Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Urteilskopf

150 IV 139


11. Auszug aus dem Urteil der II. strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen A. sowie A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
7B_159/2022 / 7B_160/2022 vom 11. Januar 2024

Regeste

Art. 141, 274, 277 und 278 StPO; Zuständigkeit zur Genehmigung eines Zufallsfundes aus einer rechtshilfeweise erwirkten Überwachung einer verschlüsselten Kommunikationsplattform im Rahmen einer international koordinierten Strafverfolgungsaktion ("Operation Trojan Shield").
Internationalstrafrechtlicher Grundsatz der Territorialität und Rechtshilfeerfordernis bei Überwachungen von verschlüsselten Kommunikationsplattformen im sogenannten Darknet; anwendbares Recht (E. 5.1). Anwendungsfälle von Art. 269 ff., insbesondere Art. 278 StPO (Genehmigung von Zufallsfunden). Der hier beurteilte Überwachungssachverhalt fällt nicht darunter (E. 5.2-5.6). In Fällen wie dem vorliegenden drängt sich auch keine "analoge" Anwendung von Art. 278 StPO und keine Annahme einer "Gesetzeslücke" auf, mit der de lege lata eine Zuständigkeit des Zwangsmassnahmengerichtes zur Vorab-Genehmigung der Verwertbarkeit von rechtshilfeweise erlangten Aufzeichnungen begründet werden könnte. Dem Sachgericht ist diesbezüglich nicht vorzugreifen (E. 5.7). Darüber hinaus wäre hier auch kein Zufallsfund im Sinne von Art. 278 Abs. 1 und 2 StPO ersichtlich gewesen (E. 5.8). Der Genehmigungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichtes war wegen Unzuständigkeit aufzuheben (E. 5.9).

Sachverhalt ab Seite 140

BGE 150 IV 139 S. 140

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau führt eine Strafuntersuchung gegen A. wegen des Verdachts auf qualifizierte Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Geldwäscherei. Am 27. August 2021 ersuchte sie das Bundesamt für Justiz (BJ), bei der zuständigen Behörde der USA rechtshilfeweise die Übermittlung von Beweismitteln zu beantragen, nämlich der Nachrichteninhalte (sowohl Text als auch Audio) an und von einem verwendeten ANOM-Kryptogerät, für den Zeitraum ab Oktober 2019 bis zur Schliessung der verschlüsselten Kommunikationsplattform ANOM, inklusive alle zugehörigen "Metadaten", einschliesslich GPS-Daten.
BGE 150 IV 139 S. 141
Am 9. November 2021 übermittelte das U.S. Department of Justice dem BJ rechtshilfeweise die gewünschten Dateien auf einem USB-Stick. Diesbezüglich erstellte die Kantonspolizei Aargau am 8. Dezember 2021 einen Rapport.

B. Am 16. Dezember 2021 stellte die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau (ZMG) gestützt auf Art. 278 Abs. 3 StPO ein Gesuch um "Genehmigung eines Zufallsfunds" aus der rechtshilfeweise erfolgten Überwachung der Kommunikationsplattform ANOM bzw. des verwendeten Kryptogeräts. Mit Eingabe vom 20. Dezember 2021 ergänzte die Staatsanwaltschaft ihr Gesuch.
Am 24. Januar 2022 verfügte das ZMG Folgendes: "Die Ergebnisse der ausländischen Überwachung der Kommunikationsplattform ANOM (Inhalts- und Randdaten) dürfen auch im Strafverfahren der Schweizer Strafverfolgungsbehörden gegen den Beschuldigten A. wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verwendet werden".
Nachdem die Staatsanwaltschaft ihren Genehmigungsantrag vom 16. Dezember 2021 (samt Ergänzung vom 20. Dezember 2021) und die Verfügung des ZMG vom 24. Januar 2022 dem Beschuldigten mit Schreiben vom 1. Juni 2022 zur Kenntnis gebracht hatte, erhob dieser mit Eingabe vom 20. Juni 2022 Beschwerde beim kantonalen Obergericht. Er beantragte unter anderem die Nichtbewilligung einer Verwertung des "Zufallsfundes" und die sofortige Vernichtung der rechtshilfeweise übermittelten Dateien.
Am 24. Oktober 2022 entschied das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, wie folgt über die Beschwerde des Beschuldigten: "Es wird von Amtes wegen festgestellt, dass die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 24. Januar 2022 nichtig ist, und die hiergegen gerichtete Beschwerde wird als gegenstandslos geworden von der Geschäftskontrolle abgeschrieben".

C.

C.a Gegen den Entscheid des Obergerichtes vom 24. Oktober 2022 gelangten sowohl die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, mit Beschwerde vom 25. November 2022, als auch der Beschuldigte, mit Beschwerde vom 30. November 2022, je an das Bundesgericht.
BGE 150 IV 139 S. 142

C.b Die Oberstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Beschwerde, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Verwertung des "Zufallsfundes" zu genehmigen. (...)

C.c Der Beschuldigte beantragt in seiner Beschwerde zur Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Nichtgenehmigung der Verwendung des "Zufallsfundes". (...)
Das Bundesgericht weist beide Beschwerden ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5. Zu prüfen ist die Frage, ob und inwieweit hier ein vom ZMG nach Art. 274 i.V.m. Art. 278 StPO zu genehmigender und verwertbarer "Zufallsfund" vorliegt und ob es gegen Bundesrecht verstösst, wenn die Vorinstanz feststellt, dass die Verfügung des ZMG vom 24. Januar 2022 nichtig ist, und die gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerde des Beschuldigten als gegenstandslos abschreibt.

5.1 Im internationalen Strafrecht gilt der Grundsatz der Territorialität. Von völkerrechtlich vereinbarten Ausnahmen abgesehen, dürfen Staaten auf fremdem Rechtsgebiet keine eigenen Untersuchungsmassnahmen oder anderen hoheitlichen Handlungen durchführen (BGE 146 IV 36 E. 2.2; BGE 143 IV 21 E. 3.2-3.4, BGE 143 IV 270 E. 4.7; BGE 141 IV 108 E. 5.3 und 5.12; je mit Hinweisen). Dies hat zur Folge, dass Aufzeichnungen, die von Fernmeldediensten, Internet-Zugangsprovidern oder sogenannten "abgeleiteten" Kommunikationsdiensten im Ausland gespeichert werden, regelmässig nur auf dem Wege der internationalen Rechtshilfe erhoben werden können (vgl. BGE 143 IV 21 E. 3.2-3.4, BGE 143 IV 270 E. 4.6-4.8; BGE 141 IV 108 E. 5.12; je mit Hinweisen). Dies gilt namentlich bei Aufzeichnungen über besonders anonymisierte und verschlüsselte Kommunikationsplattformen im sogenannten Darknet.
Im vorliegenden Fall ist die Verwertung von Aufzeichnungen streitig, die von der Staatsanwaltschaft rechtshilfeweise über die Justizbehörden der USA erhoben wurden. Ein direkter Zugriff der Staatsanwaltschaft in der Schweiz, etwa über ein sichergestelltes Kommunikationsgerät oder ein bekanntes Zugangspasswort (vgl. BGE 143 IV 270 E. 7.1-7.7), war hier nicht möglich.
Die Gewährung der internationalen Rechtshilfe und das Rechtshilfeverfahren richten sich nur so weit nach der StPO, als andere Gesetze
BGE 150 IV 139 S. 143
des Bundes und völkerrechtliche Verträge dafür keine Bestimmungen enthalten (Art. 54 StPO). Ist ein Kanton mit einem Fall von internationaler Rechtshilfe befasst, so ist die Staatsanwaltschaft zuständig (Art. 55 Abs. 1 StPO); die Gerichte können auch noch während des Hauptverfahrens selbst Rechtshilfegesuche stellen (Art. 55 Abs. 2 StPO). Das Rechtshilfeverfahren mit den USA betreffend sogenannte "akzessorische" Rechtshilfe richtet sich nach den Bestimmungen des Staatsvertrages vom 25. Mai 1973 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen (RVUS; SR 0.351.933.6), subsidiär nach dem Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1). Die Durchführung und Zulässigkeit der in den USA erfolgten Überwachung der verschlüsselten Kommunikationsplattform ANOM unterlag nicht der schweizerischen StPO, sondern dem US-amerikanischen Recht (Art. 54 StPO; Art. 1 IRSG i.V.m. Art. 4 Ziff. 1, Art. 31 Ziff. 2 und 3 sowie Art. 38 Ziff. 2 und 3 RVUS). Das Rechtshilfeverfahren ist im vorliegenden Fall rechtskräftig abgeschlossen. Das Rechtshilfegesuch vom 27. August 2021 stützte sich auf konkrete Verdachtsgründe, wonach der Beschuldigte in der Schweiz an qualifiziertem Drogenhandel beteiligt war.

5.2 Das ZMG hat sich im vorliegenden Fall für zuständig erachtet, auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Genehmigungsentscheid über die Verwendung der rechtshilfeweise erhobenen Aufzeichnungen im Untersuchungsverfahren gegen den Beschuldigten zu fällen. Dabei ging es davon aus, dass es sich hier um "Zufallsfunde" handle, die in "analoger" Anwendung von Art. 278 i.V.m. Art. 274 StPO der vorfrageweisen richterlichen Genehmigung bedürften.

5.3 Unter den jeweiligen Voraussetzungen von Art. 269 ff. StPO kann die Staatsanwaltschaft den Fernmeldeverkehr überwachen lassen (Art. 269 StPO), den Einsatz besonderer technischer Geräte zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs anordnen, um Gespräche mitzuhören oder aufzunehmen oder eine Person oder Sache zu identifizieren oder deren Standort zu ermitteln (Art. 269bis StPO), und das Einschleusen von besonderen Informatikprogrammen in ein Datenverarbeitungssystem anordnen, um den Inhalt der Kommunikation und die Randdaten des Fernmeldeverkehrs in unverschlüsselter Form abzufangen und auszuleiten (Art. 269ter StPO). Eine Fernmeldeüberwachung ist zulässig bei beschuldigten Personen (Art. 270 lit. a StPO) und bei Drittpersonen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen
BGE 150 IV 139 S. 144
angenommen werden muss, dass die beschuldigte Person den Fernmeldedienst der Drittperson benutzt, oder die Drittperson für die beschuldigte Person bestimmte Mitteilungen entgegennimmt oder von dieser stammende Mitteilungen an eine weitere Person weiterleitet (Art. 270 lit. b StPO). Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs bedarf der Genehmigung durch das ZMG (Art. 272 Abs. 1 StPO). Besteht der dringende Verdacht, ein Verbrechen oder ein Vergehen sei begangen worden, und sind die Voraussetzungen nach Art. 269 Abs. 1 lit. b und c StPO erfüllt, so kann die Staatsanwaltschaft auch die Randdaten des Fernmeldeverkehrs der überwachten Person gemäss Art. 8 lit. b des Bundesgesetzes vom 18. März 2016 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; SR 780.1) verlangen (Art. 273 Abs. 1 StPO). Die Anordnung bedarf der Genehmigung durch das ZMG (Art. 273 Abs. 2 StPO).

5.4 Werden durch die Überwachung nach Art. 269 ff. StPO andere Straftaten als die in der Überwachungsanordnung aufgeführten bekannt, so können die Erkenntnisse gegen die beschuldigte Person verwendet werden, wenn zur Verfolgung dieser Straftaten eine Überwachung hätte angeordnet werden dürfen (Art. 278 Abs. 1 StPO). Erkenntnisse über Straftaten einer Person, die in der Anordnung keiner strafbaren Handlung beschuldigt wird, können verwendet werden, wenn die Voraussetzungen für eine Überwachung dieser Person erfüllt sind (Art. 278 Abs. 2 StPO). In diesen Fällen (Art. 278 Abs. 1 und 2 StPO) ordnet die Staatsanwaltschaft unverzüglich die Überwachung an und leitet beim ZMG das Genehmigungsverfahren nach Art. 274 StPO ein (Art. 278 Abs. 3 StPO). Aufzeichnungen, die nicht als Zufallsfunde verwendet werden dürfen, sind von den Verfahrensakten gesondert aufzubewahren und nach Abschluss des Verfahrens zu vernichten (Art. 278 Abs. 4 StPO). Dokumente und Datenträger aus nicht vom ZMG genehmigten Überwachungen sind sofort zu vernichten (Art. 277 Abs. 1 StPO); durch die Überwachung gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht verwertet werden (Art. 277 Abs. 2 StPO).

5.5 Die Oberstaatsanwaltschaft rügt, der angefochtene Entscheid basiere im Kern auf der willkürlichen bzw. aktenwidrigen Annahme, die ANOM-Überwachungen in den USA seien nicht im Rahmen von Strafverfolgungen gegen konkrete Personen mit entsprechenden Anfangstatverdachten erfolgt, sondern es habe sich erst um präventive polizeiliche Vorermittlungen im Umfeld krimineller Organisationen gehandelt.
BGE 150 IV 139 S. 145
Zwar interpretiert die Oberstaatsanwaltschaft englischsprachige Unterlagen, welche die Staatsanwaltschaft schon im Genehmigungsverfahren dem ZMG bzw. im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren eingereicht habe, in dieser Weise. Zu dieser Interpretation drängen sich jedoch gewisse Zweifel auf. Insbesondere nennt die Oberstaatsanwaltschaft auch im Verfahren vor dem Bundesgericht, soweit ersichtlich, keine Namen von konkreten beschuldigten Personen, gegen die schon bei Abgabe der ANOM-Kryptogeräte ein Strafverfahren in den USA eröffnet gewesen wäre. Sie behauptet auch nicht, gegen den faktisch überwachten Beschuldigten (privater Beschwerdegegner) sei im Oktober 2019 (Beginn der Überwachung) oder zu einem späteren Zeitpunkt ein Strafverfahren in den USA formell hängig gewesen. Dass im Zeitpunkt des Rechtshilfegesuches, am 27. August 2021, in der Schweiz eine Strafuntersuchung gegen ihn eröffnet gewesen sei und ein konkreter Tatverdacht gegen ihn bestanden habe, vermag daran nichts zu ändern. Die Oberstaatsanwaltschaft legt auch nicht plausibel dar, wie es den Strafbehörden der USA möglich gewesen wäre, gegen die Erwerber von etwa 12'000 ANOM-Kryptogeräten bereits konkrete Verdachtsmomente zu begründen.
Wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt, kann offenbleiben, ob die Oberstaatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang aktenwidrige bzw. im Ergebnis entscheiderhebliche willkürliche Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz überhaupt ausreichend substanziiert (vgl. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 BGG).

5.6 Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass nach dem klaren Wortlaut, der Systematik und dem Sinn und Zweck des Gesetzes der vorliegende Sachverhalt nicht unter Art. 269 ff. i.V.m. Art. 278 und Art. 274 StPO fällt. Diese Bestimmungen beziehen sich auf Fernmeldeüberwachungen, die Schweizer Strafverfolgungsbehörden in der Schweiz im Rahmen eines hiesigen Strafverfahrens angeordnet und durchgeführt haben (vgl. oben E. 5.3-5.4). Art. 278 StPO soll sicherstellen, dass im Rahmen von Fernmeldedienst-Überwachungen nach Art. 269 ff. StPO neu ermittelte Zufallsfunde, nämlich Beweismittel zu anderen Straftaten oder neuen Verdächtigen, nur dann im Strafverfahren verwendet werden, wenn auch diesbezüglich eine Überwachung gestützt auf Art. 269 ff. StPO zulässig gewesen wäre. Im vorliegenden Fall geht es nicht um Überwachungen, die in der Schweiz im Rahmen eines hiesigen Strafverfahrens angeordnet und durchgeführt wurden. Streitig ist die Verwendung von Aufzeichnungen aus einer rechtshilfeweise im Ausland durchgeführten
BGE 150 IV 139 S. 146
Kommunikationsüberwachung. Zwischen rechtshilfeweise erlangten allfälligen Zufallsfunden und solchen aus Überwachungen nach Art. 269 ff. StPO ist zu differenzieren (vgl. BGE 143 IV 270 E. 4.7; Urteil 1B_59/2014 vom 28. Juli 2014 E. 4.13).

5.7 Der Vorinstanz ist ebenso darin zuzustimmen, dass sich im vorliegenden Fall keine "analoge" Anwendung von Art. 278 i.V.m. Art. 274 StPO aufdrängt bzw. keine Gesetzeslücke vorliegt, die auf diesem Weg zu schliessen wäre. Sie berücksichtigt zu Recht, dass schon de lege lata allfällige, im Strafverfahren gestützt auf Art. 141 StPO vorgebrachte Einwände gegen solche Beweismittel - auch ohne vorgängiges förmliches Genehmigungsverfahren vor einem ZMG - "durchaus in einer rechtsstaatlich zumindest befriedigenden Weise gehandhabt werden" könnten:
Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO erhoben worden sind (durch Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können), sind in keinem Fall verwertbar. Dasselbe gilt, wenn die StPO einen Beweis als unverwertbar bezeichnet (Art. 141 Abs. 1 StPO). Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich (Art. 141 Abs. 2 StPO). Die Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise werden aus den Strafakten entfernt, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss gehalten und danach vernichtet (Art. 141 Abs. 5 StPO). Gestützt auf diese Bestimmungen kann, von Amtes wegen oder auf entsprechende Parteianträge hin, spätestens das erkennende Strafgericht in den Untersuchungsakten befindliche, rechtshilfeweise erhobene Beweismittel für ungültig erklären und nötigenfalls separat unter Verschluss halten. Insofern bleibt ein sachgerechter Rechtsschutz der Parteien gewährleistet, ohne dass das ZMG - über seinen gesetzlichen Zuständigkeitsbereich hinaus und "lückenfüllend" - bereits im Vorverfahren einen definitiven Verwertungsentscheid mit weitreichenden prozessualen Folgen vorwegzunehmen und dabei dem Sachgericht vorzugreifen hätte (zu rechtspolitischen Vorschlägen vgl. auch SABINE GLESS, Beweisverbote in Fällen mit Auslandsbezug, Juristische Rundschau 2008/Heft 8 S. 321 f.; CLAUDIO RIEDI, Auslandsbeweise und ihre Verwertung im schweizerischen Strafverfahren, 2018, S. 74 ff.).
BGE 150 IV 139 S. 147
Dass diese Lösung nach Schweizer StPO de lege lata keinen ausreichenden Rechtsschutz gewährleisten würde, lässt sich auch aus einem von der Oberstaatsanwaltschaft eingereichten Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 22. November 2021 nicht ableiten. Zwar wurde dort die akzessorische Verwertung von rechtshilfeweise erhaltenen ANOM-Aufzeichnungen im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens richterlich geprüft und zugelassen. Eine separate vorfrageweise Genehmigung durch ein Zwangsmassnahmengericht in jedem Strafuntersuchungsverfahren ("analog" Art. 274 i.V.m. Art. 278 der schweizerischen StPO) wurde aber auch vom Oberlandesgericht nach deutschem Recht nicht verlangt. Auch weitere von der Oberstaatsanwaltschaft zitierte Urteile anderer Gerichte (etwa Norwegens oder Österreichs) betrafen akzessorische Verwertungen in Haftprüfungsverfahren bzw. durch die erkennenden Strafgerichte.
Im Übrigen ist zu beachten, dass das Rechtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft nicht auf einer unzulässigen "Beweisausforschung" beruht. Das Rechtshilfegesuch stützte sich vielmehr auf konkrete und detailliert beschriebene Verdachtsgründe, wonach der Beschuldigte in der Schweiz an qualifiziertem Drogenhandel beteiligt war.
Darüber hinaus kann offenbleiben, ob hier (nach amerikanischem Recht) überhaupt eine Fernmeldedienst-Überwachung im Sinne von Art. 274 i.V.m. Art. 278 StPO und Art. 2 lit. b BÜPF vorgelegen hätte und nicht eher eine Beweiserhebung über sogenannte abgeleitete Kommunikationsdienste (i.S.v. Art. 2 lit. c BÜPF), auf welche die Artikel 274 i.V.m. 278 StPO ohnehin nicht "analog" anwendbar wären (vgl. BGE 143 IV 21 E. 3.1, BGE 143 IV 270 E. 4.7-4.8).

5.8 Schliesslich ist auch noch was folgt zu beachten:
Art. 278 StPO soll nach seinem klaren Wortlaut sicherstellen, dass im Rahmen von Fernmeldeüberwachungen nach Art. 269 ff. StPO neu ermittelte Zufallsfunde, nämlich Beweismittel zu anderen Straftaten (Art. 278 Abs. 1 StPO) oder Verdächtigen (Art. 278 Abs. 2 StPO), nur dann im Strafverfahren verwendet werden, wenn auch diesbezüglich eine Überwachung gestützt auf Art. 269 ff. StPO zulässig gewesen wäre (vgl. BGE 144 IV 254 E. 1.3; BGE 141 IV 459 E. 3.1; BGE 140 IV 40 E. 4.2; Urteile 1B_191/2018 vom 16. Oktober 2018 E. 4.2; 1B_59/2014 vom 28. Juli 2014 E. 3.3 und 4; HANSJAKOB/PAJAROLA, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 25-39, 74-78 zu Art. 278 StPO; MARC
BGE 150 IV 139 S. 148
JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Bd. II, 3. Aufl. 2023, N. 9-17 zu Art. 278 StPO). Nur in diesen "Fällen nach den Absätzen 1 und 2" hätte die Staatsanwaltschaft ein Genehmigungsverfahren beim ZMG einzuleiten (Art. 278 Abs. 3 i.V.m. Art. 274 StPO). Der Fall von Art. 278 Abs. 1bis StPO betrifft Zufallsfunde aus Notsuchen und Fahndungen nach verurteilten Personen (Art. 35 f. BÜPF) und ist hier unbestrittenermassen nicht gegeben.
Im vorliegenden Fall ergab die Überwachung Informationen in den USA über den Beschuldigten. In der Folge wurden Aufzeichnungen über Kommunikationen mit seinem Kryptogerät rechtshilfeweise an die Schweiz übermittelt. Die Staatsanwaltschaft hatte bereits eine Strafuntersuchung gegen den Beschuldigten (und weitere Mitbeschuldigte) wegen des Verdachts auf qualifizierte Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Geldwäscherei eingeleitet, bevor sie am 27. August 2021 über das BJ ihr Rechtshilfegesuch an die USA stellte. Auch die neuen Erkenntnisse aus den rechtshilfeweise erhobenen Aufzeichnungen sollen gegen die bisherigen Verdächtigen, darunter den Beschuldigten, wegen der bisher bereits untersuchten Delikte (qualifizierter Drogenhandel und Geldwäscherei) verwendet werden. Damit lag hier zum Vornherein keine vom ZMG zu bewilligende Verwendung eines "Zufallsfundes" i.S.v. Art. 274 i.V.m. Art. 278 StPO vor.
Im Übrigen besteht hier entgegen der Ansicht des Beschuldigten auch kein Ausnahmefall, bei dem die Unverwertbarkeit der rechtshilfeweise erhobenen Aufzeichnungen "bereits ohne Weiteres" feststünde und vorab, durch einen vorfrageweisen Entscheid des ZMG im Untersuchungsverfahren, durchgesetzt werden müsste. Vielmehr ist dem abschliessenden Entscheid des Sachgerichtes über die Verwertbarkeit von Beweismitteln (Art. 141 StPO) nicht vorzugreifen.

5.9 Nach dem Gesagten war das ZMG nicht zuständig für einen Genehmigungsentscheid gestützt auf Art. 278 i.V.m. Art. 274 StPO. Die im kantonalen Beschwerdeverfahren angefochtene Verfügung war bundesrechtswidrig, da das ZMG zu Unrecht das Vorliegen eines "Zufallsfundes" im Sinne von Art. 278 StPO angenommen und zu Unrecht seine Zuständigkeit für einen diesbezüglichen Genehmigungsentscheid bejaht hatte.
Ob die Verfügung des ZMG tatsächlich für nichtig zu erklären war oder ob die Vorinstanz sie stattdessen hätte formell aufheben
BGE 150 IV 139 S. 149
müssen, kann offenbleiben. Durch ihre Nichtigerklärung entstand weder dem Beschuldigten (im Verfahren 7B_160/2022) noch der Oberstaatsanwaltschaft (im Verfahren 7B_159/2022) ein erkennbarer Prozessnachteil: Die vom Beschuldigten vorinstanzlich erhobenen prozessualen Rügen waren obsolet, da sie an der von Amtes wegen vorzunehmenden ersatzlosen Aufhebung der Verfügung des ZMG nichts zu ändern vermochten. Mit Kosten wurde der Beschuldigte im vorinstanzlichen Verfahren nicht belastet. Dass das Obergericht von einer Nichtigkeit der Verfügung des ZMG ausgeht, führt auch zu keiner prozessualen Beschwer der Oberstaatsanwaltschaft. Eine letzterer missfallende Begründung des angefochtenen Entscheides begründet keine solche und führt im Ergebnis zu keiner Bundesrechtswidrigkeit. Ein definitiver Entscheid des Sachgerichtes über die Verwertbarkeit (Art. 141 StPO) bildet nicht Gegenstand der Beschwerdeverfahren.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 5

Referenzen

BGE: 143 IV 270, 143 IV 21, 141 IV 108, 146 IV 36 mehr...

Artikel: Art. 278 StPO, Art. 269 ff. StPO, Art. 274 StPO, Art. 141 StPO mehr...