149 V 218
Urteilskopf
149 V 218
21. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Helsana Unfall AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_125/2023 vom 8. August 2023
Regeste
Art. 4 ATSG; Art. 6 Abs. 1 UVG; Zahnschaden beim Beissen auf einen Stein, der sich in einem abgepackten verzehrfertigen Salat befand; Kausalzusammenhang; krankhafter Vorzustand; Gelegenheits- und Zufallsursache.
Hält ein bereits behandelter Zahn einer plötzlichen, nicht beabsichtigten und aussergewöhnlichen Belastung nicht stand, darf die Annahme eines unfallbedingten Zahnschadens nur dann verneint werden, wenn anzunehmen ist, der betroffene Zahn hätte selbst einer normalen Belastung nicht standgehalten (E. 5.3).
A. Die 1963 geborene A. war bei der B. SA in einem 50 %-Pensum angestellt und dadurch bei der Helsana Unfall AG (nachfolgend: Helsana) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Gemäss Bagatellunfall-Meldung UVG vom 9. Dezember 2021
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biss sie am 22. November 2021 auf einen Stein, der sich in einem Salatbeutel befunden hatte. Am 29. November 2021 begab sie sich in zahnärztliche Behandlung bei Dr. med. dent. C. Dieser wechselte zunächst die Compositfüllung aus. Nachdem dies nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, erfolgte am 23. Dezember 2021 aufgrund des Verdachts auf eine Längsfraktur die Extraktion des Zahnes 47. Nach Einholung einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. med. dent. D. vom 19. Februar 2022 verneinte die Helsana mit Verfügung vom 7. März 2022 ihre Leistungspflicht mangels Vorliegens eines natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Ereignis vom 22. November 2021 und dem geltend gemachten Zahnschaden. Daran hielt sie - nach Einholung einer weiteren Stellungnahme ihres beratenden Arztes vom 1. Juni 2022 - mit Einspracheentscheid vom 7. Juni 2022 fest.
B. Die von A. dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 30. Dezember 2022 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, es seien ihr in Aufhebung des Einspracheentscheids der Helsana vom 7. Juni 2022 die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zwecks Einholung eines Gerichtsgutachtens resp. an die Helsana zur Einholung eines versicherungsexternen Gutachtens zurückzuweisen.
Die Helsana, die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
Aus den Erwägungen:
5. Umstritten ist, ob die vom behandelnden Zahnarzt festgestellte Schädigung des Zahnes 47 (Teilfraktur der okklusalen Füllung und Verdacht auf eine Längsfraktur des Zahnes) auf den Unfall vom 22. November 2021 zurückzuführen ist.
5.1 Die Leistungspflicht der Unfallversicherung setzt unter anderem voraus, dass zwischen dem schädigenden Ereignis und dem behandelten Zahnleiden nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung zu den im Sinne von Art. 6 Abs. 1 UVG massgebenden Ursachen gehören auch
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Umstände, ohne deren Vorhandensein die gesundheitliche Beeinträchtigung nicht zur gleichen Zeit eingetreten wäre. Eine schadensauslösende traumatische Einwirkung ist also selbst dann leistungsbegründend, wenn der betreffende Schaden auch ohne das versicherte Ereignis früher oder später wohl eingetreten wäre, der Unfall somit nur hinsichtlich des Zeitpunkts des Schadenseintritts Conditio sine qua non war. Anders verhält es sich, wenn der Unfall nur Gelegenheits- oder Zufallsursache ist, welche ein gegenwärtiges Risiko, mit dessen Realisierung jederzeit zu rechnen gewesen wäre, manifest werden lässt, ohne im Rahmen des Verhältnisses von Ursache und Wirkung eigenständige Bedeutung anzunehmen.Einem Ereignis kommt demzufolge der Charakter einer anspruchsbegründenden Teilursache zu, wenn das aus der potentiellen pathogenen Gesamtursache resultierende Risiko zuvor nicht dermassen gegenwärtig war, dass der auslösende Faktor gleichsam beliebig und austauschbar erschiene. Dagegen entspricht die unfallbedingte Einwirkung - bei erstelltem Auslösezusammenhang - einer (anspruchshindernden) Gelegenheits- oder Zufallsursache, wenn sie auf einen derart labilen, prekären Vorzustand trifft, dass jederzeit mit einem Eintritt der (organischen) Schädigung zu rechnen gewesen wäre, sei es aus eigener Dynamik der pathogenen Schadensanlage oder wegen Ansprechens auf einen beliebigen anderen Zufallsanlass. Wenn ein alltäglicher alternativer Belastungsfaktor zu annähernd gleicher Zeit dieselbe Gesundheitsschädigung hätte bewirken können, erscheint der Unfall nicht als kausal signifikantes Ereignis, sondern als austauschbarer Anlass; es entsteht daher keine Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (SVR 2012 UV Nr. 8 S. 27, 8C_380/2011 E. 4.2.1; SVR 2007 UV Nr. 28 S. 94, U 413/05 E. 4; Urteile 8C_692/2022 vom 2. Mai 2023 E. 4.2.2; 8C_287/2020 vom 27. April 2021 E. 3.1; ANDREAS TRAUB, Natürlicher Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschädigung bei konkurrierender pathogener Einwirkung: Abgrenzung der wesentlichen Teilursache von einer anspruchshindernden Gelegenheits- oder Zufallsursache, SZS 2009 S. 479).
5.2 Bei organisch objektiv ausgewiesenen Gesundheitsschäden, einschliesslich Zahnschäden, deckt sich die natürliche weitgehend mit der - für die Leistungspflicht weiter vorausgesetzten - adäquaten Unfallkausalität. Hier spielt mithin die unter Adäquanzgesichtspunkten entscheidende Frage, ob das Unfallereignis nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des
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eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V 177 E. 3.2 mit Hinweis), für die Begründung der Leistungspflicht praktisch keine Rolle (zum Ganzen: BGE 134 V 109 E. 2.1 mit Hinweis). Bei Zahnschäden mit im Unfallzeitpunkt krankhaftem Vorzustand könnte die adäquate Kausalität - analog zur natürlichen (E. 5.1 hiervor) - nur dann verneint werden, wenn anzunehmen wäre, dass der durch einen krankhaften Vorzustand geschwächte Zahn zur annähernd gleichen Zeit selbst einer normalen Belastung nicht standgehalten hätte (Urteil 9C_242/2010 vom 29. November 2010 E. 3.3; vgl. auch BGE 114 V 169 E. 3b).
5.3 Betreffend Zahnschäden ist sodann Folgendes zu ergänzen: Ein völlig gesunder Zahn hält stärkeren Belastungen stand als ein sanierter, doch bleibt ein behandelter Zahn in der Regel für den normalen Kauakt durchaus funktionstüchtig. Wenn ein solcher Zahn einer plötzlichen, nicht beabsichtigten und aussergewöhnlichen Belastung nicht standhält, darf die Annahme eines Unfalls nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, ein völlig intakter Zahn hätte die Belastung überstanden. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen der Zahn so geschwächt ist, dass er auch eine normale Belastung nicht ausgehalten hätte (zum Ganzen: vgl. BGE 114 V 169 E. 3b; vgl. auch SVR 2016 UV Nr. 17 S. 52, 8C_750/2015 E. 5; Urteil 9C_639/2014 vom 24. Februar 2015 E. 4.1).
5.4 Es stellt sich somit zum einen die Frage, ob der Unfall vom 22. November 2021 die Teilfraktur der Füllung ausgelöst hat (Auslösezusammenhang; vgl. E. 5.1 hiervor), und bejahendenfalls, ob der betroffene Zahn 47 im Zeitpunkt des Unfallereignisses selbst einer normalen Belastung nicht standgehalten hätte. Die medizinische Aktenlage präsentiert sich wie folgt:
5.4.1 Mit Stellungnahme vom 4. März 2022 hielt der behandelnde Zahnarzt Dr. med. dent. C. fest, die Beschwerdeführerin habe auf einen Stein im Salat gebissen. Dabei habe ein Teil ihrer okklusalen Füllung am Zahn 47 frakturiert. Die Beschwerdeführerin habe anlässlich der Sprechstunde vom 29. November 2021 über Schmerzen auf Druck geklagt. Zudem sei der Zahn 47 beim Vitalitätstest stark hypersensibel gewesen. Die Compositfüllung sei dann ausgewechselt worden, was allerdings nicht den gewünschten Erfolg gebracht habe. Trotz mehrmaliger Fluoridlackapplikationen und Schliffkorrekturen seien die Schmerzen auf Druck und Kälte geblieben.
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Deshalb sei am 23. Dezember 2021 der Zahn 47 mit Verdacht auf eine Längsfraktur extrahiert worden. Dr. med. dent. C. bejahte abschliessend einen direkten Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Zahnschädigung. Mit Schreiben vom 27. Juli 2022 gab er zudem an, die Beschwerdeführerin sei bis zum Ereignis vom 22. November 2021 beschwerdefrei gewesen, weshalb seiner Ansicht nach der Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Zahnschaden gegeben sei.
5.4.2 Der beratende Arzt der Helsana Dr. med. dent. D. hielt demgegenüber in seiner Beurteilung vom 19. Februar 2022 fest, die Beschwerdeführerin habe massiv abradierte Zähne. Zudem könnten Überempfindlichkeiten jederzeit auftreten. Die Wurzeln des Zahnes 47 hätten apikal radiologische Veränderungen aufgewiesen. Diese seien scharf begrenzt, was ein Zeichen eines chronischen, über Monate dauernden, Prozesses sei. Ein natürlicher Kausalzusammenhang sei nur möglich. Am 1. Juni 2022 vermerkte Dr. med. dent. D. ergänzend, die Beschwerdeführerin übe starke Parafunktionen (Knirschen) aus. Dies sei auf dem Röntgenbild vom 6. Dezember 2021 erkennbar. Die Höcker seien durch Abnutzung fast gänzlich abradiert. Durch den Verlust des schützenden Schmelzes liege das empfindliche Dentin frei, was wiederum zu Schmerzsensationen beim Kauen führe (mechanische und chemische Reizung). Wegen des Substanzverlustes verlören Füllungen die mechanische Retention und würden gleichzeitig auch dünner. Es sei üblich, dass es mit der Zeit unter normaler Kaubelastung zu Füllungsverlusten, Füllungsfrakturen oder Teilverlusten von Füllungen komme. Ausserdem könne die enorme Belastung während des Knirschens mit der Zeit zu Längsrissen im Zahn führen. In der Orthopantomographie vom 23. Dezember 2021 finde sich ein klares Zeichen eines chronisch entzündlichen Prozesses, der über Jahre andauere. Der entzündliche Prozess im Knochen sei eine Reaktion eines Reizes des Nerves. Dieser könne bedingt sein durch die tiefe pulpanahe okklusale Füllung, das freiliegende Dentin oder durch einen Längsriss. Die damit verbundenen Beschwerden träten schleichend auf. Der beratende Arzt verneinte zusammenfassend selbst eine Teilkausalität des Unfalls.
5.5 Die Beschwerdeführerin bestreitet zu Recht den Beweiswert der Berichte des Dr. med. dent. D. So ergibt sich aus seinen Stellungnahmen zwar, dass der Zahn 47 bereits vor dem Ereignis vom 22. November 2021 geschädigt war. Doch auch ein sanierter Zahn kann für den normalen Kauakt durchaus noch funktionstüchtig sein
BGE 149 V 218 S. 223
(vgl. E. 5.3 hiervor). Dass der betreffende Zahn derart geschwächt gewesen wäre, dass er auch einer normalen Belastung (Kauakt, Knirschen) nicht standgehalten hätte, kann der Einschätzung des beratenden Arztes so nicht entnommen werden. Dr. med. dent. D. deutete zwar an, dass der betreffende Zahn auch ohne Unfall früher oder später Schaden genommen hätte ("mit der Zeit"), und er mutmasste, dass das Knirschen zu Längsrissen führen könne. Damit ist aber nicht erstellt, dass aufgrund des Vorzustands ein alternativer, alltäglicher Belastungsfaktor zu annähernd gleicher Zeit dieselbe Gesundheitsschädigung hätte bewirken können. Ausserdem setzte sich der beratende Zahnarzt überhaupt nicht mit dem Unfallereignis und den dabei wirkenden Kräften auseinander, obwohl es nach dem Gesagten als erstellt zu gelten hat, dass die Beschwerdeführerin am 22. November 2021 auf einen Stein biss. Die Beurteilung des beratenden Arztes ist insofern für die streitigen Belange nicht umfassend. Sein Schluss, es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis vom 22. November 2021 und der festgestellten Zahnschädigung, ist insofern nicht nachvollziehbar.
5.6 Auf der anderen Seite stützt sich der behandelnde Zahnarzt bei seiner Einschätzung im Wesentlichen auf den Umstand, dass die Beschwerdeführerin vor dem Ereignis vom 22. November 2021 beschwerdefrei gewesen sei. Diese Begründung läuft auf die im gegebenen Kontext unzulässige Beweismaxime "post hoc ergo propter hoc" hinaus (vgl. BGE 142 V 325 E. 2.3.2.2; BGE 119 V 335 E. 2b/bb). Solches reicht für den rechtsgenüglichen Nachweis eines Kausalzusammenhangs nicht aus. Beim Bericht des Dr. med. dent. C. vom 1. Februar 2023 handelt es sich im Übrigen, da nach dem angefochtenen Urteil entstanden, um ein echtes Novum (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen), das unbeachtlich bleibt.
5.7 Zusammenfassend lässt sich aufgrund der vorhandenen medizinischen Akten nicht zuverlässig feststellen, ob das Unfallereignis vom 22. November 2021 zumindest Teilursache des strittigen Zahnschadens bildete und ob der Zahn 47 bereits vor dem Unfallereignis vom 22. November 2021 derart geschwächt war, dass er auch eine normale Belastung nicht ausgehalten hätte. Der Sachverhalt wurde demnach nicht rechtsgenüglich abgeklärt, was den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG ) und zugleich die Regeln betreffend den Beweiswert von ärztlichen Berichten (BGE 134 V 231 E. 5.1) verletzt.
BGE 149 V 218 S. 224
Es ist in erster Linie Aufgabe des Unfallversicherers, von Amtes wegen die notwendigen Abklärungen vorzunehmen, um den rechtserheblichen Sachverhalt vollständig festzustellen (Art. 43 Abs. 1 ATSG; vgl. auch BGE 132 V 368 E. 5; Urteil 8C_523/2022 vom 23. Februar 2023 E. 5.4 mit Hinweis). Die Sache ist daher an die Helsana zurückzuweisen, damit sie - nach Einholung der Krankengeschichte beim behandelnden Zahnarzt - im Verfahren nach Art. 44 ATSG ein medizinisches Gutachten einhole und anschliessend über den Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin neu verfüge (vgl. auch BGE 132 V 368 E. 5; Urteil 8C_523/2022 vom 23. Februar 2023 E. 5.4 mit Hinweis).