viel erreicht - wenig verändert, a.a.O., S. 48). Die Wahlvorschlagsquote muss somit, soll sie überhaupt wirksam werden, über der angestrebten Mindestrepräsentation der Frauen und damit nicht weit von der Parität entfernt liegen (vgl. BUSER, Verfassungskonforme Quoten, a.a.O., S. 213; VOGGENSBERGER, a.a.O., S. 262). Es kann daher nicht ohne weiteres gesagt werden, mit einer tieferen Quotenhöhe und somit milderen Massnahme könne das Ziel der Gleichstellungsmassnahme ebenso gut erreicht werden.
dd) Angesichts der Ausgestaltung des Wahlsystems und des Umstandes, dass Wahlvorschlagsquoten an sich eine milde Gleichstellungsmassnahme darstellen, kann der Initiative in diesem Punkt die Verhältnismässigkeit im engeren Sinn nicht abgesprochen werden. Dies gilt umso mehr, als Abs. 3 der Übergangsbestimmungen eine stufenweise Einführung ermöglicht. Insgesamt erscheint Abs. 2 des vorgeschlagenen Art. 75bis KV vor Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV als gerechtfertigt.

6. Im Sinne eines Zwischenergebnisses ist festzuhalten, dass die Quote für Wahlen durch (vom Volk gewählte) Behörden sowie die Wahlvorschlagsquote für die Landratswahlen in den Proporzgemeinden unter dem Blickwinkel von Art. 4 Abs. 2 BV nicht zu beanstanden sind. Nach Auffassung der kantonalen Behörden stehen diese Quoten auch in Widerspruch zu Art. 25 UNO-Pakt II. Diese Bestimmung und das sie konkretisierende UNO-Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 schliessen - wie oben in E. 4 ausgeführt worden ist - positive Gleichstellungsmassnahmen und insbesondere auch Quotensysteme nicht aus. Diese müssen allerdings angemessen und vorübergehend sein. Dass die vorliegenden Quotenregelungen auch im Sinn von Art. 25 UNO-Pakt II angemessen sind, bedarf keiner weiteren Begründung. Fraglich ist dagegen, ob die von ihrem Wortlaut zeitlich unbefristeten Quoten der Chancengleichheits-Initiative "vorübergehende" Massnahmen in diesem Sinne darstellen.
a) Art. 4 Abs. 1 des UNO-Übereinkommens vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau spricht von "zeitweiligen Sondermassnahmen", welche keinesfalls
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die Beibehaltung ungleicher oder gesonderter Massnahmen zur Folge haben dürfen und aufgehoben werden müssen, sobald die Ziele der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung erreicht sind. Daraus ergibt sich, dass die zeitliche Begrenzung der Massnahmen nicht unbedingt in Form einer Befristung der Gültigkeitsdauer erfolgen muss, sondern es genügt, wenn die Massnahmen aufgehoben werden, sobald sie ihr Ziel erreicht haben. Das gilt insbesondere dann, wenn nicht voraussehbar ist, wieviel Zeit der Abbau der Benachteiligung des unterrepräsentierten Geschlechts in Anspruch nehmen wird (in diesem Sinne auch die Botschaft des Bundesrates vom 17. März 1997 zur Volksinitiative "Für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden", BBl 1987 III S. 584 f., sowie ANDREAS AUER, a.a.O., S. 1346 f.). Auch im vorliegenden Fall kann hierüber keine verlässliche Prognose gemacht werden. Es ist sodann bereits gesagt worden (E. 5b/cc), dass einem relativ tiefen Mindestvertretungsanteil - wie er hier für Behördenwahlen vorgesehen wird - gewissermassen eine zeitliche Limitierung innewohnt.
b) Konnte somit auf eine Befristung verzichtet werden, ergibt sich doch aus den genannten internationalen Übereinkommen wie auch aus Art. 4 Abs. 2 BV und dem Verhältnismässigkeitsprinzip, dass die Quotenregelung aufgehoben werden muss, wenn die tatsächliche Chancengleichheit der Frauen im politischen Leben des Kantons Uri verwirklicht und eine angemessene Repräsentation der Frauen in Behörden, Kommissionen, Landrat und Regierung auch ohne Quotenvorgaben gewährleistet erscheint. Daraus ergibt sich die Verpflichtung von Regierungsrat und Landrat, periodisch zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Quotenregelung noch vorliegen und gegebenenfalls deren Aufhebung zu beantragen bzw. zu beschliessen. Die Initiative ist in diesem Sinne verfassungs- und völkerrechtskonform auszulegen; sie kann in dieser Hinsicht gegebenenfalls vom Gesetzgeber näher ausgeführt und präzisiert werden.

7. a) Nach dem Gesagten erweist sich die Initiative nur teilweise als rechtswidrig: Gegen Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV sowie die Grundsätze des allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts verstossen Art. 75bis Abs. 1, soweit er sich auf vom Volk gewählte Behörden und Kommissionen bezieht, und Abs. 3 Satz 2. Art. 75bis Abs. 3 Satz 1 sowie Abs. 2 der vorgeschlagenen Übergangsbestimmungen werden damit gegenstandslos. Soweit sich Art. 75bis Abs. 1 auf Behörden und Kommissionen bezieht, die von gewählten Organen bestimmt werden, ist er - ebenso wie Abs. 2 und von den Übergangsbestimmungen
BGE 125 I 21 S. 44
Abs. 1 und 3 - mit Bundesverfassungs- und Völkerrecht vereinbar. Am Initiativtext dargestellt, ergibt sich folgendes Bild, wobei der in Klammern gesetzte Text die Teile umfasst, deren Ungültigerklärung bestätigt worden ist:
"1 Alle Behörden und Kommissionen, die (vom Volk gewählt oder) durch gewählte Organe bestimmt werden, sind annähernd je zur Hälfte mit Frauen und Männern besetzt. Jedes Geschlecht ist jedoch mindestens zu einem Drittel vertreten. Für den Landrat gelten die Vorschriften der Absätze 2 und 3.
2 Bei den Landratswahlen in Gemeinden, in denen nach Proporzsystem gewählt wird, beträgt die zahlenmässige Differenz zwischen Frauen und Männern auf den gedruckten Wahllisten höchstens eins. 3 (Bei den Landratswahlen in Gemeinden, denen nur ein Sitz zusteht, wird eine Kandidatin oder ein Kandidat gewählt. In Gemeinden mit zwei Sitzen werden je eine Frau und ein Mann gewählt.)
Übergangsbestimmungen:
1 Nimmt ein gewähltes Organ Ersatzwahlen für eine Behörde oder Kommission vor, hat jedes Geschlecht Anspruch auf jede zweite Nachfolge, bis das Minimalziel von Artikel 75bis Abs. 1 erfüllt ist.
2 (Bei der ersten nach den Bestimmungen von Artikel 75bis durchgeführten Gesamterneuerungswahl von Behörden oder Kommissionen, die vom Volk im Majorz gewählt werden, gilt folgende Ausnahme: Personen, die bereits bisher Mitglieder der gleichen Behörde oder der gleichen Kommission waren und wiedergewählt werden, gelten auch dann als gewählt, wenn das Ziel von Artikel 75bis noch nicht erfüllt ist.)
3 Bei der ersten Gesamterneuerungswahl des Landrates nach Annahme von Artikel 75bis beträgt in den Gemeinden, in denen nach Proporz gewählt wird, der Anteil jedes Geschlechts auf den gedruckten Wahllisten mindestens je 30 Prozent."
b) Im Fall von Teilungültigkeit gebietet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, die Initiative nicht als Ganzes für ungültig zu erklären, sofern vernünftigerweise anzunehmen ist, die Unterzeichner der Initiative hätten den gültigen Teil auch unterzeichnet, wenn er ihnen allein unterbreitet worden wäre. Dies ist dann der Fall, wenn der verbleibende Teil der Initiative nicht von untergeordneter Bedeutung ist, sondern noch ein sinnvolles Ganzes im Sinne der ursprünglichen Stossrichtung ergibt, so dass die Initiative nicht ihres wesentlichen Gehaltes beraubt wird (BGE 121 I 334 E. 2a S. 338; 119 Ia 154 E. 9a S. 165 f. mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall zielen alle von der Initiative vorgesehenen Massnahmen darauf ab, die Repräsentation der Frauen im Landrat sowie in Behörden und Kommissionen zu erhöhen. Auch ohne die vorgesehenen Quoten bei Volkswahlen von Behörden und Kommissionen sowie bei Landratswahlen in Gemeinden
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mit nur zwei Sitzen erscheinen die verbleibenden Massnahmen geeignet, zur Verwirklichung der politischen Gleichstellung der Frauen im Kanton beizutragen. Sie sind auch keineswegs von nur untergeordneter Bedeutung. Das gilt insbesondere für Art. 75bis Abs. 2, werden doch derzeit 50 von 64 Sitzen im Landrat im Proporzwahlsystem besetzt. Unter diesen Umständen ist die Initiative als teilweise gültig zu betrachten und hätte vom Landrat in diesem Umfang zur Abstimmung gebracht werden müssen.

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Erwägungen 3 4 5 6 7

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