Chapeau
148 III 343
40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Stadt A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_179/2021 vom 20. Mai 2022
Regeste
Art. 40b al. 1 LCdF; responsabilité fondée sur le risque selon la loi fédérale sur les chemins de fer;
art. 40c LCdF; faits libératoires.
D'après l'art. 40c LCdF, le détenteur d'une entreprise ferroviaire est dégagé de sa responsabilité civile pour le dommage découlant de l'exploitation du chemin de fer si un fait qui ne lui est pas imputable - notamment la faute grave du lésé ou d'un tiers (al. 2 let. b) - a contribué à causer le dommage d'une façon si intense qu'il doit en être considéré comme la cause principale (al. 1) (consid. 3.1).
Commet une faute grave celui qui s'engage subitement sur une voie de tram sans s'assurer qu'aucun tram n'approche, parce qu'il a les yeux rivés sur un téléphone portable (consid. 4). Responsabilité de l'entreprise ferroviaire écartée.
Faits à partir de page 344
A. B. (Beschwerdegegner) wurde am 20. Februar 2019 bei einer Kollision mit einem Tram der Verkehrsbetriebe der Stadt A. (Beschwerdeführerin) schwer verletzt.
B. Mit Teilklage beantragte B. am 8. Oktober 2019 beim Bezirksgericht Zürich, die Stadt A. sei gestützt auf die Gefährdungshaftung gemäss Art. 40b Abs. 1 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (EBG; SR 742.101) zu verpflichten, ihm aus dem Unfall eine Genugtuung von Fr. 30'000.- nebst Zins zu bezahlen.
Das Bezirksgericht beschränkte das Verfahren auf die Frage der Haftung. Am 2. Juni 2020 erklärte es, dass die Stadt A. aus dem Unfall vom 20. Februar 2019 im Grundsatz haftet.
C. Die dagegen gerichtete Berufung der Stadt A. wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. Februar 2021 ab.
D. Die Stadt A. führt Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
3.1 Nach
Art. 40b Abs. 1 EBG haftet der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht. Nach
Art. 40c EBG wird er allerdings von der Haftpflicht entlastet, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass er als dessen Hauptursache anzusehen ist (Abs. 1), wie höhere Gewalt (Abs. 2 lit. a), die hier keine Rolle spielt, oder grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person (Abs. 2 lit. b).
Strittig ist, ob sich die Beschwerdeführerin mit Blick auf ein grobes Verschulden des Beschwerdegegners ihrer Haftpflicht entschlagen kann.
BGE 148 III 343 S. 345
3.2 Das Bundesgericht interpretiert
Art. 40c EBG im Wesentlichen gemäss seiner Rechtsprechung zur Unterbrechung des Kausalzusammenhangs (
BGE 143 II 661 E. 7.1;
BGE 130 III 182 E. 5.4;
BGE 116 II 519 E. 4b), indem das Drittverhalten nur eine Hauptursache im Sinne der Bestimmung darstellt, wenn es einen derart hohen Wirkungsgrad aufweist, dermassen ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass die vom Haftpflichtigen gesetzte Ursache nach wertender Betrachtungsweise für die eingetretene Schädigung als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint. Das Verhalten einer Drittperson vermag den Kausalzusammenhang nur zu unterbrechen, wenn diese Zusatzursache derart ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass damit nicht zu rechnen war (Urteile 4A_131/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.1; 4A_602/2018 vom 28. Mai 2019 E. 3.3.3 mit Hinweisen). Die Verwirklichung der Betriebsgefahr muss im Verhältnis zum hinzukommenden Sachverhalt von derart untergeordneter Bedeutung sein, dass sie nur noch als eine zufällige, unbedeutende Teilursache des Schadens erscheint (zit. Urteil 4A_602/2018 E. 3.3.3.3 mit Hinweisen). Dabei wird nicht auf die subjektive Zurechenbarkeit abgestellt. Zur Beurteilung, ob ein Sachverhalt vorliegt, der den adäquaten Kausalzusammenhang unterbricht, soll vielmehr ausschliesslich das objektive Verhalten der Drittperson in Beziehung gesetzt werden zum Einfluss der charakteristischen Betriebsgefahr der Eisenbahn (zit. Urteil 4A_602/2018 E. 3.3.4 mit Hinweis).
3.3 Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich allgemein aus dem Vergleich des tatsächlichen Verhaltens des Handelnden mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen (
BGE 137 III 539 E. 5.2 mit Hinweisen), wobei das Verschulden umso schwerer wiegt, je grösser das Ausmass der Abweichung vom Durchschnittsverhalten ist (
BGE 116 Ia 162 E. 2c mit Hinweisen).
3.4 Die Strassenbahn ist gegenüber dem Fussgänger grundsätzlich vortrittsberechtigt (
Art. 38 Abs. 1 SVG), gemäss Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) selbst auf Fussgängerstreifen. Solange der Strassenbahnführer keine Signalisation oder Verkehrsregelung verletzt und kein technisches Versagen vorliegt, ist dem Fussgänger bei einer Kollision grundsätzlich ein Selbstverschulden anzulasten (MARC HÜRZELER, Fussgänger im Strassenverkehr - Grundlagen und neuere Entwicklungen, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2011, S. 111 ff., 136). Ein grobes Selbstverschulden liegt vor, wenn eine geschädigte
BGE 148 III 343 S. 346
Person elementare Sorgfaltsregeln ausser Acht lässt, die eine vernünftige Person in der gleichen Lage beachtet hätte (ROGER KÖNIG, Die Gefährdungshaftung nach Eisenbahngesetz, 2012, S. 92 Rz. 203, vgl. auch S. 99 Rz. 217). Dabei ist grundsätzlich das Verhalten eines Durchschnittsmenschen in der gleichen Situation massgebend. Die geschädigte Person muss jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet gelassen haben, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte (MIRINA GROSZ, in: Haftpflichtkommentar, Fischer/Luterbacher [Hrsg.], 2016, N. 7 zu
Art. 40c EBG). Auf städtischem Gebiet ist jene Aufmerksamkeit aufzuwenden, die im Stadtverkehr notwendig ist. Handelt die geschädigte Person unter Würdigung der Gesamtumstände nicht nur unaufmerksam, sondern "äusserst unvorsichtig" (
BGE 88 II 448 E. 2b), dann ist von grobem Selbstverschulden auszugehen (vgl. auch KÖNIG, a.a.O., S. 99 Rz. 217).
4.1 Die Beschwerdeführerin bestreitet zu Recht nicht, dass sich die charakteristischen Risiken verwirklicht haben, die mit dem Betrieb von Trams verbunden sind. Nach den Feststellungen der Vorinstanz stand der Beschwerdegegner an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann wurde er vom Tram erfasst. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner durch die Kollision einen schweren Personenschaden erlitt und dass zwischen dem Unfall und den schweren Verletzungen des Beschwerdegegners ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Die Beschwerdeführerin beruft sich nicht auf ihr fehlendes Verschulden, sondern auf den Entlastungstatbestand des
Art. 40c EBG. Sie bringt vor, Hauptursache für die Verletzungen des Beschwerdegegners sei dessen Selbstverschulden.
4.2.1 Die Vorinstanz stellte unter Verweis auf die Erwägungen der Erstinstanz fest, dass der Beschwerdegegner am 20. Februar 2019 bei einer Tramhaltestelle mit einem Tram der Beschwerdeführerin kollidierte und sich schwer verletzte. Es lägen keine Hinweise auf Hindernisse vor, welche die Sicht behindert hätten. Die drei Augenzeugen sowie die Tramführerin hätten übereinstimmend ausgesagt,
BGE 148 III 343 S. 347
dass der Beschwerdegegner bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt gewesen sei, da er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigt habe. Es sei erstellt, dass er sich unvermittelt in den Gleisbereich begab, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Gemäss einem Zeugen habe der Beschwerdegegner vor der Kollision kurz nach rechts auf ein anderes Tram geschaut. Ob dies zutreffe, könne offenbleiben. Denn auch der betreffende Zeuge habe klar ausgesagt, dass der Beschwerdegegner unmittelbar vor der Kollision mit seinem Mobiltelefon beschäftigt gewesen sei. Vor diesem Hintergrund bleibe kein Raum für die Vermutung des Beschwerdegegners, wonach er das Mobiltelefon im Zeitpunkt der Kollision bereits wieder verstaut hatte.
4.2.2 Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdegegner habe sich von seinem Mobiltelefon ablenken lassen, als er die Tramgeleise betreten habe. Allerdings stehe nicht fest, wie lange und weshalb diese Ablenkung erfolgt sei. Dem Beschwerdegegner könne nicht vorgeworfen werden, er habe sich längere Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigt. Aus der Gegenrichtung sei praktisch zeitgleich ein anderes Tram in die Haltestelle eingefahren. Daher sei erhöhte Aufmerksamkeit gefordert gewesen vom Beschwerdegegner, der beabsichtigt habe, nach dem Fussgängerstreifen auch die Tramgeleise zu überqueren. Der Beschwerdegegner habe gegen die Verkehrsregeln verstossen, indem er sich seinem Mobiltelefon gewidmet und dem anderen Tram zugewandt habe. Denn er habe nicht nach links geschaut. Sein Verschulden wiege erheblich, aber nicht so schwer, dass die Betriebsgefahr, die vom Trambetrieb ausgeht, gänzlich in den Hintergrund gerückt würde. Ob dies auch dann der Fall wäre, wenn der Beschwerdegegner sich längere Zeit mit Blick auf das Mobiltelefon im Stadtverkehr bewegt hätte, brauche nicht entschieden zu werden.
Die Erstinstanz hatte erwogen, heutzutage gehöre der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild. Das Mobiltelefon sei die Ablenkung unserer Zeit schlechthin. Solange sich ein Fussgänger mit Mobiltelefon auf dem Trottoir oder einer Traminsel bewege, bleibe dies in aller Regel unproblematisch. Anders verhalte es sich, wenn er sein Augenmerk beim Betreten der Fahrbahn weiterhin auf sein Mobiltelefon richte. Ein solches Verhalten sei unaufmerksam. Jedoch sei heutzutage damit zu rechnen, dass über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger achtlos die Strasse
BGE 148 III 343 S. 348
beträten. Dieses Verhalten weiche nicht massgeblich vom zu erwartenden normalen Geschehen ab. Der adäquate Kausalzusammenhang werde deshalb nicht unterbrochen. Das Verhalten des Beschwerdegegners sei nur bei der Schadensbemessung als Selbstverschulden zu berücksichtigen.
4.3 Die vorinstanzliche Beurteilung des Selbstverschuldens des Beschwerdegegners überzeugt nicht.
4.3.1 Das Bundesgericht beschäftigte sich nicht oft mit Kollisionen zwischen Fussgängern und Trams. Zu erwähnen ist ein Urteil vom 3. November 1927, zu dem ein Fussgänger Anlass gab, der das Geleise einer Strassenbahn betreten hatte, ohne vorher Umschau zu halten, und von einem Tram erfasst wurde. Gemäss Bundesgericht missachtete dieses Verhalten die elementarsten Vorsichtsmassregeln und erschien damit als grobe Fahrlässigkeit. Dass das Bundesgericht nicht auf eine vollständige Entlastung der Strassenbahn, sondern auf eine Haftungsquote von 40 Prozent erkannte, war auf die verminderte Urteilsfähigkeit des Fussgängers infolge Psychopathie zurückzuführen (
BGE 53 II 433).
Sodann beurteilte das Bundesgericht am 17. Dezember 1931 das Verhalten einer Fussgängerin, die mit ihrer Freundin in ein Gespräch vertieft war und auf die Geleise trat. Sie wurde von einem Tram erfasst, dessen Führer mehrmals Glockensignale gab und die Geschwindigkeit verminderte. Das Bundesgericht machte eine Sorglosigkeit aus, neben der auch die besondere Betriebsgefahr des Trams nicht mehr als Mitursache des Unfalls gewertet werden kann. Es erklärte, es gehöre zum Minimum der erforderlichen Sorgfalt, dass man nicht einen Bahnkörper betritt, ohne sich vorher durch Ausschau nach links und rechts überzeugt zu haben, dass von keinem heranfahrenden Zug Gefahr drohe. Wer an einer Stelle, wo der Bahnkörper gut zu übersehen sei, auch diese einfachste Vorsichtsmassnahme unterlasse, könne sich nachher nicht auf die besondere Gefährlichkeit des Trams berufen, wenn sich ein Unfall ereigne (BGE 57 II 585).
In einem Urteil aus dem Jahr 2005 erachtete das Bundesgericht eine Haftungsquote von 25 Prozent zu Lasten der Trambetreiberin als gerechtfertigt, als eine Fussgängerin plötzlich und grundlos auf den Schienen anhielt, ohne zu überprüfen, ob sich ein Tram näherte (
BGE 131 III 667 und Urteil 5P.219/2005 vom 30. September 2005).
4.3.2 In anderem Zusammenhang entschied das Bundesgericht unlängst einen Fall, in dem ein Mann und eine Frau einen Katamaran
BGE 148 III 343 S. 349
auf einem Wagen mit Blick in Gehrichtung über einen Bahnübergang zogen. Der Mast des Katamarans traf die Fahrleitung, die mit 15'000 Volt unter Hochspannung stand. Die Frau wurde meterweit wegkatapultiert und erlitt massive Brandverletzungen und Knochenbrüche. Das Bundesgericht verwarf den Einwand, jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen hätte dasselbe passieren können. Es gehe nicht um den moralischen Vorwurf, der dem fahrlässig Handelnden gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit dem Kausalhaftenden die Folgen seiner gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Gemäss Bundesgericht lag es nicht am Bahnunternehmen, grosse Warnschilder aufzustellen oder parallele Schutzseile vor die Fahrleitungen zu spannen. Vielmehr hätten der Mann und die Frau den Gefahren des überlangen Masts Rechnung tragen müssen. Der Mann und die Frau seien ein nicht nachvollziehbares unnötiges Risiko eingegangen. Hauptursache des Unfalls sei ihr grobfahrlässiges Verhalten. Die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach
Art. 40c EBG seien erfüllt (Urteil 4A_131/2021 vom 11. Februar 2022 Sachverhalt und E. 2).
4.3.3 Indem der Beschwerdegegner das Tramtrassee betrat, ohne sich zu vergewissern, dass auch von links kein Tram nahte, verstiess er gegen die oben erwähnten Verkehrsregeln (vgl. E. 3.4 hiervor).
Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach
Art. 90 Abs. 2 SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt (vgl. Urteil 8C_263/2013 vom 19. August 2013 E. 4.2 mit Hinweis auf
BGE 118 V 305 E. 2b).
4.3.4 Der Beschwerdegegner stand an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann kam es zur verhängnisvollen Kollision. Der Unfall ereignete sich bei schöner Witterung und trockener Strasse auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte es den
BGE 148 III 343 S. 350
Fussgängern, herannahende Trams auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem zu erkennen. Mehrere Augenzeugen bestätigten übereinstimmend, dass der Beschwerdegegner bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt war, weil er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte. Er begab sich unvermittelt in den Gleisbereich, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Selbst wenn er kurz nach rechts auf ein anderes Tram geblickt haben sollte, steht fest, dass er vom Mobiltelefon abgelenkt war und das von links kommende Tram nicht beachtete.
Es ist nicht entscheidend, ob sich der Beschwerdegegner während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Es kann auch nicht ausschlaggebend sein, dass praktisch gleichzeitig ein Tram aus der Gegenrichtung in die Haltestelle einfuhr. Im Gegenteil hätte gerade dieser Umstand erhöhte Aufmerksamkeit vom Beschwerdegegner gefordert, was auch die Vorinstanz bemerkt hatte. Umso mehr hätte er den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen.
4.3.5 Daran ändert nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten, alltäglichen städtischen Strassenbild gehören mag. Auch die Vorinstanzen anerkennen die Problematik, wenn sich ein solcher Fussgänger von einem Trottoir oder einer Traminsel entfernt, eine Fahrbahn betritt und weiterhin auf sein Mobiltelefon blickt.
Der Beschwerdegegner war unbestritten ortskundig. Die Gefahrensituation war ihm ohne weiteres bewusst. Er wohnte nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es kann nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Auch hier geht es nicht um den moralischen Vorwurf, der dem Beschwerdegegner gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit der Beschwerdeführerin die Folgen ihrer gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Der Beschwerdegegner schuf die Gefahr völlig unnötig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hätte der Beschwerdegegner das herannahende Tram auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem erkennen können. Doch er war von seinem Mobiltelefon abgelenkt.
BGE 148 III 343 S. 351
Es lag nicht an der Beschwerdeführerin, die Tramhaltestelle besser zu sichern. Vielmehr hätte der Beschwerdegegner ein Mindestmass an Sorgfalt walten lassen und zumindest kurz nach links blicken müssen, bevor er das Tramtrassee betrat.
Der Beschwerdegegner weist zutreffend darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem Bahnhof, bei dem das Betreten der Geleise verboten ist, und einer Tramhaltestelle, wo das Betreten der Geleise notwendige Voraussetzung für den öffentlichen Verkehr ist. Doch ändert dies nichts daran, dass er grobfahrlässig handelte, indem er das Tramtrassee betrat, ohne nach links zu blicken und sich stattdessen seinem Mobiltelefon widmete.
4.3.6 In der Lehre wird kritisiert, dass das Selbstverschulden von Fussgängern bei unbesehenem Betreten der Geleise von Strassenbahnen derart schwer gewichtet wird, dass es an einer Adäquanz der Betriebsgefahr mangelt oder dass Haftungsquoten von weniger als einem Drittel resultieren. Das heutige Verkehrsaufkommen in den Städten erfordere von Fussgängern zum Teil eine sehr hohe Aufmerksamkeit und könne gerade in komplexen Verkehrssituationen zu Fehleinschätzungen des Tramverkehrs führen. Oft lasse das dichte und verzweigte Schienennetz gerade dem ortsunkundigen Fussgänger nur wenig Bedenkzeit, in welche Richtung er sich bewegen könne und welche Fahrtrichtung das Tram aufnehme. Insofern erscheine es angezeigt, grobes Selbstverschulden nur bei völlig unbedachtem und unbesehenem Betreten der Geleise anzunehmen. Selbst in solchen Fällen sei zu bedenken, dass die Betriebsgefahr des Trams nur ausnahmsweise als Ursache des Unfalls komplett in den Hintergrund tritt (HÜRZELER, a.a.O., S. 137 f.).
Was von dieser Lehrmeinung zu halten ist, kann offenbleiben. Denn im vorliegenden Fall hilft sie dem Beschwerdegegner ohnehin nicht. Er war zweifellos ortskundig. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ereignete sich der Unfall bei schöner Witterung und trockenem Strassenzustand auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte dem Beschwerdegegner, die Trams von Weitem zu erkennen, selbst wenn gleichzeitig ein Bus hielt. Es gab keine Hindernisse, welche die Sicht behinderten. Somit lag keine komplexe Verkehrssituation vor, die zu einer Fehleinschätzung des Tramverkehrs führte.
Vielmehr begab sich der Beschwerdegegner unvermittelt in den Gleisbereich. Er nahm das einfahrende Tram nicht wahr, weil er durch
BGE 148 III 343 S. 352
sein Mobiltelefon abgelenkt war und nicht nach links schaute. Damit liegt ein völlig unbedachtes und unbesehenes Betreten der Geleise vor. Weshalb auch in solchen Fällen die Betriebsgefahr des Trams als Ursache des Unfalls nur ausnahmsweise komplett in den Hintergrund treten soll, begründet der betreffende Autor nicht.
4.4 Nach dem Gesagten erscheint das verkehrsregelwidrige Verhalten des Beschwerdegegners als Hauptursache des Unfalls. Die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach
Art. 40c EBG sind erfüllt.