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Urteilskopf

95 I 1


1. Urteil vom 29. Januar 1969 i.S. L. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Basel-Landschaft.

Regeste

Kantonales Prozessrecht, überspitzter Formalismus. Art. 4 BV.
Kantonale Vorschrift, wonach die gegen ein Strafurteil appellierende Partei innert der Appellationsfrist von 10 Tagen bei der Strafgerichtskanzlei einen Betrag (Vorschuss) von Fr. 20.- bzw. 10.- zu hinterlegen hat.
- Willkürliche Auslegung der Vorschrift? (Erw. 1).
- Wann ist ein prozessualer Formalismus überspitzt und mit Art. 4 BV unvereinbar? (Erw. 2 a).
- Die erwähnte Vorschrift hält vor Art. 4 BV nur stand, wenn der appellierenden Partei, die den Vorschuss nicht fristgemäss leistet, eine kurze Nachfrist angesetzt wird (Erw. 2 b).

Sachverhalt ab Seite 2

BGE 95 I 1 S. 2

A.- Nach § 144 der basellandschaftl. StPO kann gegen jedes vom Strafgericht gefällte Urteil sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft appellieren. § 145 bestimmt in Abs. 1, dass die Appellation innert 10 Tagen nach der (mündlichen) Urteilsverkündung schriftlich dem Strafgericht einzureichen ist. Ferner regelt § 145 in Abs. 3 den "Inhalt der Appellation" und bestimmt in Abs. 4 unter dem Randtitel "Kostenvorschuss":
"Die appellierende Partei hat, sofern sie sich auf freiem Fuss befindet, innert der Appellationsfrist bei der Kanzlei des Strafgerichts einen Betrag von Fr. 20.- in Strafgerichtsfällen bzw. von Fr. 10.- in Fällen, die der Ausschuss des Strafgerichts beurteilt hat, zu hinterlegen. Leistet sie diesen Vorschuss nicht, so ist die Appellation ungültig. Die Staatsanwaltschaft ist von dieser Hinterlage befreit".

B.- L. wurde am 27. Juni 1968 vom Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger schwerer Körperverletzung und grober Verletzung von Verkehrsregeln zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 7 Monaten und zu einer bedingt löschbaren Busse von Fr. 800.-- verurteilt. Dieses Urteil wurde L. der durch den in Basel praktizierenden Advokaten Dr. X. verteidigt war, am Schlusse der Hauptverhandlung mündlich eröffnet.
Der Verteidiger reichte am 2. Juli 1968 beim Strafgericht die schriftliche Appellationserklärung ein, unterliess es aber, innert der Appellationsfrist den Kostenvorschuss von Fr. 20.- zu leisten; er überwies ihn dem Strafgericht erst am 1. August 1968.
Mit Entscheid vom 29. Juli 1968 wies der Strafgerichtspräsident die Appellation mangels Kostenvorschuss als ungültig zurück. L. liess hierauf durch seinen Verteidiger beim Obergericht gestützt auf § 149 StPO die Gültigerklärung der Appellation beantragen. Zur Begründung machte der Verteidiger geltend, er sei bei der Rechtsmittelbelehrung nicht auf die ihm als ausserkantonalem Anwalt unbekannte Kostenvorschusspflicht aufmerksam gemacht worden. Hätte sodann der Strafgerichtspräsident die schon nach 5 Tagen erklärte Appellation gemäss § 149 Abs. 1 StPO mangels Kostenvorschuss sofort zurückgewiesen, so hätte er den Vorschuss noch vor Ablauf der Appellationsfrist leisten können.
Das Obergericht wies das Gesuch um Gültigerklärung der Appellation mit Beschluss vom 20. August 1968 ab, im wesentlichen mit der Begründung: Die rechtzeitige Leistung des
BGE 95 I 1 S. 3
Kostenvorschusses von Fr. 20.- sei gemäss ausdrücklicher Vorschrift in § 145 Abs. 4 StPO Gültigkeitserfordernis der Appellation. Ob dem Beschwerdeführer die Appellationsvorschriften bei der Urteilseröffnung mitgeteilt worden seien, lasse sich nicht mehr zuverlässig ermitteln, sei aber unerheblich; denn wer diese Vorschriften kenne oder als Rechtskundiger, z.B. als Anwalt, zu kennen habe, könne sich nicht auf fehlende Rechtsmittelbelehrung berufen.

C.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellt L. den Antrag, der Beschluss des Obergerichts vom 20. August 1968 sei wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben.

D.- Das Obergericht hat sich, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen, im Sinne der Abweisung der Beschwerde geäussert.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Wenn man von der eingehender zu prüfenden Rüge des überspitzten Formalismus absieht, ist der angefochtene Entscheid unter dem Gesichtspunkt des Art. 4 BV nicht zu beanstanden. Nach § 145 Abs. 4 StPO hat die appellierende Partei innert der Appellationsfrist bei der Strafgerichtskanzlei einen Betrag von Fr. 20.- bzw. 10.- zu hinterlegen und ist die Appellation, wenn dieser Vorschuss nicht geleistet wird, ungültig. Da der Beschwerdeführer den Vorschuss erst nach Ablauf der Appellationsfrist geleistet hat, steht die Annahme des Obergerichts, die Appellation sei ungültig, mit dem Wortlaut des Gesetzes im Einklang. Die dem Wortlaut entsprechende Auslegung einer Vorschrift ist aber nur dann willkürlich, wenn sie dem Sinn und Zweck offensichtlich widerspricht (BGE 91 I 167 mit Verweisungen), wofür hier keine Anhaltspunkte bestehen. Als unanfechtbar erscheint auch die Annahme des Obergerichts, die Appellation sei, da der Beschwerdeführer durch einen Anwalt vertreten war, selbst dann ungültig, wenn er in der Rechtsmittelbelehrung auf die Vorschusspflicht nicht aufmerksam gemacht worden sein sollte. Wer als Anwalt in einem andern als seinem Wohnsitzkanton Prozess führt und Rechtsmittel ergreift, ist, wie ohne jede Willkür angenommen werden kann, verpflichtet, die dafür geltenden gesetzlichen Vorschriften zu kennen. Schliesslich kann der Beschwerdeführer
BGE 95 I 1 S. 4
auch daraus nichts zu seinen Gunsten ableiten, dass ihn der Strafgerichtspräsident nach Eingang der Appellationserklärung am 6. Tage der Frist nicht auf die Vorschusspflicht aufmerksam machte, da der Vorschuss üblicherweise nicht in bar oder Briefmarken der Appellationserklärung beigelegt, sondern mit der Post einbezahlt oder überwiesen wird und die Ausführung des Auftrags durch die Post mehrere Tage in Anspruch nehmen kann. Ernstlich fragen kann sich einzig, ob die Ungültigerklärung der Appellation einen überspitzten Formalismus darstellt, der mit Art. 4 BV nicht zu vereinbaren ist.

2. Da der angefochtene Entscheid dem § 145 Abs. 4 StPO entspricht, richtet sich der Vorwurf des überspitzten Formalismus gegen die gesetzliche Ordnung. Das ist zulässig, da die Verfassungswidrigkeit eines Erlasses noch im Anschluss an eine gestützt darauf ergangene Anwendungsverfügung geltend gemacht werden kann (BGE 92 I 364 Erw. 1 mit Hinweisen auf frühere Urteile).
a) Prozessuale Formen sind unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Im Strafprozess verfolgen sie vor allem den Zweck, die Wahrheitsfindung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts in einer Weise herbeizuführen, die den Angeschuldigten gegen die Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs durch behördliche und richterliche Willkür und gegen die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte schützt. Dieser Anspruch des Angeschuldigten auf ordnungsgemässe Wahrheits- und Rechtsfindung im Prozess ist gleichermassen bedroht durch die Missachtung der sie sichernden Formen wie durch einen übertriebenen Formalismus, der sich durch kein schutzwürdiges Interesse rechtfertigen lässt, zum blossen Selbstzweck wird und damit sowohl die Wahrheitsfindung wie die Ausübung der Verteidigungsrechte in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert.
Ein derartiger überspitzter Formalismus ist, wie das Bundesgericht seit 15 Jahren öfters entschieden hat, als formelle Rechtsverweigerung mit Art. 4 BV unvereinbar (BGE 81 I 117 Erw. 4, BGE 85 I 207 ff., BGE 86 I 7 Erw. 3, BGE 87 I 5, BGE 92 I 11 und 15, BGE 93 I 213 Erw. 2, BGE 94 I 524. In allen diesen Fällen richtete sich die staatsrechtliche Beschwerde gegen Entscheide, mit denen eine Rechtsmittelinstanz das Eintreten auf Rechtsmittel wegen Missachtung von Formerfordernissen abgelehnt hatte. Dabei
BGE 95 I 1 S. 5
handelte es sich entweder um Formerfordernisse, die lediglich durch die Praxis eingeführt worden waren, oder aber um solche, die zwar das Gesetz aufstellte, die es aber nicht ausdrücklich als Gültigkeitserfordernisse bezeichnete. Das Bundesgericht konnte sich daher jeweils auf die Prüfung der Frage beschränken, ob die Rechtsanwendung einen überspitzten Formalismus darstelle, und offen lassen, ob eine dahingehende ausdrückliche Vorschrift zulässig wäre (vgl. BGE 92 I 13 oben). Im vorliegenden Falle stellt sich nun die Frage, ob die gesetzliche Regelung selber vor Art. 4 BV standhält.
b) Wie das Obergericht in der Vernehmlassung anerkennt, handelt es sich bei den nach § 145 Abs. 4 StPO zu hinterlegenden Beträgen trotz des Randtitels nicht um einen "Kostenvorschuss", da die Verfahrenskosten diese relativ geringfügigen Beträge regelmässig übersteigen. Der Gesetzgeber soll damit den Zweck verfolgt haben, den Parteien die Bedeutung des Rechtsmittels einzuschärfen und sie von trölerischen oder unzweckmässigen Appellationen abzuhalten. Diesem Zweck dürften indes Gebühren von derart geringer Höhe nicht genügen. Ob im Hinblick hierauf anzunehmen sei, die Vorschrift, wonach die appellierende Partei diese Beträge zu hinterlegen habe, lasse sich nicht auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen und sei sinn- und zwecklos, worin ein Verstoss gegen Art. 4 BV liegen würde (vgl. BGE 92 I 442 mit Hinweisen auf frühere Urteile), kann dahingestellt werden. Den angeblichen Zweck, von leichtfertigen Appellationen abzuhalten, erfüllt die Vorschrift auch dann, wenn der Partei, die den Vorschuss nicht leistet, eine kurze Nachfrist angesetzt wird mit der Androhung, dass bei Versäumung dieser Frist auf die Appellation nicht eingetreten werde. Soweit die Vorschrift dies nicht vorsieht und damit auch die Appellationen derjenigen, die den Vorschuss aus Rechtsunkenntnis oder versehentlich nicht rechtzeitig leisten, ungültig werden lässt, erfüllt sie keinen schutzwürdigen Zweck; sie dient weder der ordnungsgemässen, rechtsgleichen Verfahrensabwicklung noch der Wahrheitsfindung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts, sondern ist im Gegenteil dazu angetan, dem Angeschuldigten ohne sachlich vertretbaren Grund die Appellation zu erschweren. Es handelt sich, wie EICHENBERGER (Beiträge zum aarg. Zivilprozessrecht, 1949, S. 269) für die entsprechende Bestimmung in § 321 aarg. ZPO zu Recht festgestellt hat, um eine Prozessfalle für selber handelnde
BGE 95 I 1 S. 6
Parteien und ausserkantonale Anwälte. § 145 Abs. 4 StPO hält vor Art. 4 BV nur stand, wenn und soweit der appellierenden Partei, die den Vorschuss innert der Appellationsfrist nicht hinterlegt hat, eine kurze Nachfrist gesetzt wird (in diesem Sinne die neuere Rechtsprechung zu § 321 aarg. ZPO; AGVE 1963 S. 88 Erw. 1a). Es verhält sich nicht anders als mit dem Erfordernis, bei der Rechtsmittelerklärung die Vollmacht oder eine Abschrift des angefochtenen Entscheids einzureichen (vgl. BGE 85 I 210 Erw. 5, BGE 86 I 9, BGE 92 I 12 /3 und 16/7, BGE 94 I 524). Der angefochtene Entscheid, der die Appellation, ohne dass dem Beschwerdeführer eine solche Nachfrist angesetzt wurde, mangels Leistung des Kostenvorschusses als ungültig erklärt, ist daher wegen Verletzung des Art. 4 BV aufzuheben.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Referenzen

BGE: 94 I 524, 91 I 167, 92 I 364, 81 I 117 mehr...

Artikel: Art. 4 BV, § 145 Abs. 4 StPO, § 149 StPO, § 149 Abs. 1 StPO