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Urteilskopf

131 I 74


11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Grüne Aargau und Mitb. gegen Regierungsrat und Grosser Rat des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde)
1P.406/2004 / 1P.458/2004 vom 27. Oktober 2004

Regeste

Rechtsgleiches Verhältniswahlrecht, Wahlkreiseinteilung für die Wahl des Grossen Rates, Appellentscheid; Art. 8 Abs. 1, Art. 34, Art. 39 Abs. 1 BV; §§ 76 f. KV/AG.
Bundesrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung des kantonalen Wahlverfahrens (E. 3).
Regeln der Verfassungsauslegung (E. 4.1); § 77 KV/AG verpflichtet den Gesetzgeber, Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen, wenn dies zur Vermeidung proporzwidrig hoher Quoren erforderlich ist (E. 4.2 und 4.3).
Die Verkleinerung des Grossen Rates von 200 auf 140 Mitglieder führt bei einem Verzicht auf einen Zusammenschluss der Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zu natürlichen Quoren von bis zu 14.29 % (E. 5.1), ohne dass dies durch von der Kantonsverfassung vorgesehene sachliche Gründe zu rechtfertigen wäre (E. 5.2).
Die zulässige Obergrenze sowohl für direkte als auch für natürliche Quoren liegt bei 10 %. Für erstere gilt sie absolut, für letztere ist sie als Zielwert zu verstehen, der bei einer Neuordnung des Wahlsystems anzustreben ist (E. 5.3 und 5.4).
In concreto ist die angefochtene Wahlordnung ohne Schaffung von Wahlkreisverbänden oder einer anderen Regelung, die die Verhinderung von natürlichen Quoren von mehr als 10 % anstreben, verfassungswidrig (E. 5.5).
Da die verfassungsmässige Lage mit einer Gutheissung der Beschwerde nicht wiederhergestellt werden kann, sind die zuständigen Kantonsbehörden in einem Appellentscheid aufzufordern, im Hinblick auf die übernächsten Parlamentswahlen eine verfassungsmässige Wahlordnung zu schaffen (E. 6.1).

Sachverhalt ab Seite 76

BGE 131 I 74 S. 76
In der Volksabstimmung vom 18. Mai 2003 nahmen die Stimmberechtigten des Kantons Aargau die Volksinitiative "Abspecken beim Grossen Rat", welche eine Verkleinerung des Grossen Rates von 200 auf 140 Mitglieder verlangte, an und änderten damit die §§ 76 Abs. 2 und 77 Abs. 2 der Verfassung des Kantons Aargau vom 25. Juni 1980 (KV) ab. Die beiden Bestimmungen lauten nunmehr wie folgt:
"B. Der Grosse Rat
§ 76 - 1. Stellung und Zusammensetzung
1 Der Grosse Rat ist die gesetzgebende und die oberste Aufsicht führende Behörde des Kantons.
2 Er besteht aus 140 Mitgliedern.
§ 77 - 2. Wahl
1 Das Volk bestellt den Grossen Rat nach dem Verhältniswahlverfahren.
BGE 131 I 74 S. 77
2 Wahlkreise sind die Bezirke. Diese können durch Gesetz zu Wahlkreisverbänden zusammengefasst werden.
3 Die Sitze werden auf die Wahlkreise nach Massgabe der Wohnbevölkerung verteilt."
Mit Botschaft vom 24. September 2003 unterbreitete der Regierungsrat dem Grossen Rat eine Vorlage zur Änderung des Grossratswahl-, des Gemeinde- und des Geschäftsverkehrsgesetzes. Kern der Vorlage bildete die Schaffung von Wahlkreisverbänden. Der Regierungsrat erachtete diese als unabdingbar, weil mit der angenommenen Volksinitiative zur Verkleinerung des Grossen Rates auch eine Ergänzung von § 77 Abs. 2 der Kantonsverfassung erfolgt sei, die die Bildung von Wahlkreisverbänden vorsehe. 8 Bezirke sollten in 4 Wahlkreisverbänden zusammengefasst und 3 Bezirke als selbständige Wahlkreise bestehen bleiben. Der Regierungsrat hielt dazu fest: "Die Wahlkreisverbände sind notwendig, um zu verhindern, dass
- in kleinen Bezirken der erforderliche Stimmenanteil für einen Sitz im Grossen Rat die rechtlich zulässige Obergrenze (10 %) überschreitet
- die Unterschiede der erforderlichen Stimmenanteile zwischen kleinen und grossen Bezirken sich weiter erhöhen (von bisher 2.25/9.10 % auf 3.25/12.5 %) und damit das sachlich wie politisch vertretbare Mass überschreiten" (Botschaft S. 3).
In seiner 1. Lesung erhob der Grosse Rat die vorgeschlagenen Änderungen mit gewissen Modifikationen bei der Abänderung des Grossratswahlgesetzes zum Beschluss.
Am 10. März 2004 gewährleistete der Bund die §§ 76 Abs. 2 und 77 Abs. 2 der Kantonsverfassung.
In der 2. Lesung vom 8. Juni 2004 kam der Grosse Rat auf seinen Entschluss zurück und beschloss, auf die Schaffung von Wahlkreisverbänden zu verzichten. Er erhob die entsprechend angepassten Entwürfe für die Änderung des Grossratswahl-, des Geschäftsverkehrs- und des Gemeindegesetzes sowie des Dekrets über die Geschäftsführung des Grossen Rates zum Beschluss und unterstellte die Gesetzesänderungen der obligatorischen Volksabstimmung. Die Volksabstimmung über die an der Redaktionslesung vom 29. Juni 2004 definitiv beschlossenen Gesetzesänderungen wurde auf den 26. September 2004 angesetzt.
BGE 131 I 74 S. 78
Am 30. Juni 2004 setzte der Regierungsrat die am 18. Mai 2004 beschlossenen Fassungen von §§ 76 Abs. 2 und 77 Abs. 2 der Kantonsverfassung auf den 1. September 2004 in Kraft.
Am 26. September 2004 wurden die Änderungen des Grossratswahl-, des Geschäftsverkehrs- und des Gemeindegesetzes in der Volksabstimmung angenommen.
Verfahren 1P.406/2004
Mit Stimmrechtsbeschwerde vom 21. Juli 2004 beantragen die Grünen Aargau, die Schweizer Demokraten, die Eidgenössisch Demokratische Union, die Freiheitspartei, Martin Bossard, Markus Hari, Andrea Bischof, Lukas Spuhler, Stefan Keller, Rolf Urech und René Kunz im Wesentlichen, das geltende Grossratswahlgesetz als verfassungswidrig zu qualifizieren und den Regierungsrat anzuweisen, die kommenden Grossratswahlen auf der Basis von 200 Mitgliedern durchzuführen, bis ein verfassungskonformes Grossratswahlgesetz vorliege.
Der Grosse Rat und der Regierungsrat des Kantons Aargau beantragen in ihrer gemeinsamen Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Verfahren 1P.458/2004
Am 26. August 2004 erhoben die Grünen Aargau, die Schweizer Demokraten, die Eidgenössisch Demokratische Union, die Freiheitspartei, Martin Bossard, Markus Hari, Andrea Bischof, Lukas Spuhler, Stefan Keller, Rolf Urech und René Kunz eine weitere Stimmrechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrates vom 30. Juni betreffend Änderung der Verfassung des Kantons Aargau vom 18. Mai 2004. Das Bundesgericht weist sie ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Art. 34 BV gewährleistet in Abs. 1 allgemein die politischen Rechte und schützt in Abs. 2 ausdrücklich die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Dieser Grundsatz der Wahl- und Abstimmungsfreiheit dient der Konkretisierung der politischen Gleichheit, die mit der Rechtsgleichheit von Art. 8 Abs. 1 BV eng verknüpft ist. Als Bestandteil der Wahl- und Abstimmungsfreiheit kommt dem Gleichheitsgebot für die politischen Rechte besondere Bedeutung zu. Aus der Rechtsgleichheit und der politischen
BGE 131 I 74 S. 79
Gleichberechtigung im Speziellen folgt die Wahlrechtsgleichheit. Diese erheischt insbesondere, dass allen Stimmen bei der Zählung nicht nur derselbe Wert und dieselbe Stimmkraft, sondern auch derselbe Erfolg zukommt (Erfolgswertgleichheit). Alle Stimmen sollen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen, und möglichst alle Stimmen sind bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen. Die Zahl der gewichtslosen Stimmen ist auf ein Minimum zu begrenzen. Die Erfolgswertgleichheit erfasst damit nicht nur den Anspruch auf Verwertung der Stimme, sondern bedingt auch eine innerhalb des gesamten Wahlgebietes gleiche Verwirklichung des Erfolgswertes. Damit hat sie wahlkreisübergreifenden Charakter (BGE 129 I 185 E. 7.2 und 7. 3 mit Hinweisen).

3.2 Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV verpflichtet sie lediglich, die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen (repräsentativen oder demokratischen) Formen zu sichern. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen grundsätzlich sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlverfahren (BGE 129 I 185 E. 3.1; ZBl 95/1994 S. 479 E. 2). Die Bundesverfassung verlangt nicht, dass die Kantone ihr Parlament nach einem reinen Verhältniswahlrecht wählen. Schranke für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens bilden allerdings die Wahl- und Abstimmungsfreiheit von Art. 34 BV und das die politische Gleichberechtigung garantierende Rechtsgleichheitsgebot von Art. 8 Abs. 1 BV. Da jede Abweichung vom Proporz zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung von Wählerstimmen führt, lassen diese Garantien die Aufnahme proporzfremder Elemente ins Wahlverfahren nur zu, wenn dafür ausreichende sachliche Gründe bestehen (ZBl 95/1994 S. 479 E. 2b). Eine auf der überkommenen Gebietsorganisation beruhende Einteilung in verschieden grosse Wahlkreise hält vor der Wahlrechtsgleichheit nur stand, wenn die kleinen Wahlkreise, sei es aus historischen, föderalistischen, kulturellen, sprachlichen, ethnischen oder religiösen Gründen, Einheiten mit einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl bilden. Je stärker ein Wahlkreis eine eigene Identität hat, einen "Sonderfall" darstellt, um so eher rechtfertigt es sich, ihm - auf Kosten des Proporzes - einen Vertretungsanspruch im Parlament einzuräumen (Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 129 I 185 E. 3.1).

3.3 Ein Verhältniswahlrecht, wie es § 77 Abs. 1 KV für die Wahl des Grossen Rates vorschreibt, setzt voraus, dass der Kanton für das
BGE 131 I 74 S. 80
Wahlverfahren entweder in möglichst grosse und gleiche Wahlkreise, denen viele Sitze zustehen, oder gar nicht unterteilt wird (Einheitswahlkreis). Je mehr Mandate einem Wahlkreis zustehen, desto tiefer ist das natürliche Quorum, d.h. der Stimmenanteil, den eine Liste benötigt, um bei der ersten Sitzverteilung einen Sitz zu erhalten (100 geteilt durch die um 1 vergrösserte Mandatszahl; vgl. die Erläuterungen in BGE 129 I 185 E. 7.1.2). Je tiefer das natürliche Quorum liegt, desto besser wird der Zweck des Verhältniswahlrechts verwirklicht, alle massgeblichen politischen Kräfte nach Massgabe ihrer Parteistärke im Parlament Einsitz nehmen zu lassen. Aus der Berechnungsweise des natürlichen Quorums ergibt sich ohne weiteres, dass dieses sich erhöht, wenn die Zahl der Mandate in einem Wahlkreis gesenkt wird, ohne dass sich dessen Einwohnerzahl ändert.
Unterschiedliche Wahlkreise bewirken, dass nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Erhält in einem Wahlkreis mit 9 Sitzen eine Parteiliste 10 % der Stimmen, fällt ihr ein Mandat zu; in einem Wahlkreis, dem bloss 2 Mandate zustehen, benötigt eine Liste einen Stimmenanteil von 33,3 %, um einen Sitz zu erringen. Je kleiner ein Wahlkreis ist, desto grösser ist das natürliche Quorum und damit die Zahl der Wähler, die im Parlament nicht vertreten werden, deren Stimmen "gewichtlos" sind. Sind kleine Wahlkreise mit wenigen Sitzen zahlreich, nähert sich das Verhältnis- oder Proporzwahlsystem dem Mehrheits- oder Majorzwahlsystem an.

4. Mit der Verfassungsrevision von 2003 wurde der Grosse Rat von 200 auf 140 Mitglieder verkleinert (§ 76 Abs. 2 KV). Die Bezirke wurden als Wahlkreise beibehalten (§ 77 Abs. 2 Satz 1 KV), wobei neu die Möglichkeit geschaffen wurde, sie durch Gesetz zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen (§ 77 Abs. 2 Satz 2 KV).

4.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Verfassungsbestimmungen grundsätzlich nach denselben Regeln auszulegen wie Normen des einfachen Gesetzesrechts (BGE 124 II 193 E. 5a S. 199; Pra 88/1999 Nr. 88 S. 486). Danach muss die Norm in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht
BGE 131 I 74 S. 81
allerdings nicht nach seinen eigenen, subjektiven Wertvorstellungen, sondern nach den Vorgaben des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers aufgegeben ist (eingehend zur Auslegungsmethodik: BGE 128 I 34 E. 3a).

4.2 § 77 Abs. 1 KV legt als Wahlsystem für den Grossen Rat das Verhältniswahlrecht fest. § 77 Abs. 2 Satz 1 KV bestimmt, dass die unterschiedlich grossen Bezirke die Wahlkreise bilden, wobei der Gesetzgeber die Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenschliessen kann (Satz 2). Eine Kann-Vorschrift stellt nach der Rechtsprechung die Entscheidung ins pflichtgemässe Ermessen der zuständigen Instanz (BGE 123 II 106 E. 2b; BGE 115 Ib 517 E. 7h S. 541). Unter der Prämisse von Abs. 1 - Durchführung einer Proporzwahl - kann Abs. 2 nur so verstanden werden, dass diese in diesem Sinne gehalten ist, Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen, wenn und soweit dies zur Vermeidung proporzwidriger Quoren notwendig ist. Dies entspricht auch, was gerade bei der Auslegung von jungem - hier einjährigem - Recht von besonderer Bedeutung ist (BGE 112 Ia 97 E. 6c S. 104), dem Sinn und Zweck, den der historische Verfassungsgeber der Regelung beimass: Wie sich aus der Begründung der 2003 vom Volk angenommenen Volksinitiative zur Revision der §§ 76 und 77 KV ergibt, sollten durch die Schaffung von Wahlkreisverbänden die bisherigen Proporzverhältnisse erhalten werden können (Botschaft des Regierungsrates vom 24. September 2003, S. 3 unten und S. 7 oben). Die §§ 76 und 77 KV wurden vom Bund zudem ausdrücklich in diesem Sinne genehmigt (Botschaft des Bundesrates in BBl 2003 S. 8087 ff., insbesondere 8095; Genehmigungsbeschluss in BBl 2004 S. 1393).

4.3 Mit dem Erlass von § 77 Abs. 2 KV brachte der Verfassungsgeber somit zum Ausdruck, dass den aargauischen Bezirken keine Eigenständigkeit zukommen soll, die es ausschliessen würde, sie zur Durchführung einer Proporzwahl zu Verbänden zusammenzuschliessen. Er bekannte sich zu einem möglichst gut verwirklichten Verhältniswahlverfahren. Dieser Auffassung war auch der Regierungsrat, weshalb er bei der Umsetzung der Verfassungsrevision auf Gesetzesstufe die Schaffung von Wahlkreisverbänden vorschlug, und der Grosse Rat folgte ihm darin in der 1. Lesung auch.
Die von Regierungs- und Grossem Rat unter Verweis auf das Gutachten Auer (Ziff. 61) vorgebrachte These, der aargauische Bezirk
BGE 131 I 74 S. 82
sei trotz allem ein soziologisch-politisches Gebilde mit "realer politischer Existenz", eine Einheit mit einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl, was rechtfertige, ihm zu Lasten des Proporzes einen Vertretungsanspruch im Parlament einzuräumen, ist daher überholt und geht an der Sache vorbei. Der Verfassungsgeber hat, wie dargelegt, diese Frage mit der Schaffung der Möglichkeit, Bezirke zu Wahlkreisverbänden zusammenzuschliessen (§ 77 Abs. 2 KV), im gegenteiligen Sinn verbindlich entschieden.

5. Die Beschwerdeführer rügen, das angefochtene Grossratswahlgesetz verletze ihr Stimmrecht, weil es auf den in § 77 Abs. 2 KV vorgesehenen Zusammenschluss der kleinen Wahlkreise zu Wahlkreisverbänden verzichte.

5.1 Nach bisher geltendem Recht bestand der Grosse Rat des Kantons Aargau aus 200 Mitgliedern, wovon der grösste Bezirk (Baden) 43, die beiden kleinsten (Muri und Laufenburg) je 10 Vertreter stellten. Das bedeutete, dass im Bezirk Baden eine Liste mit über 2.27 % Wählerstimmen einen Parlamentarier stellen konnte, währenddem in Muri oder Laufenburg eine Liste dafür 9.09 % der Stimmen erreichen musste.
Für die unter der Herrschaft der neuen §§ 76 und 77 KV im Frühjahr 2005 durchzuführende Grossratswahl kommen nach der Mitteilung des kantonalen Wahlbüros auf der offiziellen Webseite des Kantons Aargau (www.ag.ch) den 11 Bezirken bzw. Wahlkreisen für die kommende Grossratswahl zwischen 30 (Baden) und 6 (Laufenburg) Mandate zu. Baden ist dabei mit Abstand der grösste Bezirk, es folgen mit grossem Abstand Aarau und Bremgarten (je 16 Sitze) sowie Zofingen mit 15 Sitzen. Weitere kleine Bezirke mit natürlichen Quoren von 10 % und mehr sind Muri (7 Sitze), Zurzach (8 Sitze) sowie Kulm (9 Sitze). Die natürlichen Quoren liegen zwischen 3.23 % (Baden) und 14.29 % (Laufenburg) und damit erheblich weiter auseinander als unter dem bisherigen Recht.

5.2 Hohe natürliche Quoren laufen, grundsätzlich gleich wie hohe direkte Quoren in Form von Sperrklauseln, Sinn und Zweck des Verhältniswahlrechts, nämlich die Beteiligung aller massgeblichen politischen Kräfte an der Verteilung der Parlamentssitze, zuwider. Sie bedürfen daher einer besonderen Rechtfertigung, beispielsweise als Schutz einer regionalen sprachlichen Minderheit. Gewichtet der kantonale Verfassungs- oder Gesetzgeber regionale, sprachliche, religiöse oder andere gleichgewichtige Gründe in sachlicher
BGE 131 I 74 S. 83
Weise stärker als die Verwirklichung einer möglichst perfekten Wahlrechtsgleichheit, kann dies mit dem in der Bundesverfassung garantierten gleichen Stimm- und Wahlrecht vereinbar sein. Solches ist im Kanton Aargau indessen gerade nicht der Fall: § 77 Abs. 2 KV räumt dem Gesetzgeber explizit die Möglichkeit ein, dem Proporzgedanken durch die Schaffung von Wahlkreisverbänden zum Durchbruch zu verhelfen. Damit steht es nicht im Belieben des Gesetzgebers, solche einzuführen, sondern er hat dies gemäss dem unbestrittenen Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmung nach pflichtgemässem Ermessen zu tun, soweit dies zur Wahrung der politischen Gleichberechtigung im Kanton erforderlich ist (vorn E. 4.2).

5.3 Das Bundesgericht erachtete in seiner Rechtsprechung ein direktes (gesetzliches) Quorum von 12.4 % als mit der verfassungsrechtlich garantierten Wahlrechtsgleichheit nicht mehr vereinbar, wohl aber ein solches von 6.6 % (JdT 1962 I S. 271 ff.) und auch noch von 10 % (BGE 103 Ia 603). Im in ZBl 95/1994 S. 479 ff. veröffentlichten Entscheid wurde ein natürliches Quorum von 20 % als verfassungswidrig erklärt und ein solches von 9.1 % als noch verfassungsmässig. Natürliche Quoren von 20 % und 16.66 % wurden auch in BGE 129 I 185 als verfassungswidrig betrachtet. Dies gilt immer dort, wo wie im Kanton Aargau die möglichen gewichtigen Gründe für einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit fehlen.

5.4 Direkte Quoren, die eine zu grosse Zersplitterung der im Parlament einsitzenden politischen Kräfte verhindern sollen, und natürliche Quoren, die sich aus der Einteilung der Wahlkreise ergeben und deren Vertretung im Parlament sicherstellen, dienen zwar unterschiedlichen Zwecken, haben indessen die gleichen Wirkungen, indem sie, je nach ihrer Höhe, mehr oder weniger Wähler von einer Vertretung im Parlament ausschliessen. Um der Rechtssicherheit Willen ist, gestützt auf die angeführte Rechtsprechung, festzulegen, dass die Überschreitung einer Limite von 10 % in beiden Fällen mit einem Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht zu vereinbaren ist. Für natürliche Quoren, die Folge der bestehenden Gebietseinteilung sind und vielfach aus beachtlichen (historischen) Gründen (vgl. vorn E. 3.2) erheblich davon abweichen, ist dieser Wert nicht als eine absolute Grenze, sondern als ein Zielwert zu verstehen, der jedenfalls bei einer Neuordnung des Wahlsystems möglichst angestrebt werden muss, auch wenn er, soweit nach wie vor ein ausgewiesenes Bedürfnis an der Beibehaltung
BGE 131 I 74 S. 84
proporzfremder Elemente besteht, nicht vollumfänglich erreicht wird. Für Sperrklauseln dagegen, die schon bei einer Grösse von weit unter 10 % die gewünschte Wirkung entfalten und deren Festsetzung immer ein willkürliches Element in sich trägt, ist diese Limite die absolute Obergrenze, sind doch kaum sachliche Gründe denkbar, die eine Annäherung an diesen Wert, geschweige denn seine Überschreitung, rechtfertigen könnten.

5.5 Unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit sind bereits die grossen Unterschiede zwischen den verschiedenen aargauischen Wahlkreisen problematisch: Währenddem im Bezirk Baden eine Liste mit 3.23 % Stimmenanteil einen Parlamentssitz erhält, braucht es dafür in den Bezirken Aarau, Bremgarten, Zofingen, Lenzburg, Brugg und Rheinfelden zwischen rund 6 und 9 % sowie in Kulm 10 %. In den Bezirken Zurzach, Muri und Laufenburg sind die Wähler einer Liste von der Sitzverteilung ausgeschlossen, wenn diese nicht 11.11 %, 12.5 % bzw. 14.29 % erreicht. Es ist bei einer Proporzwahl mit dem verfassungsmässig garantierten gleichen Wahlrecht nach dem Gesagten grundsätzlich nicht vereinbar, den Wählern in den Bezirken Zurzach, Muri und Laufenburg, auch wenn ihre Wahllisten mehr als 10 % der Stimmen erreichen, keine Vertretung im Parlament einzuräumen. Der Erlass der Ausführungsgesetzgebung und namentlich des Grossratswahlgesetzes ohne Schaffung von Wahlkreisverbänden oder gegebenenfalls einer anderen Regelung, die die Verhinderung von natürlichen Quoren von mehr als 10 % in einem Wahlkreis anstreben, ist mit Art. 34 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 BV nicht vereinbar. Dies ist festzustellen, während die beantragte Aufhebung des am 26. September 2004 abgeänderten Gesetzes über die Wahl des Grossen Rates ausser Betracht fällt, da die Wahlkreiseinteilung nicht Gegenstand dieses Erlasses bildet; der Regierungsrat hielt in den Erläuterungen zu dieser Abstimmungsvorlage (S. 6 oben) denn auch fest, sie betreffe nicht die Verkleinerung des Parlaments, sondern andere Bestimmungen des Wahlsystems.

6.

6.1 Die revidierten §§ 76 und 77 KV wurden vom Volk angenommen und sind in Kraft, was ausschliesst, die anstehende Parlamentswahl nach alter Ordnung durchzuführen. Anderseits ist es dem Kanton Aargau offensichtlich zeitlich nicht möglich, eine den vorangehenden bundesgerichtlichen Erwägungen entsprechende Gesetzgebung zu erlassen und die bereits in vier Monaten anstehende
BGE 131 I 74 S. 85
nächste Erneuerungswahl für die Legislaturperiode 2005-2008 danach durchzuführen. Da sich die verfassungsmässige Lage mit einer Gutheissung der Beschwerde aus diesen Gründen nicht herstellen lässt, rechtfertigt es sich, die nächste Grossratswahl noch nach der gegenwärtig geltenden, hier angefochtenen Regelung durchführen zu lassen und dem Kanton Aargau die notwendige Zeit einzuräumen, eine verfassungskonforme Ausführungsgesetzgebung zu erlassen. Es ist daher ein Appellentscheid zu fällen (dazu WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 403 und die dort zusammengefasste bundesgerichtliche Rechtsprechung). Die Beschwerde 1P.406/2004 ist demnach im Sinne der Erwägungen abzuweisen, womit die zuständigen Behörden des Kantons Aargau aufgefordert sind, im Hinblick auf die übernächsten Parlamentswahlen unter Befolgung der bundesgerichtlichen Erwägungen eine verfassungsmässige Wahlordnung zu schaffen.

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Sachverhalt

Erwägungen 3 4 5 6

Referenzen

BGE: 129 I 185, 124 II 193, 128 I 34, 123 II 106 mehr...

Artikel: Art. 8 Abs. 1, Art. 34, Art. 39 Abs. 1 BV, Art. 34 BV, § 77 KV/AG, Art. 39 Abs. 1 BV