89 II 38
Urteilskopf
89 II 38
9. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. März 1963 i.S. Brandes gegen Schweizerische Bundesbahnen.
Regeste
Eisenbahnhaftpflicht. Unfall durch Beruhrung eines Drahtes der elektrischen Fahrleitung.
1. Kein die Haftpflicht der Bahnunternehmung ausschliessendes Verschulden des Geschädigten, dessen den Unfall auslösendes Verhalten die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartende Folge von ihm nicht zu vertretender Kausalfaktoren war (Missverständnis auf seiten des Vorgesetzten, Jugendlichkeit und Unerfahrenheit des Verunfallten usw). Eventuell ganz geringfügiges Selbstverschulden (Erw. 2).
2. Drittverschulden, das unter dem Gesichtspunkte der adäquaten Kausalität nicht die einzige Ursache des Unfalles ist, vermag die Bahnunternehmung nicht zu befreien (Erw. 3).
3. Bahnseitiges Verschulden. Bedeutung interner, zum Schutze der Bahnkunden aufgestellter Dienstvorschriften. Zusprechung einer Genugtuung abgelehnt wegen Geringfügigkeit des dem Bahnpersonal zur Last fallenden Verschuldens (Erw. 4 und 5).
A.- 1. Der im Januar 1936 geborene, seit Ende Juli 1956 bei der Firma Humosan AG, Düngemittel und Landesprodukte, St. Gallen, als Hilfsarbeiter angestellte Josef Brandes erhielt am 29. August 1956 von seinem Vorgesetzten, Werkmeister Josef Romano, den Auftrag, mit dem Chauffeur Hans Trummer nach dem Güterbahnhof St. Fiden zu fahren, um dort beim Umladen einer Sendung Stroh von einem Güterwagen auf den Lastwagen mitzuhelfen. Werkmeister Romano hatte nach seiner Darstellung zuvor einen Bahnbeamten telephonisch ersucht, unverzüglich das Wägen der Ladung zu veranlassen, da diese sogleich abgeholt werde. Der Beamte soll ihm zugesichert haben, dass der Güterwagen bis zum Eintreffen des Lastwagens der genannten Firma abladebereit sein werde, und er habe ihm auch die Nummer des Güterwagens bekanntgegeben. Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem der Chef der Güterexpedition den Befehl zum Wägen des Güterwagens erteilt hatte, trafen Trummer und Brandes, die erstmals auf dem Güterbahnhof St. Fiden zu tun hatten, dort ein. Als Trummer den Güterwagen mit der ihm von Romano angegebenen Nummer auf Gleis B 1 stehen sah, erkundigte er sich beim Rangierarbeiter Friedrich Frischknecht, der in der Nähe stand, ob er abladen könne. Frischknecht wies ihn an, noch zuzuwarten, da der Wagen zuerst gewogen werden müsse. Trummer, der diese Äusserung irrtümlich auf seinen Lastwagen bezog, steuerte daraufhin dieses Fahrzeug auf die Strassenwaage der SBB und ersuchte um dessen Tarierung. Während der Gütervorarbeiter Othmar Thurnherr diese vornahm, begab sich Trummer zum bezeichneten Güterwagen und begann die Seile zu lösen, mit denen die über
BGE 89 II 38 S. 40
die Ladung gezogene Plane befestigt war. Nachdem ihm Thurnherr zugerufen hatte, es sei tariert, führte Trummer sein Lastfahrzeug zum Güterwagen in der Meinung, dieser sei abladebereit. Weder er noch Brandes bedachten, dass die Fahrleitung über dem Güterwagen noch unter Strom stehen könnte, wie das tatsächlich der Fall war. Trummer bemerkte zu seinem Gehilfen lediglich, er wolle zuerst noch ein Seil am Lastwagen anbinden. Während er damit beschäftigt war, stieg Brandes auf die Strohladung, deren obere Fläche sich bloss 1,40 m unter der Fahrleitung befand. Er kam dabei mit dem Draht in Berührung und erlitt schwere Brandwunden.2. Eine wegen dieses Unfalls gegen Unbekannt eingeleitete Strafuntersuchung wurde vom Untersuchungsrichteramt St. Gallen mangels rechtsgenüglichen Beweises eingestellt. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen bestätigte am 14. Februar 1957 diesen Entscheid, weil die die Ursache des Unfalls bildenden Unachtsamkeiten und Missverständnisse der einzelnen Beteiligten für eine strafrechtlich fassbare Fahrlässigkeit nicht ausreichten.
B.- Mit der am 10. Mai 1960 beim Bezirksgericht St. Gallen eingeschriebenen Klage belangte Brandes unter Berufung auf Art. 1 EHG die Schweizerischen Bundesbahnen auf Schadenersatz und Genugtuung im Totalbetrage von Fr. 51'946.10 nebst 5% Zins seit dem Unfalltag. Die Beklagten bestritten jede Haftpflicht mit dem Hinweis auf grobes Selbstverschulden des Klägers und zusätzlich auf grobes Drittverschulden seiner Arbeitgeberfirma, die es unterlassen habe, ihm die nötigen Instruktionen zu geben.
Das Bezirksgericht wies die Klage am 2. September 1960 ab. Es fand, der Kläger habe - wie jedermann heutzutage - die grosse Gefahr des Eisenbahnbetriebes und insbesondere des Starkstromes kennen müssen und daher ohne ausdrückliche Bestätigung von seiten des Bahnpersonals niemals annehmen dürfen, der Strom sei ausgeschaltet. Sein Verhalten sei dermassen unverständlich und leichtfertig,
BGE 89 II 38 S. 41
dass es eine Haftung der Beklagten ausschliesse. Die Frage des Drittverschuldens könne deshalb offen bleiben.Auf Berufung des Klägers ordnete das Kantonsgericht St. Gallen am 13. Mai 1961 eine medizinische Expertise über die bei jenem eingetretene Invalidität und deren Auswirkungen auf seine Erwerbsfähigkeit an. Nach Eingang des Gutachtens berechnete es den Gesamtschaden auf Fr. 50'596.50, sprach davon dem Kläger am 26. Oktober 1962 Fr. 16'865.50 nebst 5% Zins ab Unfalldatum zu und wies die Klage im Mehrbetrage ab. Zur Begründung führte das Gericht im wesentlichen folgendes an: Das Personal der SBB treffe kein Verschulden, so dass auf jeden Fall der Genugtuungsanspruch von Fr. 5000. - abzuweisen sei. Ein erhebliches Selbstverschulden des Klägers liege vor, jedoch seien noch weitere für den Unfall kausale Faktoren festzustellen, so das Verhalten des Chauffeurs Trummer und eine unglückliche Verkettung von Umständen. Bei dieser Sachlage sei nicht auf Ausschluss jeder Haftpflicht der Beklagten, sondern nur auf Reduktion der Schadenersatzleistung gemäss Art. 5 EHG zu erkennen. Diese sei entsprechend dem zwei Drittel betragenden Selbstverschulden des Klägers auf Fr. 16'865.50 nebst 5% Zins ab Unfalldatum zu bemessen.
C.- Beide Parteien haben die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Der Kläger hält an seinem Anspruch auf volle Entschädigung und Leistung einer Genugtuung fest. Er anerkennt die auf Fr. 50'596.50 lautende Schadenberechnung des Kantonsgerichtes und reduziert seinen Gesamtanspruch, der sich bei Einschluss der Genugtuung von Fr. 5000. - auf Fr. 55'596.50 beliefe, auf die ursprünglich eingeklagte Summe von Fr. 51'946.10. Zur Begründung macht er erneut geltend, seine eigene Unvorsichtigkeit trete, soweit sie überhaupt feststellbar sei, weit hinter den von ihm nicht zu verantwortenden Unfallursachen der inhärenten Betriebsgefahr und des Verschuldens des Bahnpersonals zurück.
Die Beklagten beharren ihrerseits auf dem Antrag auf
BGE 89 II 38 S. 42
Klageabweisung, mit der Begründung, dass adäquate Ursache des Unfalls ausschliesslich das schuldhafte Verhalten bahnfremder Personen (Selbstverschulden des Klägers, Drittverschulden Trummers und Romanos) gewesen sei.Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Beide Vorinstanzen haben in Übereinstimmung mit den Parteien zutreffend angenommen, dass die Streitsache nach EHG und nicht nach ElG zu beurteilen sei. Wenn auch der Unfallhergang an sich der Umschreibung in Art. 27 Abs. 1 ElG entspräche, handelt es sich doch offensichtlich um ein beim Eisenbahnbetrieb eingetretenes Schadenereignis (Art. 1 EHG; BGE 75 II 71 und ständige Rechtsprechung).
2. Bei ihrer Annahme, dass den Kläger ein Selbstverschulden treffe, ging die Vorinstanz davon aus, dass die bei Berührung einer Starkstromleitung bestehende Lebensgefahr jedem urteilsfähigen Menschen bekannt sei und dass daher grobfahrlässig handle, wer sich dieser Berührung aussetzt, ohne vorher sich die Gewissheit verschafft zu haben, dass der Strom ausgeschaltet ist. Dieser Grundsatz wurde in der Tat wiederholt in bundesgerichtlichen Entscheiden ausgesprochen (Urteile vom 13. Dezember 1934 i.S. Wüest c. SBB, vom 13. Mai 1937 i.S. Imhof c. SBB, und BGE 75 II 73). Das berechtigt indessen nicht, ihn nun unbekümmert um den konkreten Sachverhalt schematisch anzuwenden. Vielmehr ist in jedem Einzelfalle zu prüfen, ob nach den gegebenen Umständen in einem solchen Verhalten wirklich ein Selbstverschulden liege und ob dieses eine solche Intensität erreiche, dass es die Haftpflicht der Bahn ausschliesst.
a) Bei dem in BGE 75 II 68 beurteilten Falle war das Berühren der Drähte vollkommen verbotswidrig und auch unvernünftig; es bestand nicht der geringste Anlass zur Annahme, dass der Strom ausgeschaltet sei. In den Fällen Wüest und Imhof hätten die Geschädigten bei einiger Überlcgung mindestens im Zweifel darüber sein müssen, ob die
BGE 89 II 38 S. 43
Leitungen unter Strom stünden; sie handelten offensichtlich voreilig und leichtfertig.Ganz anders verhält es sich hier. Der 20-jährige, mit den Vorgängen in einem Güterbahnhof nicht vertraute Kläger war dem Chauffeur Trummer als Gehilfe zum Abladen der Strohladung mitgegeben worden. Dieser aber war, als er zusammen mit Brandes im Güterbahnhof eintraf, begründeterweise der Meinung, der Güterwagen sei abladebereit, da dies dem Werkmeister Romano, der Trummer und Brandes zum Bahnhof geschickt hatte, so mitgeteilt worden war. Auf dem Bahnhof wurde er allerdings vom Rangierarbeiter Frischknecht angewiesen, noch zu warten, bis der Wagen gewogen sei. Da jedoch Trummer diese Äusserung irrtümlich auf sein eigenes Lastfahrzeug bezog, fuhr er damit auf die Strassenwaage der SBB, um es wägen zu lassen. Obschon dieses Verhalten, wie die Beklagten vor Bundesgericht selber bemerkten, völlig unverständlich war, wurde Trummer von keiner Seite über das Missverständnis aufgeklärt. Er begab sich infolgedessen im Glauben, dass der Güterwagen abladebereit sei, schon während der Wägung seines Fahrzeuges mit Brandes zum Bahnwagen und begann die Verpackungsseile zu lösen. Dabei sagte ihm zwar niemand ausdrücklich, die Fahrleitung sei ausgeschaltet, er wurde aber auch von keinem der diensttuenden Bahnangestellten auf das Gegenteil hingewiesen, obschon das zweifellos nahegelegen hätte, als sich Trummer und Brandes in für jedermann erkennbarer Weise am Güterwagen zu schaffen machten. Frischknecht anerkannte denn auch in der Folge, dass er nicht nur auf das Wägen hätte hinweisen, sondern Trummer ausdrücklich auch auf die noch eingeschaltete Fahrleitung hätte aufmerksam machen sollen. Diese Unterlassung des Bahnpersonals ist aber, mag sie auch als strafrechtlich irrelevant erachtet worden sein, wegen ihres Einflusses auf das Verhalten Trummers und Brandes jedenfalls für die Entscheidung der zivilrechtlichen Haftpflichtfrage von Belang. Zur Entlastung der Bahnangestellten war angenommen worden, der Unfall sei durch
BGE 89 II 38 S. 44
ein Missverständnis und den unglücklichen Umstand mitverursacht worden, dass Brandes und Trummer bezüglich des Bahnbetriebes Neulinge waren. Infolge der engen Verkettung des Verhaltens der beiden letzteren mit demjenigen des Bahnpersonals muss der genannte Entlastungsgrund auch für den Kläger gelten.b) So betrachtet aber kann von einem die Kausalhaftung der Beklagten ausschliessenden Selbstverschulden des Klägers keine Rede sein, und es ist nicht wohl zu verstehen, wieso die Vorinstanz zur gegenteiligen Annahme gelangen konnte, nachdem sie selber festgestellt hatte, dass das Missverständnis Trummers den Kläger zur Meinung verführt habe, man könne mit dem Abladen sofort beginnen. Das Gespräch zwischen Trummer und Frischknecht hatte Brandes nicht mitangehört. Selbst wenn also Trummer, wie das Kantonsgericht annimmt, die Weisung Frischknechts bei gebotener Aufmerksamkeit dahin hätte verstehen müssen, der Güterwagen müsse zuerst noch zur Waage geführt werden, so konnte der Kläger das nicht wissen. Als dann Trummer während des Wägens seines Fahrzeuges mit dem Lösen der Seile am Güterwagen begann und schliesslich den Lastwagen an den Güterwagen heranfuhr mit der Bemerkung, er wolle nur noch das Seil am Lastwagen anbinden, musste der Kläger dies als Weisung auffassen, jetzt mit dem Abladen zu beginnen. Ihm zuzumuten, er hätte es besser wissen sollen als sein Vorgesetzter, diesen auf die möglicherweise immer noch eingeschaltete Hochspannung aufmerksam machen und sich vorerst weigern sollen, den Wagen zu besteigen, ginge an der Wirklichkeit vorbei und widerspräche einer natürlichen Betrachtung der Dinge.
c) Übrigens käme eine Befreiung der Beklagten von ihrer Haftpflicht selbst dann nicht in Frage, wenn anzunehmen wäre, der Kläger habe sich doch schuldhaft unvorsichtig verhalten und dadurch in rechtserheblicher Weise den Unfall mitverursacht. Das Selbstverschulden wäre diesfalls im Rahmen des Ganzen von so untergeordneter Bedeutung, dass nicht gesagt werden könnte, es lasse die
BGE 89 II 38 S. 45
von der SBB zu vertretende Betriebsgefahr als inadäquate Unfallursache erscheinen (s. auch BGE 88 IV 106).d) Aus dem selben Grunde liesse sich auch eine Ermässigung der Ersatzpflicht der Beklagten nicht rechtfertigen. Zwar kann der Richter unter Würdigung aller Verhältnisse die Entschädigung ermässigen, wenn den Verletzten ein Teil der Schuld trifft (Art. 5 EHG). Vorliegend haben jedoch'wie ausgeführt, Umstände in ununterbrochener Kausalkette am Entstehen der Unfallsituation mitgewirkt, die der Kläger nicht zu vertreten hat, so der Irrtum, dass der Güterwagen bei Eintreffen Trummers und Brandes abladebereit sein würde, das Missverständnis zwischen Frischknecht und Trummer über das noch zu wägende Fahrzeug, die Jugendlichkeit und Unerfahrenheit des Klägers und seine Stellung als Untergebener Trummers. Wenn daher Brandes durch sein in vermeintlich richtiger Erfüllung seiner Arbeitsaufgabe an den Tag gelegtes Verhalten den Unfall auslöste, so war das in so überwiegendem Masse die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartende Folge jener Kausalfaktoren, dass auch ein mitkausales Selbstverschulden des Klägers daneben im Rahmen von Art. 5 EHG jedenfalls ausser Betracht fallen müsste.
3. Ein Drittverschulden kann die Eisenbahnunternehmung von ihrer Haftpflicht nur entlasten, wenn es unter dem Gesichtspunkt der adäquaten Kausalität die einzige Ursache des Unfalles bildet (BGE 87 II 306 und dort angeführte Entscheidungen). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Wie aus dem bereits zuvor Ausgeführten erhellt, haben die Missverständnisse über das Bereitstehen und das Wägen des Güterwagens zum Schadenereignis ebenfalls in rechtserheblicher Weise beigetragen, und in gleichem Sinne hat sich auch ausgewirkt, dass einerseits der Rangierarbeiter Frischknecht unmittelbar nach dem Gespräch mit Trummer Dienstpause hatte und sich nach Hause begab, ohne sich weiter um den Ablauf der Dinge zu kümmern, und dass anderseits Trummer und Brandes mit den Vorgängen auf Güterbahnhöfen nicht vertraut
BGE 89 II 38 S. 46
waren und insbesondere zum ersten Male auf dem Bahnhof St. Fiden zu tun hatten.Die Beklagten haben demnach dem Kläger den erlittenen Schaden in vollem Umfang zu ersetzen. Die vorinstanzliche Bemessung dieses Schadens auf Fr. 50'596.50 ist nicht angefochten.
4. Der Kläger fordert über diesen Schadenersatz hinaus die Summe von Fr. 5000.-- als Genugtuung. Eine solche kann gemäss Art. 8 EHG zugesprochen werden, wenn die Eisenbahnunternehmung oder Personen, für die sie gemäss Art. 1 Abs. 2 EHG verantwortlich ist, ein Verschulden trifft. Ein solches lässt sich hier entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht gänzlich ausschliessen.
a) Es ist unbestritten, dass der Chef der Güterexpedition dem Werkmeister Romano telephonisch erklärte, der Güterwagen mit der Strohladung werde bis zum Eintreffen der Arbeiter gewogen und abladebereit sein, und dass Romano diese Mitteilung an den Chauffeur Trummer weitergegeben hat. Aus diesem Grunde war Trummer denn auch der Ansicht, es verhalte sich tatsächlich so, und daraus erklärt sich weiter, warum er in der Folge die Anweisung Frischknechts, er solle warten, es müsse noch gewogen werden, missverstand. Die so lautende Aussage Trummers wird übrigens von den Beklagten selber angerufen, allerdings nur, um daraus ein Verschulden Romanos (mangelhafte Instruktion der beiden Arbeiter) abzuleiten. Es war aber zweifellos ein Fehler des Chefs der Güterexpedition, das sofortige Wägen und Bereitstellen des Güterwagens zuzusichern, sodann aber nicht dafür zu sorgen, dass diese Handlungen ohne jeden Verzug vorgenommen wurden. Jedenfalls aber hätte er, wenn ein sofortiges Wägen nicht möglich war, Trummer und Brandes bei ihrem Eintreffen im Bahnhof unmissverständlich darüber aufklären müssen, dass der Güterwagen noch nicht abladebereit sei.
b) Weiter entsprach auch das Verhalten des Rangierarbeiters Frischknecht nicht der nach den Umständen gebotenen Sorgfaltspflicht, indem er in einer Ausdrucksweise,
BGE 89 II 38 S. 47
die von Trummer missverstanden wurde, bloss vom noch erforderlichen Wägen sprach, es aber unterliess, gleichzeitig auf die noch eingeschaltene Fahrleitung über dem Güterwagen hinzuweisen.c) Vorschriftswidrig war es sodann, dass keiner der diensttuenden Bahnangestellten Trummer anwies, zuerst den Frachtbrief im Stationsbüro zu holen, dass man ihn vielmehr im Glauben liess, dies sei nicht nötig, nachdem die Wagennummer telephonisch mitgeteilt worden war. Auf dem Frachtbrief wäre, bei pflichtgemässem Verhalten des zuständigen Beamten der gelbe Warnzettel aufgeklebt gewesen, der Trummer nachdrücklich auf die Gefahr der Fahrleitung hingewiesen hätte. In der genannten Unterlassung liegt ein Verstoss gegen Ziff. 3 Abs. 5 des Reglements 352.2 über Annahme, Verlad, Beförderung, Auslad und Auslieferung von Tieren und Gütern, wonach das Bahnpersonal verpflichtet ist, die Bahnkunden auf die Gefahr des elektrischen Stromes sowie auf die entsprechenden Verhaltungsregeln aufmerksam zu machen. Demgegenüber kann nicht eingewendet werden, die genannte Vorschrift habe lediglich bahninternen Charakter und es könnten sich deshalb Dritte nicht darauf berufen. Diese Auffassung wurde zwar in zwei nicht veröffentlichten Urteilen des Bundesgerichtes (i.S. Wüest c. SBB vom 13. Dezember 1934 und i.S. Imhof c. SBB vom 13. Mai 1937) vertreten. Doch kann daran in dieser allgemeinen Form nach erneuter Prüfung nicht festgehalten werden. Aus dem Inhalt der Vorschriften des Reglements 352.2 erhellt zweifelsfrei, dass diese nicht allein um der internen Ordnung willen, sondern in erster Linie im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere zum Schutz der Bahnkunden vor den Gefahren des elektrischen Stromes erlassen wurden (s. auch BGE 88 IV 103). Wo sich daher ihre Missachtung über den bahninternen Bereich hinaus zum Nachteil Dritter auswirkt, kann diesen nicht verwehrt sein, sich zur Begründung ihrer Ansprüche zumindest mittelbar auf jene Vorschriften zu berufen. Macht die Eisenbahnunternehmung ihren Bediensteten
BGE 89 II 38 S. 48
ein bestimmtes Verhalten zur Pflicht, weil dies nach ihrer eigenen Auffassung zum Schutze der Bahnkunden geboten ist, so muss sie sich auch eine pflichtwidrige Unterlassung einer solchen Vorkehr durch ihr Personal entgegenhalten lassen, wenn der Verstoss gegen die Dienstvorschrift sich in einer Schädigung Dritter ausgewirkt hat.d) Schliesslich ist es entgegen der Auffassung des Kantonsgerichtes auch nicht völlig belanglos, dass der Humosan AG das "Merkblatt für Bahnkunden" über die Verhütung von Starkstromunfällen nicht zugestellt wurde. Gemäss Ziff. 3 Abs. 7 des Reglements 352.2 hat dies allen Absendern und Empfängern von Wagenladungen sowie den sonstigen wichtigeren Bahnkunden gegenüber jährlich einmal zu geschehen. Dass es sich bei der genannten Firma um einen Grosskunden einer andern Station, nämlich derjenigen von Wittenbach, handelt, mag zutreffen, hilft jedoch nicht über die Tatsache hinweg, dass nach der unbestrittenen Aussage des Werkmeisters Romano seine Arbeitgeberin während seiner vieljährigen Tätigkeit bei ihr noch nie von irgendeiner Seite das rote Merkblatt erhalten hat. Das ist nun nicht deshalb unerheblich, weil Romano, wie er erklärte, dessen Inhalt ohnehin kannte. Der Sinn der genannten Dienstanweisung ist offensichtlich der, die Bahnkunden seien alljährlich aufs neue an die mit dem Ein- und Ausladen von Güterwagen verbundenen Gefahren zu erinnern, und tatsächlich ist denn auch im vorliegenden Fall die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass die vorschriftsgemässe Durchführung dieser Warnmassnahme Romano und Trummer zu erhöhter Aufmerksamkeit veranlasst hätte.
5. Ist demnach ein bahnseitiges Verschulden grundsätzlich zu bejahen, so kann doch keinesfalls von grober Fahrlässigkeit oder Arglist die Rede sein (Art. 8 EHG). Vielmehr liegen die vorgenannten Versehen und Unterlassungen sehr nahe an der Grenze bloss objektiv unrichtigen Verhaltens. Es rechtfertigt sich daher nicht, die Beklagten
BGE 89 II 38 S. 49
wegen jenes unbedeutenden Verschuldens ihres Personals ausser für den materiellen Schaden auch für die immaterielle Unbill des Klägers haften zu lassen. Insoweit ist daher die Berufung des Klägers unbegründet.Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die Berufung des Klägers wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen vom 26. Oktober 1962 dahin abgeändert, dass die Beklagten dem Kläger den Betrag von Fr. 50'596.50 nebst 5% Zins seit 29. August 1956 zu bezahlen haben.
2.- Die Berufung der Beklagten wird abgewiesen.