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Urteilskopf

149 III 81


12. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. und vice versa (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_591/2021 / 5A_600/2021 vom 12. Dezember 2022

Regeste a

Art. 98 BGG; Eheschutzentscheid als vorsorgliche Massnahme.
Eheschutzentscheide sind vorsorgliche Massnahmen im Sinn von Art. 98 BGG (E. 1.3; Bestätigung der ständigen Rechtsprechung).

Regeste b

Art. 5 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 HKsÜ; Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO; materielle Zuständigkeit bei widerrechtlichem Verbringen des Kindes.
Die Auswanderung des Kindes in einen HKsÜ-Vertragsstaat führt nach Art. 5 Abs. 2 HKsÜ grundsätzlich zu einem sofortigen Zuständigkeitswechsel (E. 2.4). Dieser bleibt jedoch unter den Bedingungen von Art. 7 Abs. 1 HKsÜ einstweilen blockiert und die schweizerische Zuständigkeit erhalten, wenn der Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes widerrechtlich erfolgt ist (E. 2.4.1).

Regeste c

Art. 10 HKsÜ; Annexzuständigkeit.
Das Eheschutzverfahren fällt nicht unter Art. 10 HKsÜ (E. 2.4.3).

Regeste d

Art. 2 und 5 Nr. 2 LugÜ; Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO; perpetuatio fori bei internationalen Unterhaltsstreitigkeiten.
Bei Auswanderung des Unterhaltsberechtigten in einen LugÜ-Staat gilt für den in der Schweiz hängigen Unterhaltsprozess die perpetuatio fori (E. 3.1).

Regeste e

Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 15 i.V.m. Art. 24 HUÜ; anwendbares Recht bei internationalen Unterhaltsstreitigkeiten.
Grundsätzlich ist bei Unterhaltsstreitigkeiten ab dem Zeitpunkt der Auswanderung des Unterhaltsberechtigten das innerstaatliche Recht am neuen gewöhnlichen Aufenthalt anzuwenden (Art. 4 HUÜ). Allerdings hat sich die Schweiz vorbehalten, unter den Bedingungen von Art. 15 HUÜ das eigene Unterhaltsrecht anzuwenden (E. 3.1).

Sachverhalt ab Seite 83

BGE 149 III 81 S. 83

A. Die Parteien heirateten Anfang 2009 in Rom. Sie haben den im Jahr 2013 geborenen Sohn C. Die Familie lebte vorwiegend in U., teilweise aber auch in Rom, primär in den ersten Lebensjahren von C. In den letzten zwei Jahren vor der Trennung "pendelte" die Mutter zufolge ihrer Anstellung in Rom zwischen den beiden Orten. Gemeldet war sie seit dem Jahr 2011 in U.

B. Mit Eheschutzgesuch vom 4. Dezember 2018 verlangte die Mutter im Wesentlichen die Zuteilung der ehelichen Wohnung in U., die Obhut für C. sowie Unterhaltsbeiträge.
Nachdem sie die eheliche Wohnung ungefähr Ende 2018 mit dem Kind verlassen und vorübergehend in eine Notunterkunft ziehen musste, zog sie schliesslich Anfang September 2019 nach Mailand, wo sie das Kind einschulte und wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen konnte.
Mit Eheschutzentscheid vom 28. Januar 2020 stellte das Bezirksgericht March das Kind unter die Obhut der Mutter mit der Begründung, diese sei seit jeher die engere Bezugsperson. Sodann regelte es das Besuchsrecht, wies die eheliche Wohnung dem Vater zu und verpflichtete diesen zu Unterhalt an die Mutter und das Kind.
Dagegen erhoben beide Parteien Berufung. Mit Berufungsentscheid vom 21. Juni 2021 stellte das Kantonsgericht Schwyz den Sohn unter die Obhut des Vaters mit der Begründung, die Mutter sei mit dem Kind eigenmächtig ins Ausland gezogen. Ferner regelte es das Besuchsrecht und setzte vom Vater zu leistende Unterhaltsbeiträge an die Mutter bis Dezember 2019 und an das Kind bis Juli 2021 sowie von der Mutter ab August 2021 zu leistende Kindesunterhaltsbeiträge fest.

C. Mit Beschwerde vom 19. Juli 2021 verlangt die Mutter die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils, wobei sie sich in der Beschwerdebegründung ausschliesslich auf die Obhutszuteilung bezieht.
Mit Beschwerde vom 22. Juli 2021 verlangt der Vater die Feststellung, dass weder Kindesunterhalt noch ehelicher Unterhalt geschuldet sei, sowie die Verpflichtung der Mutter zur Zahlung von Kindesunterhalt ab August 2021.
Beide Parteien verlangen je die Abweisung der gegnerischen Beschwerde.
BGE 149 III 81 S. 84
Das Bundesgericht hebt den Berufungsentscheid in Bezug auf die Obhutsumteilung an den Vater und in Bezug auf die der Mutter ab August 2021 auferlegte Unterhaltspflicht auf.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. In formeller Hinsicht ist Folgendes festzuhalten:

1.1 Beide Parteien fechten den kantonal letztinstanzlichen Eheschutzentscheid an; die Beschwerde in Zivilsachen steht offen (Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG). Die spezifische Frage der internationalen Zuständigkeit, welche als Eintretensvoraussetzung im bundesgerichtlichen Verfahren von Amtes wegen und mit freier Kognition zu prüfen ist (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 II 168 E. 1; BGE 144 II 184 E. 1), wird im Kontext mit den in der Beschwerde thematisierten Fragen zu behandeln sein.

1.2 Weil es um das gleiche Anfechtungsobjekt geht und die Parteien identisch sind, rechtfertigt es sich, die Beschwerdeverfahren zu vereinigen und in einem Urteil zu behandeln (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 BZP [SR 273]).

1.3 Bei Eheschutzsachen handelt es sich um vorsorgliche Massnahmen im Sinn von Art. 98 BGG (BGE 133 III 393 E. 5.1), so dass nur die Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte möglich ist. Es gilt somit das strenge Rügeprinzip im Sinn von Art. 106 Abs. 2 BGG und das Bundesgericht prüft in diesem Fall nur klar und detailliert erhobene Rügen, während es auf appellatorische Kritik nicht eintritt (BGE 142 III 364 E. 2.4; BGE 134 II 244 E. 2.2).

2. Im Unterschied zum Bezirksgericht hat sich das Kantonsgericht nicht zur internationalen Zuständigkeit geäussert, obwohl die Mutter diese in ihrer Berufungsantwort bestritten hatte; vielmehr hat es diese offenbar stillschweigend angenommen, ansonsten es nicht vorbehaltlos materiell geurteilt hätte.

2.1 Die Mutter erachtet dies als willkürlich. Sie bringt vor, dass sie mit ihrem Sohn seit September 2019 in Mailand lebe. Gemäss Art. 5 Abs. 1 des Haager Kindesschutzübereinkommens vom 19. Oktober 1996 (HKsÜ; SR 0.211.231.011) seien die Gerichte oder Behörden am Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes entscheidzuständig. Mithin sei dem Kantonsgericht die Entscheidzuständigkeit für die Obhutsumteilung abgegangen, was es in Verletzung des Willkürverbotes verkannt habe.
BGE 149 III 81 S. 85

2.2 Der Vater macht geltend, Art. 5 HKsÜ behalte Art. 7 HKsÜ vor und das Kind habe in Italien gar keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können, weil die Mutter mit ihm gegen seinen (Vater) Willen nach Italien übersiedelt sei und sein Rückführungsantrag zufolge der erhobenen Berufung immer noch im Sinn von Art. 7 Abs. 1 lit. b HKsÜ hängig gewesen sei, denn er habe gar keine Möglichkeit gehabt, ein Rückführungsbegehren im Sinn des Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (SR 0.211.230.02; nachfolgend: HKÜ) zu stellen, solange das Kantonsgericht über die Berufung noch nicht entschieden habe. Die Zuständigkeit des Kantonsgerichtes ergebe sich mit anderen Worten aus Art. 7 Abs. 1 lit. b HKsÜ und gemäss Art. 13 HKsÜ bleibe diese bestehen, solange noch Massnahmen geprüft würden; ausserdem ergebe sich die Zuständigkeit für das Eheschutzverfahren auch aus Art. 10 HKsÜ.

2.3 Die Mutter ist mit dem Kind im September 2019 nach Mailand ausgewandert und hat sich dort mit ihm niedergelassen. Damit lag bereits im Zeitpunkt der Einleitung des Berufungsverfahrens und insbesondere im Urteilszeitpunkt ein internationaler Sachverhalt vor. Mithin bestimmt sich die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte nach dem IPRG, wobei Staatsverträge den dortigen Regeln vorgehen (Art. 1 Abs. 2 IPRG [SR 291]). Ein solcher Staatsvertrag könnte das Lugano-Übereinkommen sein. Jedoch ist der Personenstand, wozu auch die nicht-monetären Regelungen des Eltern-Kind-Verhältnisses, namentlich die Regelung des Sorge-, Obhuts- und Besuchsrechts gehören, gemäss Art. 1 Abs. 2 Bst. a LugÜ (SR 0.275.12) vom Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgenommen (BGE 142 III 56 E. 2.1.2; BGE 124 III 176 E. 4; letztmals Urteil 5A_370/2021 vom 26. August 2021 E. 4). Die Zuständigkeit richtet sich mithin nach Art. 85 Abs. 1 IPRG, welches seinerseits auf das Haager Kindesschutzübereinkommen verweist. Dabei handelt es sich um eine zwingende Zuständigkeit, die von Amtes wegen zu prüfen und zu beachten ist. Die Anwendung der einschlägigen Zuständigkeitsvorschriften oder eine diesbezügliche Nichtbeachtung kann deshalb mit Willkürrügen, wie sie von der Mutter erhoben werden, angefochten werden, umso mehr als diese in ihrer Berufungsantwort die internationale Zuständigkeit des Kantonsgerichts bestritten hat.

2.4 Art. 5 Abs. 1 HKsÜ erklärt grundsätzlich die Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes für zuständig. Sobald dieses in einem anderen Land gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, wird
BGE 149 III 81 S. 86
gemäss Art. 5 Abs. 2 HKsÜ grundsätzlich das Gericht am neuen Aufenthaltsort entscheidzuständig. Es besteht somit anders als nach Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO nicht der Grundsatz der perpetuatio fori (vgl. LAGARDE, Rapport explicatif / Explanatory report zum Haager Kindesschutzübereinkommen, 1997, Rz. 42; Practical Handbook on the Operation of the 1996 Hague Child Protection Convention, Hague Conference on Private International Law 2014, S. 41 [beide Dokumente abrufbar auf der Website der Haager Konferenz www.hcch.net]). Zieht das Kind mit dem hauptbetreuenden Elternteil weg, welcher am Zuzugsort einen neuen Wohnsitz begründet hat, ist von einem sofortigen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Kindes auszugehen, welcher die alte Zuständigkeit selbst bei hängigem Verfahren entfallen lässt (BGE 144 III 469 E. 4.2.2; BGE 143 III 193 E. 2; BGE 142 III 1 E. 2.1; BGE 129 III 288 E. 4.1). Das Haager Kindesschutzübereinkommen kennt allerdings mehrere Ausnahmen von diesem Grundsatz, wobei sich der Vater vorliegend auf Art. 7, 10 und 13 HKsÜ beruft (dazu sogleich).

2.4.1 Die erste Ausnahme vom Zuständigkeitswechsel ab dem Zeitpunkt der Begründung neuen gewöhnlichen Aufenthalts steht im Zusammenhang mit dem widerrechtlichen Verbringen des Kindes ins Ausland. Die Widerrechtlichkeit oder eben die Rechtmässigkeit bestimmt sich nach dem nationalen Recht des Herkunftsstaates (BGE 133 III 694 E. 2.1.1; Urteile 5A_617/2022 / 5A_621/ 2022 vom 28. September 2022 E. 4.1.2; 5A_954/2021 vom 3. Januar 2022 E. 4.1.3; 5A_281/2020 vom 27. April 2021 E. 3.2; 5A_537/2012 vom 20. September 2012 E. 3; 5A_479/2012 vom 13. Juli 2012 E. 4.3; 5A_105/2009 vom 16. April 2009 E. 2), bei einem Wegzug aus der Schweiz also nach Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB. Danach kann der Alleininhaber der elterlichen Sorge autonom über die Aufenthaltsverlegung des Kindes entscheiden, während es bei gemeinsamer elterlicher Sorge der Zustimmung des anderen Elternteils oder, wenn dieser nicht zustimmt, der Entscheidung durch das Gericht oder die Kindesschutzbehörde bedarf. Liegt auch kein genehmigender Entscheid vor und verlegt ein Elternteil trotzdem den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in einen anderen Vertragsstaat, eröffnet Art. 301a ZGB keine Möglichkeit für das schweizerische Gericht, die Rückkehr des Kindes anzuordnen; die Norm wurde vom Gesetzgeber bewusst sanktionslos ausgestaltet (BGE 144 III 10 E. 5 m.w.H.; Urteil 5A_730/2020 vom 21. Juni 2021 E. 2.1). Im internationalen Verhältnis unter Vertragsstaaten handelt es sich indes um ein
BGE 149 III 81 S. 87
widerrechtliches Verbringen des Kindes im Sinn von Art. 3 und 5 HKÜ respektive von Art. 7 Abs. 2 HKsÜ. Diesfalls kann der zurückgebliebene Elternteil im neuen Aufenthaltsstaat des Kindes ein Rückführungsgesuch stellen (vgl. Art. 12 Abs. 1 HKÜ), d.h. die autoritative gerichtliche Anordnung der Rückführung des Kindes verlangen, und gleichzeitig bleibt der von Art. 5 Abs. 2 HKsÜ als Grundsatz vorgesehene Zuständigkeitswechsel vorderhand blockiert, selbst wenn das Kind im Ausland neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat; der Kompetenzwechsel tritt gemäss Art. 7 Abs. 1 HKsÜ erst ein, wenn (lit. a) die sorgeberechtigte Person das Verbringen genehmigt hat oder wenn (lit. b) das Kind sich im anderen Staat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, kein während dieser Zeit gestellter Rückführungsantrag im Sinn des Haager Kindesentführungsübereinkommens mehr hängig ist und das Kind sich im neuen Umfeld eingelebt hat (zum Zusammenspiel bzw. zur Verzahnung von Art. 3 HKÜ und Art. 7 HKsÜ vgl. Urteile 5A_467/2021 vom 30. August 2021 E. 2.5; je m.w.H.; 5A_475/2018 vom 9. Juli 2018 E. 4.5). Der Haager Mechanismus ist dahingehend ausgestaltet, dass das Rückführungsverfahren als Rechtshilfe zwischen den Vertragsstaaten aufzufassen ist (BGE 120 II 222 E. 2b; letztmals Urteile 5A_678/2022 vom 23. September 2022 E. 1; 5A_635/2022 vom 20. September 2022 E. 1), in welchem dem Rückführungsrichter keinerlei materielle Entscheidungskompetenz zukommt (Art. 19 HKÜ) und welches die Begründung einer materiellen Entscheidungskompetenz im neuen Staat verhindert (Art. 16 HKÜ). Es soll gerade dazu dienen, das Kind physisch in die Jurisdiktion des gemäss Art. 7 Abs. 1 HKsÜ nach wie vor zuständigen Herkunftsstaates zurückzuführen. Insoweit sind Art. 16 HKÜ und Art. 7 Abs. 1 HKsÜ als Spiegelbild zu sehen und ist das Haager Zuständigkeitssystem ein in sich geschlossenes Ganzes.
Vorliegend hat die hauptbetreuende Mutter in Mailand einen neuen Wohnsitz begründet, weshalb von einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes auszugehen ist. Der Vater hat in Italien nie ein Rückführungsverfahren eingeleitet, obwohl er seit September 2019 vom Aufenthaltswechsel wusste. Entgegen seiner Behauptung hat das hiesige Eheschutzverfahren die Einleitung eines Rückführungsverfahrens in Italien auch nicht verhindert. Im Gegenteil dient die Kindesrückführung wie gesagt gerade dazu, das Kind in die Jurisdiktion des Staates zurückzuführen, in welchem es vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
BGE 149 III 81 S. 88
Das Rückführungsverfahren ist im Zuzugsstaat einzuleiten (Art. 12 Abs. 1 HKÜ). Entgegen den Ausführungen des Vaters konnte das schweizerische Eheschutzverfahren bzw. das Berufungsverfahren vor dem Kantonsgericht nicht als Rückführungsverfahren im Sinn des HKÜ angesehen werden, auch nicht sinngemäss. Wohl gibt es diesbezüglich einen (in der Beschwerde nicht vorgebrachten) bundesgerichtlichen Entscheid, welcher dies nahelegen könnte und insofern missverständlich ist: Im Urteil 5A_105/2020 vom 16. November 2020 E. 3.4.2 wurde im Zusammenhang mit einem Wegzug nach Algerien, also in einen Nicht-Vertragsstaat, festgehalten, der Begriff des "Rückführungsverfahrens" im Sinn von Art. 7 Abs. 1 HKsÜ sei funktional zu verstehen und deshalb die schweizerische Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils sinngemäss mit einem Rückführungsgesuch gleichzusetzen. Daran ist so viel richtig, dass in einem Staat, der nicht Teil des Haager Rechtsraumes ist, zwangsläufig kein Rückführungsverfahren gestellt werden kann. Dafür greift hier nach der publizierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 143 III 237 E. 2.3; BGE 142 III 1 E. 2.1; je m.w.H.) für das schweizerische Verfahren gestützt auf Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO der Grundsatz der perpetuatio fori; zwar wird das Haager Kindesschutzübereinkommen aufgrund des allgemeinen Verweises in Art. 85 IPRG erga omnes, also auch in Bezug auf Nicht-Vertragsstaaten, angewandt, allerdings nicht in Bezug auf Art. 5 Abs. 2 HKsÜ, so dass es bei Aufenthaltsbegründung in einem Nicht-Vertragsstaat nicht zu einem sofortigen Zuständigkeitswechsel kommt, sondern in der Schweiz bereits hängige Verfahren fortgeführt werden können (vgl. dazu die ausführlichen Hinweise in BGE 143 III 237 E. 2.3; sodann auch LAGARDE, a.a.O., Rz. 42 i.f.). Das Kind würde ansonsten Gefahr laufen, zuständigkeitsmässig zwischen Stuhl und Bank zu fallen, denn nur zwischen den am Übereinkommen beteiligten Vertragsstaaten ist gesichert, dass in Anwendung des Haager Zuständigkeitsregimes im Zuzugsstaat nahtlos wiederum eine Zuständigkeit und damit hinreichender Rechtsschutz in Bezug auf die Belange des Kindes besteht. Die perpetuatio fori im Verhältnis zu Drittstaaten macht aber das fortgeführte schweizerische Verfahren - entgegen dem, was im erwähnten Urteil 5A_105/2020 insinuiert wird - nicht funktional zu einem Rückführungsverfahren; der Schweizer Richter hat keine Möglichkeit, in verbindlicher Weise die Rückführung eines in einem anderen Staat befindlichen Kindes anzuordnen, umso weniger als die Verletzung des Zustimmungserfordernisses für die Auswanderung
BGE 149 III 81 S. 89
gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB nach dem Gesagten zivilrechtlich sanktionslos bleibt.
Was schliesslich das erforderliche Einleben des Kindes am neuen Ort anbelangt, bedarf es angesichts seines Alters, der dort seit mehreren Jahren erfolgenden Beschulung und der Betreuung durch seine italienischsprachige Mutter keiner spezifischen Sachverhaltsabklärungen, sondern kann das Einleben - zumal sich die Parteien nicht dazu äussern, weil offensichtlich auch sie von einer diesbezüglichen Evidenz ausgehen - ohne Weiterungen als gegeben angenommen werden.
Mithin ist vorliegend eine Sperrwirkung gemäss Art. 7 Abs. 1 lit. b HKsÜ entfallen und ist für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit Art. 5 Abs. 2 HKsÜ massgebend. Nachdem das Kind aufgrund des Gesagten zeitgleich mit dem Wegzug nach Mailand dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte, war jedenfalls im Zeitpunkt des fast zwei Jahre später ergangenen Berufungsurteils das Kantonsgericht nicht mehr entscheidzuständig. Hingegen war das Bezirksgericht, welches wenige Monate nach dem Wegzug seinen Eheschutzentscheid gefällt hat, vor dem Hintergrund der widerrechtlichen Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes in Bezug auf die Obhut und das Besuchsrecht international entscheidzuständig (Art. 7 Abs. 1 HKsÜ i.V.m. Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO).

2.4.2 Soweit sich der Vater auf Art. 13 HKsÜ beruft, zielen seine Ausführungen an der Sache vorbei. Diese Bestimmung bezweckt, Zuständigkeitskonflikte zu lösen, wie sich bei ausnahmsweise möglichen konkurrierenden Zuständigkeiten ergeben können. Vorliegend ist und war in Italien keine Behörde und kein Gericht mit der Obhutsfrage befasst.

2.4.3 Nach Art. 10 HKsÜ können die Behörden eines Vertragsstaates in Ausübung ihrer Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Antrag auf Scheidung, Trennung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe der Eltern eines Kindes, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Vertragsstaat hat, sofern das Recht ihres Staates dies zulässt, Massnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes treffen, wenn (lit. a) einer der Eltern zu Beginn des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat und ein Elternteil die elterliche Verantwortung für das Kind hat, und (lit. b) die Eltern und jede andere Person, welche die elterliche Verantwortung für das Kind hat, die Zuständigkeit dieser
BGE 149 III 81 S. 90
Behörden für das Ergreifen solcher Massnahmen anerkannt haben und diese Zuständigkeit dem Wohl des Kindes entspricht.
Art. 10 HKsÜ eröffnet also in bestimmten Verfahren auf Elternebene eine Annexzuständigkeit für Regelung der Kinderbelange. Allerdings besteht eine solche nur im Zusammenhang mit einem Scheidungsverfahren im Sinn von Art. 111 ff. ZGB, einem Trennungsverfahren gemäss Art. 117 f. ZGB oder einer Eheungültigkeit nach Art. 104 ff. ZGB. Dies geht nicht nur aus dem - im Unterschied zum offenen Wortlaut von Art. 5 Nr. 2 Bst. b und c LugÜ - enumerativ formulierten Wortlaut von Art. 10 HKsÜ, sondern auch aus dem erläuternden Bericht hervor, der in den Originalsprachen Englisch und Französisch von "divorce, legal separation or annulment of the marriage" bzw. von "divorce, séparation de corps ou annulation de mariage" spricht (LAGARDE, a.a.O., Rz. 62). Ein Eheschutzverfahren fällt hingegen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 10 HKsÜ (SCHWANDER, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 2021, N. 58 zu Art. 85 IPRG; PRAGER, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl. 2016, N. 53 zu Art. 85 IPRG), denn mit "séparation de corps" ist in Bezug auf das schweizerische Zivilrecht diejenige nach Art. 117 ff. ZGB gemeint, nicht aber die "mesures judiciaires" gemäss Art. 172 ff. ZGB, umso weniger als das Eheschutzverfahren nicht die rechtliche Trennung, sondern die gerichtlichen Massnahmen während des Zusammenlebens (Art. 173 f. ZGB) oder bei Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes (Art. 176 ZGB) regelt.
Aufgrund des Gesagten geht das Vorbringen des Vaters an der Sache vorbei und als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass sich im Zusammenhang mit der Obhutsfrage für den Zeitpunkt des angefochtenen Entscheides unter keinem Aspekt eine schweizerische Zuständigkeit begründen lässt.

2.5 Nach dem Gesagten hat das Kantonsgericht, welches sich zur internationalen Zuständigkeit gar nicht erst geäussert hat, jegliche damit zusammenhängenden Grundsätze verkannt, was nach den zutreffenden Rügen der Mutter Willkür in der Rechtsanwendung begründet (vgl. hierzu BGE 148 III 95 E. 4.1; BGE 144 I 113 E. 7.1; BGE 142 II 369 E. 4.3).
Bestand nach dem Gesagten im Zeitpunkt des angefochtenen Berufungsentscheides keine schweizerische Zuständigkeit, erübrigt es sich, auf die Willkürrügen der Mutter betreffend die
BGE 149 III 81 S. 91
Vorgehensweise des Kantonsgerichts im Berufungsverfahren einzugehen. Von vornherein nicht zulässig wäre es sodann, die Rügen zur Sache (Obhutszuteilung und Besuchsrecht) zu behandeln, denn für die materiellen Belange fehlt es vor dem Hintergrund des Zeitablaufes im bundesgerichtlichen Verfahren erst recht an der internationalen Zuständigkeit. Hingegen hat das Bezirksgericht wenige Monate nach dem Wegzug entschieden und war es vor dem Hintergrund der widerrechtlichen Aufenthaltsverlegung nach dem in E. 2.4.1 Gesagten international entscheidzuständig. Mithin hat es bei der Aufhebung des kantonsgerichtlichen Entscheides und einem diesbezüglichen Nichteintreten auf die Berufung des Vaters zu bleiben mit der Folge, dass die Regelung gemäss dem erstinstanzlichen Entscheid gilt.

3. (...)

3.1 Ein Teil (namentlich der festgesetzte Kindesunterhalt erstreckt sich von Februar 2019 bis Juli 2021) betrifft die Zeit nach dem Wegzug nach Italien. Dies hat indes keinerlei Auswirkungen, weil nach Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO die perpetuatio fori gilt und dieses Prinzip bei Annahme eines internationalen Sachverhaltes unausgesprochen auch dem Lugano-Übereinkommen, welches für Unterhaltssachen massgebend ist (BGE 142 III 466 E. 4.2; BGE 138 III 11 E. 7.1.1; BGE 119 II 167 E. 4b), zugrunde liegt (DASSER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ], 3. Aufl. 2021, N. 27 zu Art. 2 LugÜ) und der Vater als ursprünglicher Gesuchsgegner, mithin als Unterhaltsbeklagter, in der Schweiz Wohnsitz hat, womit der allgemeine Beklagtengerichtsstand gemäss Art. 2 LugÜ greift, zumal Art. 5 Nr. 2 LugÜ für Unterhaltssachen lediglich einen alternativen Wahlgerichtsstand schafft (OBERHAMMER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ], 3. Aufl. 2021, N. 1 zu Art. 5 LugÜ).
Gleiches ergibt sich für das anwendbare Recht. Selbst wenn dieses ab der Verlegung des Aufenthaltsortes sich gemäss Art. 83 IPRG nach dem Haager Übereinkommen vom 2. Oktober 1973 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (SR 0.211.213.01; nachfolgend: HUÜ) bestimmt, ergäbe sich keine Änderung: Nach Art. 4 Abs. 1 HUÜ ist zwar das innerstaatlich geltende Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten massgeblich und nach Art. 4 Abs. 2 HUÜ ist ab dem Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels das innerstaatliche Recht am neuen gewöhnlichen Aufenthalt anzuwenden, ohne dass die Annexzuständigkeit gemäss Art. 8 HUÜ den Kindesunterhalt betreffen würde (SCHWANDER, a.a.O., N. 15 zu Art. 83 IPRG). Allerdings hat sich die Schweiz gestützt auf Art. 24 HUÜ
BGE 149 III 81 S. 92
die in Art. 15 HUÜ vorgesehene Möglichkeit vorbehalten, das eigene innerstaatliche Recht anzuwenden, wenn sowohl der Unterhaltspflichtige als auch der Unterhaltsberechtigte Schweizer Bürger sind und der Unterhaltspflichtige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat; diesfalls kommt also das gemeinsame schweizerische Heimatrecht zur Anwendung (BAUMANN WEY, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl. 2016, N. 22 zu Art. 82-83 IPRG). Vorliegend hat der Vater Wohnsitz in der Schweiz und das Kind verfügt - auch wenn dies im angefochtenen Entscheid nicht explizit festgestellt ist - zwangsläufig über das Schweizer Bürgerrecht, da es den Nachnamen des Vaters trägt (Art. 271 Abs. 1 ZGB).
(...)

4. Zusammenfassend ergibt sich Folgendes:
Im Zusammenhang mit der Obhutsfrage mangelte es dem Kantonsgericht an der internationalen Entscheidzuständigkeit. Insoweit als sich die beschwerdeweise erhobenen Willkürrügen der Mutter auf diese Frage beziehen, ist in Gutheissung der Beschwerde der Mutter und unter Nichteintreten auf die Berufung des Vaters der Entscheid des Kantonsgerichts in Bezug auf die Obhutszuteilung an den Vater per 1. August 2021 samt der damit zusammenhängenden Besuchsregelung und in Bezug auf die ebenfalls damit zusammenhängende Verpflichtung der Mutter zu Kindesunterhalt ab August 2021 aufzuheben. Als Folge gilt nach dem in E. 2.4.1 und E. 2.5 Gesagten die vom Bezirksgericht March getroffene Regelung, welches wenige Monate nach dem Wegzug entschieden hat und damals vor dem Hintergrund der widerrechtlichen Aufenthaltsverlegung international entscheidzuständig war. Dies ist im Dispositiv des vorliegenden Urteils so zum Ausdruck zu bringen.
Hingegen ist die vom Vater in Bezug auf den vom Kantonsgericht zu seinen Lasten festgesetzten ehelichen und Kindesunterhalt erhobene Beschwerde abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann.

Inhalt

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Referenzen

BGE: 142 III 1, 143 III 237, 145 II 168, 144 II 184 mehr...

Artikel: Art. 10 HKsÜ, Art. 5 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 HKsÜ, Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO, Art. 7 Abs. 1 HKsÜ mehr...