142 I 10
Urteilskopf
142 I 10
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen)
6B_218/2015 vom 16. Dezember 2015
Regeste
Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. a und b StPO ; überspitzter Formalismus bei fehlender gültiger Unterschrift.
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum überspitzten Formalismus bei nicht formgültig unterzeichneten Rechtsmitteleingaben (vgl.
BGE 120 V 413
) ist auch bei der Anwendung der Strafprozessordnung zu beachten. Ist eine Rechtsmittelschrift einer Partei nicht rechtsgültig von dieser oder ihrem Vertreter unterschrieben, hat das Gericht eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen. Ausgenommen sind Fälle des offensichtlichen Rechtsmissbrauchs (E. 2.4).
A.
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X. am 20. Juni 2014 wegen mehrfachen Diebstahls zu einer bedingten Geldstrafe
BGE 142 I 10 S. 11
von 150 Tagessätzen zu Fr. 20.-. Auf die dagegen gerichtete Berufung von X. trat das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 5. Januar 2015 nicht ein.
B.
X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Entscheid vom 5. Januar 2015 sei aufzuheben und das Obergericht (recte: Appellationsgericht) anzuweisen, auf die Berufung einzutreten. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
C.
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt beantragen die Abweisung der Beschwerde. X. nimmt dazu Stellung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.4.1
Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz berechtigt war, die Berufung wegen fehlender rechtsgültiger Unterzeichnung der Berufungserklärung mit Nichteintreten zu erledigen, ohne eine Nachfrist zur Verbesserung anzusetzen.
2.4.2
Art. 29 Abs. 1 BV verbietet überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Rechtssuchenden den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (
BGE 135 I 6
E. 2.1 S. 9;
BGE 130 V 177
E. 5.4.1 S. 183 f.; Urteile 6B_730/2013 vom 10. Dezember 2013 E. 1.3.1; 6B_503/2011 vom 7. Februar 2012 E. 3.1; je mit Hinweisen).
Im Strafprozessrecht ergibt sich das Verbot des überspitzten Formalismus aus Art. 3 Abs. 2 lit. a und b StPO , wonach die Strafbehörden namentlich den Grundsatz von Treu und Glauben sowie das Verbot des Rechtsmissbrauchs zu beachten haben (vgl. NIKLAUS
BGE 142 I 10 S. 12
OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, N. 578).
2.4.3
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung bedeutet es keinen überspitzten Formalismus, vom Bürger zu verlangen, dass er seine Rechtsschriften eigenhändig unterzeichnet oder von einem bevollmächtigten und nach einschlägigem Verfahrensrecht zugelassenen Vertreter unterzeichnen lässt (
BGE 114 Ia 20
E. 2a S. 22;
BGE 111 Ia 169
E. 3 und 4b S. 171 ff. mit Hinweisen). Jedoch ist zu beachten, dass die Vorschriften des Zivilprozess-, Strafprozess- und Verwaltungsverfahrensrechts der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen haben, weshalb die zur Rechtspflege berufenen Behörden verpflichtet sind, sich innerhalb des ihnen vom Gesetz gezogenen Rahmens gegenüber den Rechtssuchenden so zu verhalten, dass deren Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden kann. Behördliches Verhalten, das einer Partei den Rechtsweg verunmöglicht oder verkürzt, obschon auch eine andere gesetzeskonforme Möglichkeit bestanden hätte, ist mit Art. 29 Abs. 1 BV nicht vereinbar. Dementsprechend entschied das Bundesgericht, dass ein Gericht oder dessen Kanzlei verpflichtet ist, die betreffende Partei auf den Mangel aufmerksam zu machen und dessen Verbesserung zu verlangen, wenn bei einer Rechtsmittelerklärung ein sofort erkennbarer Formfehler wie das Fehlen einer gültigen Unterschrift festgestellt wird und die Rechtsmittelfrist noch nicht verstrichen ist. Wenn der Mangel der Unterschrift so früh erkannt worden ist, dass die betreffende Partei den Fehler bei entsprechendem Hinweis innert Frist hätte verbessern können, verletzt das Stillschweigen der Behörden Art. 29 Abs. 1 BV (noch zu Art. 4 aBV:
BGE 111 Ia 169
E. 4c S. 174 f. mit Hinweisen). In
BGE 114 Ia 20
präzisierte das Bundesgericht diese Praxis und hielt fest, es sei unerheblich, ob die Behörde den Mangel tatsächlich feststelle. Vielmehr sei sie grundsätzlich verpflichtet, den Verfasser einer Rechtsmittelschrift auf das Fehlen der Unterschrift aufmerksam zu machen, solange die noch verfügbare Zeit bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ausreiche, um den Mangel zu beheben (a.a.O. E. 2b S. 24; zum Ganzen:
BGE 120 V 413
E. 5a S. 417 f.).
2.4.4
Das Eidgenössische Versicherungsgericht vertrat demgegenüber die Auffassung, in gewissen Konstellationen sei es nicht willkürlich, dass das kantonale Gericht keine Nachfrist ansetzt, wenn auf einer Beschwerde eine rechtsgenügende Unterschrift fehlt. Grundlage dieser Rechtsprechung bildete der Umstand, dass gemäss dem
BGE 142 I 10 S. 13
damals in Kraft stehenden Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG; BS 3 531) alle für das Bundesgericht bestimmten Rechtsschriften die Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters zu enthalten hatten (Art. 30 Abs. 1 OG; Art. 108 Abs. 2 OG i.V.m. Art. 132 OG) und dass Art. 108 Abs. 3 OG es nach Ablauf der Rechtsmittelfrist nicht zuliess, andere Mängel als Unklarheiten im Begehren oder in der Begründung zu beheben. Eine Nachfristansetzung zur Verbesserung war im Falle der fehlenden Unterschrift nicht möglich (vgl.
BGE 120 V 413
E. 5a f. S. 418 mit zahlreichen Hinweisen).
2.4.5
Mit der auf den 15. Februar 1992 in Kraft gesetzten revidierten Bestimmung von Art. 30 Abs. 2 OG (AS 1992 288) wurde diese prozessuale Formstrenge für das Verfahren vor Bundesgericht gelockert (vgl. Botschaft vom 18. März 1991 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege [...], BBl 1991 II 514 Ziff. 41). Fehlte auf einer Rechtsschrift die Unterschrift einer Partei oder eines zugelassenen Vertreters, fehlten dessen Vollmacht oder die vorgeschriebenen Beilagen, oder war der Unterzeichner als Vertreter nicht zugelassen, so war nach dieser revidierten Bestimmung eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen mit der Androhung, dass die Rechtsschrift sonst unbeachtet bleibe. Demnach hatte das Bundesgericht den Verfasser einer nicht oder von einer nicht als Vertreter zugelassenen Person unterzeichneten Rechtsschrift in jedem Fall auf den Mangel aufmerksam zu machen; selbst wenn die gesetzliche Rechtsmittelfrist abgelaufen war, musste dem Verfasser der nicht gültig unterzeichneten Rechtsschrift eine Frist zur nachträglichen Unterzeichnung angesetzt werden. Diese Regelung gründete auf dem Gedanken, dass jeder rigorose Formalismus zu vermeiden ist, die erwähnten Mängel folglich nicht direkt zu einem Nichteintreten führen, sondern innert einer Nachfrist beseitigt werden können. Prozessuale Formstrenge sollte dort gemildert werden, wo sie sich nicht durch schutzwürdige Interessen rechtfertigt (zum Ganzen:
BGE 120 V 413
E. 5c S. 418 f. mit Hinweisen).
2.4.6
Mit Blick auf die genannten Überlegungen, welche der erwähnten Gesetzesänderung zugrunde lagen, entschied das Bundesgericht, kantonale Gerichte handelten gegen Treu und Glauben, wenn sie ein nicht oder von einer nicht zur Vertretung berechtigten Person
BGE 142 I 10 S. 14
unterzeichnetes Rechtsmittel als unzulässig beurteilten, ohne eine kurze, gegebenenfalls auch über die gesetzliche Rechtsmittelfrist hinausgehende Nachfrist für die gültige Unterzeichnung anzusetzen. Es sei nicht verfassungswidrig, wenn das kantonale Gericht bei Einlegung eines Rechtsmittels auf der Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters bestehe. Hingegen habe es bei fehlender gültiger Unterschrift eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels anzusetzen. Denn die Möglichkeit der Nachfristansetzung, wie sie in Art. 30 Abs. 2 OG für das Verfahren vor Bundesgericht enthalten sei, sei Ausdruck eines aus dem Verbot des überspitzten Formalismus fliessenden allgemeinen prozessualen Rechtsgrundsatzes, der auch im kantonalen Verfahren Geltung habe (vgl.
BGE 120 V 413
E. 6a S. 419 mit Hinweisen; vgl. auch Urteile 2D_64/2014 vom 2. April 2015 E. 5.3; 1C_39/2013 vom 11. März 2013 E. 2.3; 2P.278/1999 vom 17. April 2000 E. 4c).
2.4.7
In der Folge präzisierte das Bundesgericht, der Anspruch auf eine Nachfrist bestehe nur bei unfreiwilligen Unterlassungen, weil sonst eine andere Regelwidrigkeit in Form der Nichtbeachtung der Frist zugelassen würde (
BGE 121 II 252
E. 4b S. 255 f.). Ausgenommen von der Nachfristansetzung sind somit Fälle des offensichtlichen Rechtsmissbrauchs. Auf einen solchen Missbrauch läuft es etwa hinaus, wenn ein Anwalt eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um sich damit eine Nachfrist für die Begründung zu erwirken (Urteil 1P.254/2005 vom 30. August 2005 E. 2.5 mit Hinweisen; vgl. auch Urteile 6B_51/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 2; 6B_902/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 3).
2.4.8
Das geltende Bundesgerichtsgesetz enthält eine Bestimmung, welche Art. 30 Abs. 2 OG im Wesentlichen entspricht. Fehlen die Unterschrift der Partei oder ihrer Vertretung, deren Vollmacht oder die vorgeschriebenen Beilagen oder ist die Vertretung nicht zugelassen, so wird eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels angesetzt mit der Androhung, dass die Rechtsschrift sonst unbeachtet bleibt (Art. 42 Abs. 5 BGG; vgl. ANNETTE DOLGE, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], Praxiskommentar, Spühler/Aemisegger/Dolge/Vock [Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 47 f. zu Art. 42 BGG).
2.4.9
Es besteht keine Veranlassung, von der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen und sie bei der Anwendung der Strafprozessordnung nicht zu beachten (vgl. Urteil 1B_194/2012 vom 3. August 2012 E. 2.1).
BGE 142 I 10 S. 15
Dass sich der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin rechtsmissbräuchlich verhalten hätte, ist nicht ersichtlich. Der Formfehler bestand nicht in der fehlenden Begründung der Eingabe, sondern bloss in der fehlenden rechtsgültigen Unterschrift. Zudem reichte er die Berufungserklärung drei Tage vor dem Ablauf der Frist ein. Demnach liegen keine Hinweise vor, dass der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin bewusst von einer rechtsgültigen Unterschrift absah, um eine Nachfrist zu erwirken (vgl. oben E. 2.4.7). Folglich hätte die Vorinstanz ihn auf den Mangel aufmerksam machen müssen. Hierfür wäre genügend Zeit verblieben, weil die Berufungserklärung der Vorinstanz am 29. August 2014 zuging und die Frist erst am 1. September 2014 ablief. Andernfalls hätte die Vorinstanz dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin eine kurze über die gesetzliche Rechtsmittelfrist hinausgehende Nachfrist für die gültige Unterzeichnung der Berufungserklärung ansetzen müssen. Der kantonale Nichteintretensentscheid ist aufzuheben. Weil der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin bereits eine Rechtsschrift mit eigenhändiger Unterschrift nachgereicht hat, erübrigt sich die Ansetzung einer Nachfrist. Die Vorinstanz hat im neuen Verfahren zu prüfen, ob auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, und gegebenenfalls auf die Berufung einzutreten. (...)