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Urteilskopf

85 II 344


55. Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Juni 1959 i.S. Waadtländische Versicherung auf Gegenseitigkeit gegen Lehmann.

Regeste

Einzel- Unfallversicherung.
a) Begriff des Unfalls gemäss AVB: Einspritzung eines falschen Kontrastmittels in zu starker Dosis bei Myelographie mit Todesfolge ist ein "vom Willen des Verletzten unabhängiges Ereignis" und daher ein Unfall.
b) Die Myelographie ist (trotz Einspritzung eines Kontrastmittels in den Rückenmarkskanal) keine Operation im Sinne des Sprachgebrauchs.

Sachverhalt ab Seite 344

BGE 85 II 344 S. 344

A.- Robert Lehmann, der an Ischiasschmerzen litt, wurde am 7. November 1955 von seinem Hausarzt wegen Verdachts einer Diskushernie in das Kantonsspital Aarau eingewiesen. Zur genauen Untersuchung der Wirbelsäule wurde eine Myelographie (Röntgenaufnahme des Rückenmarkes) angeordnet, bei der folgendermassen vorgegangen wird: Zuerst erhält der Patient eine Lokalanästhesie mit Novokain in die Haut. Darauf wird mittelst einer metallenen
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Hohlnadel der Rückenmarkskanal angestochen und ca. 15 cm3 Flüssigkeit abgelassen. Dann wird eine Lumbalanästhesie in den Rückenmarkskanal verabreicht. Nach ca. 10 Minuten wird als Kontrastmittel 10 cm3 des 20%igen Jodpräparats Abrodil eingeführt, worauf die notwendigen 5 Röntgenaufnahmen in verschiedenen Strahlenrichtungen gemacht werden.
Bei der Untersuchung Lehmanns am 8. November 1955 kam eine Verwechslung vor, indem die Narkoseschwester dem Arzt eine Spritze reichte, die statt 10 cm3 Abrodil 20 cm3 des 50% igen Jodpräparats Uroselectan enthielt, das für eine andere Untersuchung ebenfalls bereitstand und nur intravenös verwendet werden darf. Der Arzt kontrollierte die Ampulle nicht und applizierte die ihm gereichte Spritze. Der Irrtum wurde unmittelbar nach der Einspritzung entdeckt. Wenige Minuten nach erfolgter Röntgenaufnahme erlitt Lehmann einen schweren Herzkollaps. Eine sofort vorgenommene Thorakotomie und Herzmassage brachte das Herz wieder zum Schlagen. Nach anfänglicher Besserung verschlimmerte sich der Zustand Lehmanns, und 16 Tage später (am 24. November 1955) starb er. Es ist unbestritten und festgestellt, dass der Tod ausschliesslich auf die Verwendung des falschen Kontrastmittels zurückzuführen ist.
In einem Strafverfahren wurden der Assistenzarzt und die Krankenschwester, welchen die Verwechslung unterlaufen war, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

B.- Lehmann war bei der Waadtländischen Versicherung auf Gegenseitigkeit gemäss Einzel-Unfallversicherung (Police Nr. 602 422) gegen Unfall versichert, für den Todesfall mit Fr. 10'000.--; begünstigt ist die Ehefrau. Diese erhob auf die Versicherungssumme Anspruch. Die "Waadtländische" lehnte eine Zahlung ab, da kein Unfall im Sinne des Art. 2 Abs. 1 ihrer allgemeinen Bedingungen vorliege, lautend:
"Als Unfälle werden nur von aussen wirkende, heftige, plötz liche und vom Willen des Verletzten unabhängige Ereignisse angesehen, die ihm eine nachweisbare Körperverletzung verursachen."
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Die Umstände, die zum Tode Lehmanns führten, könnten nicht als "heftiges, plötzliches Ereignis" angesprochen werden. Namentlich fehle das Moment der Unfreiwilligkeit; denn Lehmann habe sich mit Wissen und Willen dem Eingriff der Myelographie-Vorbereitungen unterzogen und damit auch die möglichen schweren Folgen des Eingriffs auf sich genommen. An der Freiwilligkeit des Eingriffs vermöge auch das teilweise Versagen der ausführenden Personen nichts zu ändern.
Übrigens sei der Ausschlussgrund der Operation gemäss AVB Art. 3 lit. c gegeben ("... die Folgen von Operationen, welche nicht durch einen entschädigungsberechtigten Unfall notwendig wurden."). Der operative Charakter der Myelographie ergebe sich schon daraus, dass sie nicht von der medizinischen, sondern von der chirurgischen Abteilung des Kantonsspitals vorgenommen werde. Daran ändere nichts, dass die Myelographie diagnostischen Zwecken diene; sie habe diese Zweckbestimmung mit vielen andern operativen Eingriffen gemeinsam. Sie sei erfahrungsgemäss mit den typischen Operationsrisiken (Herzstörung, Kollaps, Atmungsinsuffizienz, Lähmungen und Todesgefahr) verbunden, welche selbst bei korrekter Durchführung entstehen und die Art. 3 lit. c der AVB gerade ausschliesse.

C.- Das von den Parteien direkt angerufene Obergericht des Kantons Aargau hat, nach Durchführung eines Beweisverfahrens, mit Urteil vom 20. Februar 1959 den Versicherungsfall bejaht und die Klage im vollen Betrag nebst 5% Zins seit 25. November 1955 gutgeheissen.

D.- Mit der vorliegenden Berufung hält der beklagte Versicherer an seinen Einreden (Operation; kein Unfall) und dem Antrag auf Abweisung der Klage fest.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der geltend gemachte Anspruch stützt sich auf eine Einzel-Unfallversicherung. Für den Umfang der Versicherung gelten daher die wiedergegebene Umschreibung des Unfallbegriffs sowie die Ausschlussklauseln der
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der Police beigehefteten Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Der Kausalzusammenhang zwischen der Verwendung des unrichtigen Kontrastmittels in zu hoher Dosierung und dem Tode ist durch die Vorinstanz auf Grund des Befundes des Experten Dr. Vetter bejaht worden; da die Kausalität tatsächlicher Natur ist, liegt hierin eine für das Bundesgericht verbindliche Feststellung, die vor ihm nicht mehr angefochten werden kann.
a) Dass bei der Todesursache ein "von aussen wirkendes, heftiges und plötzliches Ereignis" vorliegt, liegt auf der Hand und wird auch von der Berufungsklägerin nicht mehr bestritten. Dagegen vertritt diese den Standpunkt, es handle sich nicht um ein "vom Willen des Verletzten unabhängiges Ereignis". Lehmann habe sich mit Wissen und Willen dem Eingriff unterzogen und damit auch die Risiken übernommen, welche mit diesem Auftrag an den Arzt bzw. das Spital verbunden gewesen seien; ohne die ausdrückliche Zustimmung des Patienten hätte sein Körper nicht geöffnet und der Rückenmarkskanal nicht angestochen werden können.
Dieser Auffassung gegenüber hat jedoch die Vorinstanz mit Recht ausgeführt, dass die Einspritzung eines falschen Kontrastmittels völlig ausserhalb der einem Spitalaufenthalt normalerweise inhärenten Risiken liege. Lehmann hat dieses Risiko nie in Kauf genommen, sondern wollte sich einer sachgemäss durchzuführenden Myelographie unterziehen und war bereit, die normalen Risiken, die mit diesem Eingriff an sich allerdings auch verbunden sind, auf sich zu nehmen. Er war aber keinesfalls gewillt, auch die Folgen der Verwendung eines falschen Mittels in zu hoher Dosis, das in dieser Anwendung nicht nur speziell für ihn, sondern für jeden Patienten tödliche Gefahren in sich birgt, in Kauf zu nehmen. Zur Eingehung eines so hohen Risikos nötigte ihn der Zweck des Eingriffs, nämlich die Diagnostizierung einer allfälligen, keinesfalls lebensgefährlichen Diskushernie nicht. Wie die Vorinstanz zutreffend sagt, trägt der ganze Vorgang so sehr den
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Stempel des Aussergewöhnlichen, dass die Einwirkung als Unfallereignis anerkannt werden muss. Mit einer derart groben und ausserordentlichen Verwechslung braucht ein Patient, der zur Untersuchung in das Spital eintritt, nicht zu rechnen.
Diese Auffassung des Begriffs der "Unfreiwilligkeit" des Ereignisses entspricht sowohl der Doktrin als der Praxis (vgl. ROSENSTIEL, "Der Unfallbegriff", in Schweiz. Juristische Kartothek, Karte 717 S. 4 ff. und dort zit. Literatur und Judikatur). Eine derartige aussergewöhnliche, für den Tod kausale Fehlleistung würde, selbst wenn im Rahmen einer Operation vorgekommen, welche an sich mitsamt ihren möglichen Folgen von der Unfallversicherung ausgeschlossen ist, einen Unfall für sich darstellen und unter die Versicherung fallen, wie z.B. eine nicht beabsichtigte Verletzung durch ungeschickte Handhabung eines Instrumentes oder Verabreichung von Kohlensäure statt Sauerstoff bei einer Operation (vgl. a.a.O.; MAURER, Recht und Praxis der schweiz. oblig. Unfallversicherung, S. 102).
b) Die zweite Einrede der Berufungsklägerin geht dahin, es handle sich bei dem vorgenommenen Eingriff um eine Operation. Nach Art. 3 lit. c der AVB sind von der Versicherung ausgeschlossen die Folgen von Operationen, sofern diese nicht durch einen entschädigungsberechtigten Unfall notwendig wurden. Letzteres sei nicht der Fall gewesen; vielmehr habe Lehmann sich freiwillig dem riskanten Eingriff der Myelographie unterzogen, die eine eigentliche Operation darstelle und erhebliche Gefahren in sich schliesse.
Dem Begriff "Operation", für den die AVB, im Gegensatz zu dem des Unfalls, keine Definition geben, darf nach herrschender Auffassung nicht ein spezifisch versicherungstechnischer Sinn unterlegt werden, ohne dass dies ausdrücklich in der Police gesagt wäre. Vielmehr müssen Begriffe, die in der Umgangssprache einen bestimmten Sinn haben, bei der Auslegung der Police in diesem Sinne
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verwendet werden (ROELLI, Komm. zu Art. 11 N. 7, Art. 33 N. 6 S. 392). Nach allgemeinem Sprachgebrauch versteht man unter einer Operation einen chirurgischen Eingriff zwecks Änderung oder Beseitigung eines bestehenden Zustandes im Sinn einer therapeutischen Massnahme (z.B. Herausschneiden des entzündeten Wurmfortsatzes, Zunähen des Bruchsackes bei Hernie, etc.). Als Operation im medizinischen Sinne kann nur ein Eingriff gelten, der eine Heilung unmittelbar herbeiführen oder vorbereiten soll. Die Operation selbst muss also den Gesundheitszustand des Patienten zu bessern bestimmt sein.
Im vorliegenden Falle war dies nicht der Zweck des Eingriffs. Vielmehr sollte die Myelographie lediglich abklären, ob eine Diskushernie vorliege oder nicht. Sie stellte also eine blosse Untersuchungsmassnahme dar, die der Diagnose diente, mag die Technik dieser Massnahme auch insofern operationsähnlichen Charakter aufweisen, als sie einen Einstich in den Rückenmarkskanal, also eine Verletzung der körperlichen Integrität des Patienten erfordert. Die Untersuchungsmassnahme soll zwar die Bestimmung der richtigen Therapie ermöglichen, ist aber selber noch kein Bestandteil derselben. Als Lehmann sich zur Vornahme der Myelographie ins Kantonsspital begab, hat zweifellos niemand weder ihm noch seinen Angehörigen gesagt, dies geschehe, um sich "operieren zu lassen". Übrigens wird von der Verabreichung von Einspritzungen auch zu therapeutischen Zwecken in grossem Umfange Gebrauch gemacht, ohne dass es jemandem einfiele, dabei von Operationen zu reden, obwohl ebenfalls der bisher intakte Körper mit einem Einstich verletzt wird.
Im übrigen stellt die Vorinstanz auf Grund der Beweisaufnahme fest, dass die Myelographie bei richtiger Ausführung gefahrlos ist.
Wenn nun der Versicherungsvertrag mit seiner Klausel über den Ausschluss des Risikos nicht unfallbedingter Operationen auch derartige Eingriffe zu Untersuchungszwecken von der Haftung ausschliessen wollte, so hätte
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dies in der Police oder in den AVB klar und unzweideutig gesagt, also der landläufige Begriff der "Operation" in diesem Sinn erweitert umschrieben werden müssen. Da die Beklagte dies nicht getan hat und daher zum mindesten eine Unklarheit über den verwendeten Begriff der Operation in der Ausschlussklausel besteht, kann sie nach der allgemeinen Regel über die Auslegung von Versicherungsverträgen im vorliegenden Falle diese Klausel nicht anrufen.
Übrigens wäre, wie die Vorinstanz zutreffend andeutet, selbst dann, wenn man es wirklich mit einer Operation zu tun hätte, immer noch zu untersuchen, ob ein bei Vornahme einer solchen eingetretener Unfall von der Deckung ausgeschlossen sein soll. Lehmann ist nicht an den Folgen eines lege artis durchgeführten Eingriffs gestorben; vielmehr ist sein Tod auf einen so schweren Kunstfehler zurückzuführen, dass dieser an sich als Unfall qualifiziert werden muss.

2. ..............

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, II. Abteilung, vom 20. Februar 1959 bestätigt.