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Urteilskopf

104 IV 90


26. Urteil des Kassationshofes vom 9. Juni 1978 i.S. Y. gegen X.

Regeste

Art. 32, 220 StGB, Art. 2 ZGB. Entziehen und Vorenthalten von Unmündigen.
1. Der Elternteil, dem das Besuchsrecht verkürzt wurde, ist nicht berechtigt, den Ausfall eigenmächtig zu kompensieren (E. 1a).
2. Die eigenmächtige Überschreitung des Besuchsrechts schliesst Straflosigkeit wegen erlaubter Selbsthilfe aus (E. 2).
3. Rechtsmissbräuchliche Ausübung des Strafantragsrechts. Voraussetzungen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 90

BGE 104 IV 90 S. 90

A.- a) Die 1965 geschlossene Ehe von François X. und Gisèle Y. wurde durch Urteil des Amtsgerichts von Pruntrut am 12. November 1971 geschieden. Die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder Didier (geb. 1965), Sandra (geb. 1967) und Patricia (geb. 1968) wurden der Mutter zugesprochen.
BGE 104 IV 90 S. 91
Auf Klage von François X. wies das Amtsgericht von Delsberg am 25. Januar 1975 die drei Kinder unter Anordnung einer vormundschaftlichen Aufsicht dem Vater zu. Das Besuchsrecht der Mutter wurde in der Weise geregelt, dass sie Didier und Patricia am ersten Wochenende, Sandra am zweiten und vierten Wochenende jeden Monats und im übrigen während einer Woche über Weihnachten oder Neujahr sowie während 4 Tagen über Ostern und während 15 Tagen in den Schulferien zu sich nehmen konnte.
b) Die Ausübung des Besuchsrechts gestaltete sich sehr schwierig. In der zweiten Hälfte des Jahres 1975 konnte es überhaupt nicht mehr ordnungsgemäss ausgeübt werden. Einerseits legte François X. Hindernisse in den Weg und anderseits trug auch das Verhalten verschiedener Behörden zur Behinderung bei. Am 15. März 1975 ersuchte François X. die Vormundschaftsbehörde, seinen Kindern inbezug auf das Besuchsrecht der Mutter die Handlungsfreiheit zuzugestehen, worauf der Gemeinderat von Ferenbalm am 18. Juni 1975 das Besuchsrecht mit sofortiger Wirkung auf Zusehen hin unterband. Eine von der Mutter dagegen erhobene Beschwerde wies der Regierungsstatthalter von Laupen ab, befristete aber die Wirksamkeit des Beschlusses auf den 15. Oktober 1975. Kurz hernach stellte Gisèle Y. beim Gerichtspräsidenten von Laupen das Gesuch um Urteilsvollstreckung mit dem Antrag, es sei eine Drittperson zu beauftragen, die Kinder mit polizeilicher Hilfe an den gerichtlich festgesetzten Tagen dem Vater wegzunehmen und der Mutter zu überbringen. Diesem Gesuch wurde am 9. März 1976 teilweise entsprochen, nachdem eine Beschwerde wegen Rechtsverzögerung vom Appellationshof des Kantons Bern am 17. Februar 1976 gutgeheissen worden war.
c) Am Morgen des 19. Dezember 1975 fuhr Gisèle Y. mit ihrem Freund in dessen Auto nach Rizenbach, wo sie verkleidet auf dem Weg zum Schulhaus auf ihre Kinder wartete. Als diese sie erkannten, stiegen Patricia und Sandra freiwillig in den Wagen, während Didier sich weigerte, seinen Schwestern zu folgen. Die Mutter verbrachte darauf zusammen mit ihren Töchtern bis zum 23. Dezember 1975 die Ferien im Wallis. Nach Hause zurückgekehrt, begab sie sich am 24. Dezember 1975 zur Adjunktin des Jugendgerichts Jura, von wo aus die Kinder ihrem Vater telefonieren konnten. Dieser bestand darauf, dass sie ihm am 27. Dezember 1975 übergeben werden.
BGE 104 IV 90 S. 92
Weil sie sich angeblich sträubten, zum Vater zurückzukehren, behielt Gisèle Y. die beiden Mädchen noch bis am 29. Dezember 1975 bei sich in Cortételle.

B.- Auf Strafantrag von François X. sprach der a.o. Gerichtspräsident von Laupen Gisèle Y. am 11. Juli 1977 des Entziehens und Vorenthaltens von Unmündigen (Art. 220 StGB), begangen in der Zeit vom 19. bis 29. Dezember 1975, schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 20.-, zu den ergangenen Gerichtskosten von Fr. 475.- und zu den Interventionskosten des Privatklägers.
Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern bestätigte am 28. Oktober 1977 das erstinstanzliche Urteil und auferlegte Gisèle Y. auch die Kosten des Berufungsverfahrens (Fr. 470.-) sowie die Interventionskosten beider Instanzen (Fr. 3200.-).

C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Gisèle Y., das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Aus der Begründung des angefochtenen Urteils ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin entgegen dem Schuldspruch nur vorgeworfen wird, die Kinder in der Zeit vom 19. bis zum Schulschluss am 20. Dezember entzogen und ab 27. Dezember bis zur Rückgabe am 29. Dezember vorenthalten zu haben. Dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin das Recht zustand, die Kinder über Weihnachten während sieben Tagen bei sich zu behalten, wurde demnach Rechnung getragen. Hinsichtlich der übrigen drei Tage ist entgegen den Einwänden der Beschwerdeführerin der Tatbestand des Art. 220 StGB objektiv und subjektiv erfüllt.
a) Die Beschwerdeführerin hat zwar die Kinder lediglich drei Tage zu lange bei sich behalten, wogegen ihr das Besuchsrecht in der vorangegangenen Zeit während einer bedeutend grösseren Zahl von Tagen verwehrt worden war. Dem Elternteil, dem aus irgendeinem Grund das Besuchsrecht verkürzt wurde, steht aber kein Recht zu, diesen Ausfall eigenmächtig zu kompensieren. Der Ausgleich darf nicht einseitig vom Besuchsberechtigten gegen den Willen des Inhabers der elterlichen Gewalt oder ohne richterliche Entscheidung herbeigeführt
BGE 104 IV 90 S. 93
werden. Nur die Einhaltung des verfügten oder vereinbarten Besuchsrechts kann Streit oder nachteilige Auswirkungen auf die Kinder verhüten. Soweit die Beschwerdeführerin das ihr über Weihnachten zustehende Besuchsrecht überschritten hat, beruft sie sich zu Unrecht auf die unrechtmässige Schmälerung ihres Rechts.
b) Auch der Einwand der Beschwerdeführerin, sie habe die Kinder nicht entziehen oder vorenthalten wollen, ist haltlos. Sie wusste, dass sie die Kinder länger als sieben Tage zu sich nahm, und sie tat es ohne inneren oder äusseren Zwang, also aus freien Stücken. Damit hat sie vorsätzlich gehandelt.
c) Nicht zu ersehen ist, inwiefern die Vorinstanz Art. 8 EMRK, wonach jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens hat, verletzt haben soll. Die Beschwerde enthält keine nähere Begründung, so dass auf die Rüge nicht eingetreten werden kann (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Sie wäre zudem unbegründet, weil die elterliche Gewalt und das Besuchsrecht im ZGB gesetzlich geregelt sind und diese Ordnung in Abs. 2 von Art. 8 EMRK ausdrücklich vorbehalten wird.
d) Die besonderen strafmindernden Umstände des vorliegenden Falles sind übrigens berücksichtigt worden, indem das Verschulden der Beschwerdeführerin als geringfügig erachtet und nur eine Busse von Fr. 20.- ausgesprochen wurde.

2. Die Beschwerdeführerin wendet ein, sie habe das gerichtlich verfügte Besuchsrecht auch nach dem 15. Oktober 1975, auf welchen Zeitpunkt der rechtswidrige Beschluss des Gemeinderates Ferenbalm aufgehoben worden sei, nicht ausüben können, weil sie vom Beschwerdegegner weiterhin daran gehindert worden sei und der Vollstreckungsrichter die verlangte Hilfe bis zum Beschwerdeentscheid des Obergerichts vom 17. Februar 1976 versagt habe. Es sei ihr deshalb keine andere Möglichkeit übrig geblieben, als die Kinder vor den Weihnachtsferien 1975 auf dem Schulweg abzuholen. Damit beruft sie sich dem Sinne nach auf erlaubte Selbsthilfe.
Nach Art. 52 Abs. 3 OR ist nicht zu Schadenersatz verpflichtet, wer zum Zwecke der Sicherung eines berechtigten Anspruches sich selbst Schutz verschafft, wenn nach den Umständen amtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt und nur durch Selbsthilfe eine Vereitelung des Anspruches oder eine wesentliche Erschwerung seiner Geltendmachung verhindert werden
BGE 104 IV 90 S. 94
konnte. Dieser Rechtfertigungsgrund gilt über das Haftpflichtrecht hinaus auch im Strafrecht (BGE 76 IV 235, BGE 85 IV 5 f.; HAFTER, AT, S. 159 f.; LOGOZ, Art. 32 N. 2a; THORMANN/VON OVERBECK, Art. 32 N. 6; SCHULTZ, AT I, S. 142; SCHWANDER, Nr. 175 a; WAIBLINGER, SJK Nr. 1204 N. 18).
Ob die gesetzlich erlaubte Selbsthilfe auch einen Elternteil zur eigenmächtigen Durchsetzung seines Besuchsrechts berechtige, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Zwar verweigerte der Beschwerdegegner die Ausübung des Besuchsrechts hartnäckig, und die Beschwerdeführerin hatte Grund zur Annahme, sie werde bei den Behörden auf längere Zeit hinaus keinen Schutz finden und die Kinder könnten ihr entfremdet werden. Sie ist aber nicht nur eigenmächtig vorgegangen, um das ihr zustehende Besuchsrecht auszuüben, sondern hat es ohne Ermächtigung um drei Tage überzogen und damit das allfällige Recht zur Selbsthilfe überschritten und sich insoweit ins Unrecht versetzt. Selbst die Überschreitung von Notwehr gestattet nur Strafmilderung, nicht Straflosigkeit (Art. 33 Abs. 2 StGB). Auch erlaubte Selbsthilfe könnte daher die Beschwerdeführerin nicht völlig entlasten.

3. Die Beschwerdeführerin ist empört darüber, dass der Beschwerdegegner gegen sie Strafanzeige wegen Entziehens und Vorenthaltens von Unmündigen eingereicht habe, nachdem er sie durch eigene Obstruktion und Sabotierung des Besuchsrechts zur Tat getrieben habe. Damit macht sie sinngemäss geltend, der Beschwerdeführer habe den Strafantrag rechtsmissbräuchlich gestellt.
a) Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs sind Grundsätze, welche in der gesamten Rechtsordnung Geltung haben und nicht auf das Privatrecht beschränkt sind; sie sind auch im öffentlichen und im Prozessrecht anwendbar (MERZ, Art. 2 ZGB, N. 64 ff.; DESCHENAUX, Schweiz. Privatrecht, Bd. 2, S. 158 ff.). Das gilt auch für das Gebiet des Strafantragrechts (GERMANN, ZStR 79 (1963) S. 397; VON BÜREN, Der Straftatbestand des unlauteren Wettbewerbs, in Kriminalistik 1968, S. 100, Appellationsgericht Basel-Stadt, in SJZ 39 (1942/43) S. 365 f.; a.M. REHBERG, ZStR 85 (1969) S. 272). Das Strafgesetz sieht selber in besonderen Fällen, die als Rechtsmissbrauch angesehen werden können, den Ausschluss des Verletzten vom Antragsrecht ausdrücklich vor. Ein
BGE 104 IV 90 S. 95
Anwendungsfall rechtsmissbräuchlicher Antragstellung findet sich vor allem in Art. 165 Ziff. 2 Abs. 3 StGB, der bestimmt, dass dem Gläubiger, der den in Vermögensverfall geratenen Schuldner zu verpönten Handlungen verleitet oder wucherisch ausgebeutet hat, kein Antragsrecht zusteht. Dass das Gesetz das Antragsrecht nur vereinzelt verneint und keinen generellen Vorbehalt macht, zwingt nicht zur Annahme, das Verbot des Rechtsmissbrauchs finde in andern Fällen auf das Antragsrecht keine Anwendung. Ein solcher Umkehrschluss wird auch im Zivilrecht abgelehnt (BGE 95 II 511 E. 4). Von der gleichen Voraussetzung ist der Kassationshof schon in BGE 90 IV 171 ausgegangen, wo ein nach den allgemeinen Regeln zulässiger Strafantrag auf Rechtsmissbrauch überprüft wurde.
b) In Anlehnung an Art. 165 Ziff. 2 Abs. 3 StGB ist die Ausübung des Antragsrechts namentlich als rechtsmissbräuchlich zu betrachten, wenn der Antragsteller durch eigenes rechtswidriges Verhalten zur strafbaren Handlung des Täters unmittelbar Anlass gegeben hat. Offenbarer Rechtsmissbrauch darf indessen nur mit Zurückhaltung angenommen werden (BGE 95 II 512). Nur wenn der Verletzte dem Täter ein objektiv grobes Unrecht zugefügt hat und zwischen seinem rechtswidrigen Verhalten und dem vom Täter herbeigeführten strafbaren Erfolg ein enger Kausalzusammenhang besteht, rechtfertigt es sich, dem Antragsteller ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Verfolgung und Bestrafung des Täters abzusprechen und demzufolge den gestellten Strafantrag als ungültig zu erachten.
c) Aus den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ergibt sich, dass der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin im Jahre 1975, sowohl vor dem 18. Juni als auch nach dem 15. Oktober, während einer längeren Zeitspanne an der Ausübung des ihr zustehenden Besuchsrechts gehindert hat. Sein Gesuch vom 15. März 1975 um Unterbindung des Besuchsrechts und die Tatsache, dass er sich dem Begehren der Beschwerdeführerin vom 18. Oktober 1975 um Vollstreckung des gerichtlichen Urteils widersetzte, legen den Schluss nahe, es sei ihm in Wirklichkeit um die Beseitigung des Besuchsrechts schlechthin gegangen. Für die schikanöse Einstellung des Beschwerdegegners kennzeichnend ist auch der Vorfall vom 6. Dezember 1975 vor dem Schulhaus Rizenbach, als er der
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Beschwerdeführerin die Ausübung des Besuchsrechts unter dem Vorwand verweigerte, die Kinder müssten bei ihm zu Hause abgeholt werden.
Das angefochtene Urteil gibt jedoch keine genügenden Aufschlüsse darüber, in welcher Art und Weise und wie oft der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin bei ihren Versuchen, die Kinder bei ihm abzuholen, an der Ausübung des Besuchsrechts gehindert hat und welche Beweggründe für sein Verhalten massgebend waren. Das Urteil ist daher gemäss Art. 277 BStP aufzuheben, damit die Vorinstanz darüber nähere Feststellungen treffe und gestützt auf das Ergebnis die Sache unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauches neu beurteile.

4. Soweit die Beschwerdeführerin ihre Verpflichtung zur Bezahlung einer Prozessentschädigung an den Beschwerdegegner beanstandet, kann darauf nicht eingetreten werden. Der Kostenspruch beruht auf der Anwendung kantonalen Prozessrechts, die im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren nicht überprüft werden kann (Art. 269 und 273 Abs. 1 lit. b BStP). Vorbehalten bleibt eine Neuregelung der Kosten gemäss Ausgang des Verfahrens.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise dahin gutgeheissen, dass das Urteil der II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 28. Oktober 1977 gemäss Art. 277 BStP aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Dispositiv

Referenzen

BGE: 85 IV 5, 95 II 511, 90 IV 171, 95 II 512

Artikel: Art. 32, 220 StGB, Art. 2 ZGB, Art. 8 EMRK, Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP mehr...