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Urteilskopf

117 II 452


84. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. September 1991 i.S. Kurt und Christine H. gegen Flora W. (Berufung)

Regeste

Missbräuchlichkeit einer Mietzinserhöhung.
1. Übergangsrecht zu Art. 9 Abs. 2bis VMM. Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes bei der Auslegung und Anwendung übergangsrechtlicher Bestimmungen (E. 3).
2. Die sogenannten absoluten Mietzinserhöhungsgründe - ungenügende Rendite, Anpassung an die Ortsüblichkeit - können in einem laufenden Mietverhältnis nur insoweit angerufen werden, als sich die Verhältnisse seit der letzten Mietzinsfestsetzung verändert haben (E. 4).
3. Bindung des Vermieters an die Erhöhungsgründe, die er dem Mieter in der Begründung der Mietzinserhöhung angegeben hat (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 453

BGE 117 II 452 S. 453

A.- Kurt und Christine H. sind seit 1976 Mieter einer 5 1/2-Zimmer-Wohnung mit zugehöriger Garage in Belp. Vermieterin ist Flora W. Der Nettomietzins betrug ursprünglich Fr. 660.-- (einschliesslich Garage) monatlich. Seither erfolgten verschiedene Mietzinsaufschläge gestützt auf Kostensteigerungen und auf die Kaufkraftsicherung des risikotragenden Kapitals. Auf den 1. November 1988 erhöhte sodann die Vermieterin den Mietzins zufolge wertvermehrender Investitionen sowie Anpassung an die Ortsüblichkeit auf Fr. 1'080.-- für die Wohnung und Fr. 75.-- für die Garage. Am 7. Juli 1989 zeigte die Vermieterin den Mietern unter Berufung auf eine Hypothekarzinserhöhung von 5% auf 6%, auf die Teuerung von Mai 1988 bis April 1989 sowie auf allgemeine Kostensteigerungen im selben Zeitraum eine weitere Erhöhung des Mietzinses an, wonach dieser mit Wirkung auf den 1. November 1989 Fr. 1'250.-- für die Wohnung und Fr. 87.-- für die Garage betragen sollte.

B.- Nachdem Kurt und Christine H. Einsprache erhoben hatten und im Schlichtungsverfahren keine Einigung zustandegekommen war, klagte Flora W. beim Richteramt Seftigen auf Feststellung der Nichtmissbräuchlichkeit der Erhöhung. Mit Entscheid vom 3. Januar 1991 wies der Gerichtspräsident von Seftigen die Klage ab und erklärte die Mietzinserhöhung von Fr. 1'080.-- auf Fr. 1'250.-- zuzüglich Nebenkosten für die 5 1/2-Zimmer-Wohnung der Beklagten und die Mietzinserhöhung für die Garage von Fr. 75.-- auf Fr. 87.-- per 1. November 1989 als nichtig.
Auf Appellation der Klägerin bestätigte der Appellationshof des Kantons Bern diesen Entscheid am 22. März 1991.

C.- Das Bundesgericht weist die von der Klägerin eingelegte Berufung ab und bestätigt das Urteil des Appellationshofs.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Die Beklagten machen geltend, da frühere Hypothekarzinssenkungen nicht zu entsprechenden Mietzinsreduktionen geführt hätten, sei es gemäss Art. 9 Abs. 2bis VMM nicht zulässig, die Mietzinserhöhung auf den 1. November 1989 mit der Erhöhung des Hypothekarzinses von 5% auf 6% zu begründen. Der Appellationshof hat diesen Standpunkt geschützt.
Die Klägerin bestreitet nicht, dass frühere Hypothekarzinssenkungen nicht an die Mieter weitergegeben worden sind. Sie wendet jedoch einerseits ein, der am 18. September 1989 in Kraft getretene
BGE 117 II 452 S. 454
Art. 9 Abs. 2bis VMM sei auf den vorliegenden Fall noch nicht anwendbar (E. 3 hienach). Zum andern macht sie geltend, die letzte Mietzinserhöhung, welche die Mieter nicht angefochten hätten, sei zur Anpassung an die Orts- und Quartierüblichkeit erfolgt; damit sei sämtlichen Einwänden bezüglich früherer Kostenveränderungen die Grundlage entzogen; Ausgangspunkt für künftige Mietzinsanpassungen sei der festgelegte ortsübliche Mietzins, und zu berücksichtigen seien einzig seither eingetretene Veränderungen (E. 4 hienach). Schliesslich hält die Klägerin die streitige Mietzinserhöhung auch deshalb für zulässig, weil sie nicht zu einem übersetzten Nettoertrag führe (E. 5 hienach).

3. Nach der Verordnung des Bundesrates über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen vom 18. September 1989 (AS 1989, S. 1856) trat die Vorschrift von Art. 9 Abs. 2bis VMM gleichentags in Kraft und galt für Mietverhältnisse, die ab diesem Datum geändert wurden. Der Appellationshof legt diese Übergangsbestimmung dahin aus, dass Art. 9 Abs. 2bis VMM auf Mietzinserhöhungen anwendbar sei, die mit Wirkung auf einen Zeitpunkt nach dem 18. September 1989 mitgeteilt worden seien. Zur Begründung seiner Auffassung verweist er dabei insbesondere auf die entsprechende Regelung von Art. 26 Abs. 1 der Verordnung vom 9. Mai 1990 über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen (VMWG, SR 221.213.11), die nicht nur das heute gültige Übergangsrecht, sondern gleichzeitig die einzig vernünftige Interpretation der Übergangsbestimmung der Verordnung vom 18. September 1989 darstelle. Ferner beruft sich der Appellationshof auf Art. 3 SchlT ZGB, wonach zwingende Vorschriften des neuen Rechts auch auf bereits früher entstandene Rechtsverhältnisse Anwendung fänden.
Dem hält die Klägerin entgegen, das Bundesgericht führe in einem Entscheid vom 12. Dezember 1990 (MP 1/1991, S. 10 ff.) aus, die Meinung, neu in Kraft getretenes zwingendes Recht sei unbesehen sofort anwendbar, könne nicht richtig sein. Das Bundesgericht weise in diesem Zusammenhang insbesondere auf den Vertrauensgrundsatz hin. Diesen aber habe der Appellationshof im vorliegenden Fall durch die Anwendung von Art. 9 Abs. 2bis VMM verletzt. Das Anfechtungsverfahren sei im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bereits hängig gewesen. Die Auffassung der Vorinstanz bedeute daher, dass eine bei Einleitung des Verfahrens zulässige Mietzinserhöhung durch während des Verfahrens eingetretene Gesetzesänderung plötzlich missbräuchlich
BGE 117 II 452 S. 455
werden könne. Das vertrage sich mit dem Vertrauensgrundsatz nicht. Mit der Mitteilung der Mietzinserhöhung sei der rechtserhebliche Sachverhalt abgeschlossen. Eine spätere Verordnungsänderung müsse ohne Einfluss bleiben.
a) Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Richtig ist zwar, dass bei der Auslegung und Anwendung übergangsrechtlicher Vorschriften, wie das Bundesgericht im vom Kläger angeführten Entscheid unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung erkannt hat (MP 1/1991, S. 14 E. d), der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes eine massgebliche Rolle spielt. Das Gesetzesvertrauen geniesst jedoch keinen absoluten Schutz, sondern hat gegebenenfalls vor einem überwiegenden öffentlichen Interesse am sofortigen oder rückwirkenden Inkrafttreten der neuen Ordnung zu weichen (WEBER-DÜRLER, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 290 f.). Dieser Gedanke liegt auch Art. 2 Abs. 1 SchlT ZGB zugrunde, wonach Bestimmungen, die um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt werden, grundsätzlich sofort anwendbar sind. Handelt es sich bei den neuen Vorschriften um zwingendes Recht, so ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an ihrer sofortigen Wirksamkeit zwar nicht durchwegs (MP 1/1991, S. 14 E. d), aber doch in aller Regel zu bejahen (VISCHER, Die allgemeinen Bestimmungen des schweizerischen intertemporalen Privatrechts, Diss. Zürich 1986, S. 97 f.). Das gilt selbst dann, wenn keine besondere zeitliche Dringlichkeit vorliegt. Stellt der Gesetz- oder Verordnungsgeber durch die Änderung einer Regelung fest, dass ein Bedürfnis für eine Neuordnung besteht, so liegt es grundsätzlich im öffentlichen Interesse, diese Neuordnung möglichst bald zu verwirklichen (BGE 106 Ia 260 E. 4b).
Aus dem Anspruch auf Vertrauensschutz lässt sich daher entgegen dem, was die Klägerin anzunehmen scheint, insbesondere auch kein allgemeiner Grundsatz ableiten, wonach Gesetzesänderungen, die erst im Verlaufe des Verfahrens eintreten, generell ausser Betracht zu bleiben hätten. Ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an seiner sofortigen Anwendbarkeit gegeben, so ist das neue Recht vielmehr auch auf Verfahren anzuwenden, die bei Inkrafttreten des neuen Erlasses bereits hängig, aber noch nicht abgeschlossen sind (BGE 107 Ib 86 E. 4a mit Hinweisen).
b) Im Lichte dieser Kriterien ist die Auffassung der Vorinstanz, Art. 9 Abs. 2bis VMM sei auf den vorliegenden Fall anwendbar, nicht zu beanstanden. Denn einerseits ist diese Vorschrift, wie der
BGE 117 II 452 S. 456
Appellationshof zutreffend festhält, zwingender Natur und dient, indem sie Missbräuchen im Wohnungswesen entgegentreten soll, nach ihrer Zweckbestimmung der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit. Anderseits ist für die Interessenabwägung von Bedeutung, dass schon das frühere Recht den Vermieter grundsätzlich verpflichtete, bei Hypothekarzinssenkungen den Mietzins zu reduzieren (Art. 9 Abs. 4 VMM). Hat es der Mieter unterlassen, seinen Herabsetzungsanspruch auf dem Wege eines Mietzinsherabsetzungsbegehrens (Art. 19 BMM) oder der Anfechtung einer Mietzinserhöhung (Art. 18 BMM) durchzusetzen, so erscheint das Vertrauen des Vermieters darauf, dass der Mieter damit diesen Anspruch endgültig verwirkt habe, zum vornherein nicht schutzwürdig. Ein Vertrauensschutz würde diesfalls lediglich darauf hinauslaufen, dem Vermieter zu ermöglichen, weiterhin ungestört von der seinerzeitigen Gutmütigkeit des Mieters zu profitieren.

4. Dem Argument der Klägerin, eine auf Anpassung an die Ortsüblichkeit beruhende, unangefochten gebliebene Mietzinserhöhung schliesse Einwände aufgrund von Art. 9 Abs. 2bis VMM gegen frühere Mietzinserhöhungen aus, weil für künftige Mietzinsberechnungen einzig vom festgelegten ortsüblichen Mietzins auszugehen sei, halten die Beklagten entgegen, wenn diese Auffassung zuträfe, könnte der Vermieter mit einem Wechsel von der Kosten- zur Vergleichsmiete verhindern, dass das Verhältnis der früheren Mietzinsentwicklung zur Hypothekarzinsentwicklung überprüft werde, und auf diese Weise die zwingende Vorschrift von Art. 9 Abs. 2bis VMM faktisch unterlaufen. Zu prüfen ist mithin, inwieweit es zulässig ist, in einem bestehenden Mietverhältnis von der Kosten- zur Vergleichsmiete überzugehen, und welche Rechtswirkungen ein solcher Systemwechsel zeitigt.
a) Die gesetzliche Regelung zum missbräuchlichen Mietzins beruht auf verschiedenen Motiven, die zum Teil in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Missbrauchsgesetzgebung will einerseits verhindern, dass der Vermieter auf Kosten des Mieters eine übersetzte Rendite erwirtschaftet (Grundsatz der Kostenmiete). Dieser Gedanke liegt der Generalklausel von Art. 14 BMM sowie den Bestimmungen von Art. 15 Abs. 1 lit. b, c und d BMM zugrunde. Auf der anderen Seite gilt aber ein Mietzins, der sich im Rahmen der orts- und quartierüblichen Mietzinse hält (Grundsatz der Vergleichs- oder Marktmiete, Art. 15 Abs. 1 lit. a BMM), selbst dann nicht als missbräuchlich, wenn damit der zulässige Ertrag überstiegen wird (BGE 112
BGE 117 II 452 S. 457
II 155). Im weiteren will die Missbrauchsgesetzgebung auch dem Grundsatz von Treu und Glauben Rechnung tragen. Soweit sich der Vermieter nicht bestimmte Erhöhungsgründe vorbehalten hat, geht sie deshalb davon aus, der bisherige Mietzins verschaffe dem Vermieter einen sowohl zulässigen wie auch genügenden Ertrag. Der Grundsatz von Treu und Glauben bildet mithin die Grundlage der sogenannten relativen Methode, wonach die Zulässigkeit einer Mietzinserhöhung ausgehend vom bisherigen Mietzins aufgrund der seit der letzten Mietzinsfestsetzung eingetretenen Veränderungen - Teuerung (Art. 15 Abs. 1 lit. d BMM), Kostensteigerung, wertvermehrende Investitionen (Art. 15 Abs. 1 lit. b BMM) - beurteilt wird (BGE 111 II 203 f. mit Hinweisen). Damit werden, wie ZIHLMANN (Das neue Mietrecht, S. 126 und 161; vgl. auch Appellationsgericht/BS, in MP 1990, S. 103) zutreffend ausführt, gleichzeitig auch der Anrufung von sogenannten absoluten Erhöhungsgründen - ungenügende Nettorendite (Art. 14 BMM), ungenügender Bruttoertrag einer neueren Baute (Art. 15 Abs. 1 lit. c BMM), Angleichung an die Ortsüblichkeit (Art. 15 Abs. 1 lit. a BMM) - in einem laufenden Mietverhältnis Schranken gesetzt. Der Vermieter kann diese Faktoren nur insoweit geltend machen, als sich die Verhältnisse seit der letzten Mietzinsfestsetzung verändert haben. Insofern werden die absoluten Erhöhungsgründe, wenn sie in einem laufenden Mietverhältnis angerufen werden, zu relativen, d.h. sie können nicht zu einer von Grund auf neuen Mietzinsfestlegung, sondern lediglich zu einer Anpassung des bisherigen Mietzinses aufgrund der in der Zwischenzeit eingetretenen Veränderungen führen.
b) Damit erweist sich die Argumentation der Klägerin als verfehlt. Ist die Angleichung des Mietzinses an die Ortsüblichkeit im Jahre 1988 nicht als Neufestlegung, sondern bloss als Anpassung des bisherigen Mietzinses aufzufassen, so steht einer Überprüfung der früheren Mietzinsentwicklung gestützt auf Art. 9 Abs. 2bis VMM nichts im Wege.

5. Der Vermieter ist an die Erhöhungsgründe, die er dem Mieter in der Begründung der Mietzinserhöhung angegeben hat, gebunden (BGE 106 II 168 E. 4a, 360 E. c). Diese Regel, die ebenfalls auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruht, schliesst ein Nachschieben weiterer Erhöhungsgründe im Anfechtungsverfahren aus. Im vorliegenden Fall ist dem vorinstanzlichen Urteil nicht zu entnehmen, dass die Klägerin die streitige Mietzinserhöhung ebenfalls mit der Erreichung einer angemessenen Nettorendite
BGE 117 II 452 S. 458
begründet hätte. Ihr Einwand, die Mietzinserhöhung führe nicht zu einem übersetzten Ertrag, hat daher ausser Betracht zu bleiben.
Daran vermag auch BGE 116 II 594 ff. nichts zu ändern. Im dort beurteilten Fall hatte der Vermieter die Mietzinserhöhung damit begründet, der Ertrag sei ungenügend. Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen war daher die Zulässigkeit der Erhöhung nicht nur aufgrund von Art. 15 Abs. 1 lit. c BMM, den der Vermieter ausdrücklich angerufen hatte, sondern auch aufgrund von Art. 14 BMM zu prüfen. Im vorliegenden Fall verhält es sich indessen anders, hat doch die Klägerin nach den verbindlichen Feststellungen der kantonalen Instanzen zur Begründung der Mietzinserhöhung lediglich die Hypothekarzinserhöhung, die Teuerung und die allgemeine Kostensteigerung angeführt.
Im übrigen hätte die Klägerin den Erhöhungsgrund von Art. 14 BMM nach dem Gesagten (E. 4a hievor) ohnehin nur insoweit geltend machen können, als sich die Ertragssituation seit der letzten Mietzinsfestsetzung verändert hatte. Dass solche Veränderungen eingetreten seien, behauptet sie indessen selbst nicht.

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Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4 5

Referenzen

BGE: 106 IA 260, 107 IB 86, 111 II 203, 106 II 168 mehr...

Artikel: Art. 9 Abs. 2bis VMM, Art. 14 BMM, Art. 15 Abs. 1 lit. a BMM, Art. 15 Abs. 1 lit. c BMM mehr...