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Urteilskopf

119 V 51


8. Auszug aus dem Urteil vom 8. Januar 1993 i.S. A. gegen Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Abteilung Arbeitslosenversicherung, Zürich und Rekurskommission für die Arbeitslosenversicherung des Kantons Zürich

Regeste

Art. 14 Abs. 2 AVIG: Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit.
- Ausführungen zum Begriff "aus ähnlichen Gründen" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG. Der Konkurs des Ehegatten stellt grundsätzlich einen solchen "ähnlichen Grund" dar (E. 3a).
- Ein strikter Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne darf nicht verlangt werden; vielmehr ist der erforderliche Kausalzusammenhang bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss des Versicherten zur Aufnahme oder Erweiterung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Konkurs seines Ehepartners begründet liegt (E. 3b).

Erwägungen ab Seite 52

BGE 119 V 51 S. 52
Aus den Erwägungen:

1. a) Eine der gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besteht darin, dass der Versicherte die Beitragszeit erfüllt hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist (Art. 8 Abs. 1 lit. e in Verbindung mit Art. 13 und 14 AVIG).
Gemäss Art. 13 Abs. 1 AVIG hat die Beitragszeit erfüllt, wer innerhalb der Rahmenfrist während mindestens sechs Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat; in bestimmten Fällen werden dabei auch Zeitabschnitte ohne Beschäftigung angerechnet (vgl. Art. 13 Abs. 2 AVIG). Die Rahmenfrist für die Beitragszeit beginnt zwei Jahre vor dem ersten Tag, für den sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 AVIG).
b) Von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist hingegen nach Art. 14 Abs. 1 AVIG, wer innerhalb der Rahmenfrist während insgesamt mehr als zwölf Monaten aus einem der angeführten Gründe nicht in einem Arbeitsverhältnis stand und deshalb die Beitragszeit nicht erfüllen konnte, wobei als Befreiungsgründe in Betracht fallen: Schulausbildung, Umschulung oder Weiterbildung (lit. a), Krankheit, Unfall oder Mutterschaft (lit. b) und Aufenthalt in einer Haft-, Arbeitserziehungs- oder in einer ähnlichen Anstalt (lit. c).
Diese Befreiungstatbestände werden ergänzt durch diejenigen einer weiteren Kategorie. So bestimmt Art. 14 Abs. 2 AVIG, dass "Personen, die wegen Trennung oder Scheidung ihrer Ehe, wegen Invalidität oder Todes des Ehegatten oder aus ähnlichen Gründen oder wegen Wegfalls einer Invalidenrente gezwungen sind, eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern", ebenfalls von der Erfüllung der Beitragszeit befreit sind; diese Regel gilt nicht, wenn das betreffende Ereignis mehr als ein Jahr zurückliegt.
BGE 119 V 51 S. 53
Schliesslich sehen Art. 14 Abs. 3 AVIG und Art. 13 Abs. 2 AVIV eine dritte Kategorie von Befreiungsgründen vor (Rückkehr von Auslandschweizern und in der Schweiz niedergelassener Ausländer).

2. a) Im vorliegenden Verfahren ist zu Recht nicht mehr streitig, dass sich die Beschwerdeführerin L. A. hinsichtlich der massgeblichen zweijährigen Rahmenfrist vor der ersten Stempelkontrolle vom 2. August 1991 nicht über eine beitragspflichtige Beschäftigung von mindestens sechs Monaten Dauer auszuweisen vermag. Ihre Arbeitnehmertätigkeit für die Reinigungsfirma S. vom 22. Februar bis 31. Juli 1991 dauerte nur fünf Monate und sieben Tage (vgl. Art. 11 Abs. 1 und 2 AVIV), womit das gesetzliche Minimalerfordernis für die Erfüllung der Beitragszeit gemäss Art. 13 Abs. 1 AVIG unterschritten wird.
Die Anrechnung von gleichgestellten Zeiten im Sinne von Art. 13 Abs. 2 lit. d AVIG fällt ausser Betracht, setzt doch der bei der Auslegung in erster Linie zu beachtende Wortlaut dieser Bestimmung "Arbeitsunterbrüche" wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft und damit ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus. An einem solchen mangelte es indessen vorliegend, da laut den Angaben der Beschwerdeführerin nach der Wiedereinreise in die Schweiz (am 16. Oktober 1990) zufolge mehrerer schwerer Operationen und der einsetzenden Schwangerschaftskomplikationen an eine Arbeitsaufnahme nicht zu denken war.
b) Weiter stellt sich im Rahmen der Befreiungstatbestände der ersten Kategorie gemäss Art. 14 Abs. 1 AVIG - welche im übrigen von der Anrechnung der den Beitragszeiten gleichgestellten Zeitabschnitte nach Art. 13 Abs. 2 AVIG streng zu unterscheiden sind - die Frage, ob die Beschwerdeführerin innerhalb der bereits erwähnten zweijährigen Rahmenfrist vor dem 2. August 1991 während insgesamt mehr als zwölf Monaten wegen Krankheit, Unfall oder Mutterschaft (lit. b) nicht in einem Arbeitsverhältnis stand und deshalb die Beitragszeit nicht erfüllen konnte. Dieser Befreiungsgrund ist nicht gegeben, da die Versicherte vor ihrer Wiedereinreise in die Schweiz, Mitte Oktober 1990, nicht etwa aus gesundheitlichen Gründen oder wegen ihrer Schwangerschaft die Beitragszeit nicht zu erfüllen vermochte, sondern primär mangels einer grundsätzlichen Beitragspflicht gegenüber der schweizerischen Arbeitslosenversicherung (Art. 2 Abs. 1 lit. a AVIG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 AHVG).
Die Beschwerdeführerin wurde erst durch ihre Heirat mit A. A. am 17. August 1990 Schweizer Bürgerin; zuvor war sie auch nicht
BGE 119 V 51 S. 54
im Besitz der Niederlassungsbewilligung für Ausländer. Der Befreiungsgrund der Rückkehr von Auslandschweizern oder niedergelassenen Ausländern in die Schweiz nach über einjährigem Auslandaufenthalt (Art. 14 Abs. 3 AVIG, Art. 13 Abs. 2 AVIV) fällt demnach ebenfalls ausser Betracht.
Im folgenden bleibt somit einzig näher zu prüfen, ob ein Befreiungsgrund der zweiten Kategorie nach Art. 14 Abs. 2 AVIG vorliegt.

3. a) Hier fragt sich zunächst in grundsätzlicher Hinsicht, inwieweit ein Konkurs des Ehegatten unter dem Blickwinkel von Art. 14 Abs. 2 AVIG als ähnlicher Grund gelten kann, zufolge dessen ein verheirateter Versicherter zur Aufnahme oder Erweiterung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit gezwungen wird.
Die Formel "aus ähnlichen Gründen" stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, welcher vom Gesetzgeber bewusst nicht näher umschrieben wurde, um die Vorschrift entsprechend der Vielfalt des Lebens flexibel handhaben zu können (ARV 1987 Nr. 5 S. 69 f. mit Hinweis auf die bundesrätliche Botschaft). Der Wortlaut gibt über die Bedeutung dieses Rechtsbegriffs nur insofern Aufschluss, als das Gesetz einen Grund verlangt, welcher ähnlich ist, also sachlich auf der gleichen Ebene liegt wie die vorab einzeln umschriebenen, aber nicht abschliessend aufgezählten Motive für die Arbeitsaufnahme. Diesbezüglich erwähnt die fragliche Bestimmung die Trennung oder Scheidung der Ehe, die Invalidität und den Tod des Ehegatten oder den Wegfall einer Invalidenrente. Allen diesen Befreiungsgründen ist gemeinsam, dass sie den unmittelbar Betroffenen oder dessen Ehepartner regelmässig in eine wirtschaftliche Zwangslage bringen. Dass Trennung oder Scheidung der Ehe eine Person (in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch immer überwiegend die Frau) zur Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit zwingen kann, steht ausser Frage. Dieselben Überlegungen gelten auch für den Fall der Invalidität (also Erwerbsunfähigkeit) oder des Todes des Ehegatten, d.h. bei Eintritt eines Versorgerschadens. Der Konkurs des Ehepartners zeitigt durchaus vergleichbare Folgen. Aufgrund der weitgehenden Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz ist ein Konkursit nur noch in beschränktem Umfange in der Lage, für sich und seine Angehörigen zu sorgen, weshalb sich der Ehegatte - ebenso wie bei den im Gesetz ausdrücklich erwähnten Befreiungstatbeständen - häufig veranlasst sieht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um die finanzielle Bedrängnis zu überwinden oder wenigstens zu mildern. Unter diesen systematischen und teleologischen Gesichtspunkten,
BGE 119 V 51 S. 55
welche dem Wortsinn des auszulegenden unbestimmten Rechtsbegriffs gerecht werden, ist der Konkurs des Ehepartners als "ähnlicher Grund" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG anzuerkennen.
b) Eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit nach Art. 14 Abs. 2 AVIG ist jedoch generell nur möglich, wenn zwischen dem geltend gemachten Grund und der Notwendigkeit einer Aufnahme oder Erweiterung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ein Kausalzusammenhang gegeben ist (ARV 1987 Nr. 5 S. 70). Wie bei den im Gesetz ausdrücklich genannten Befreiungsgründen ist indes auch im Hinblick auf den Konkurs des Ehegatten kein strikter Kausalitätsnachweis im naturwissenschaftlichen Sinne zu verlangen. Ein solcher könnte kaum je erbracht werden, sind doch die in diesem Zusammenhang bedeutsamen inneren Beweggründe einer Person für die Suche nach einer Arbeitnehmertätigkeit einer Beurteilung durch Drittpersonen weitgehend entzogen. Vernünftigerweise ist deshalb der erforderliche Kausalzusammenhang bereits zu bejahen, wenn es glaubwürdig und nachvollziehbar erscheint, dass der Entschluss des Versicherten, eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen, im Konkurs seines Ehepartners begründet liegt.
c) Die Rekurskommission hielt im angefochtenen Entscheid unter Hinweis auf die vorinstanzlich eingereichte Beschwerdeschrift fest, die Versicherte habe bereits nach ihrer ersten, im Januar 1990 erfolgten Einreise in die Schweiz eine geeignete Beschäftigung gesucht, was jedoch an der fehlenden Arbeitsbewilligung gescheitert sei. Aufgrund des Einwandes der Beschwerdeführerin, nach ihrer zweiten Einreise (am 16. Oktober 1990) habe sie wegen der verschiedenen Operationen sowie der schwierigen Schwangerschaft keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, schloss die Vorinstanz sodann, die Versicherte habe damals erneut Arbeit gesucht. Somit habe sie schon vor dem Konkurs ihres Ehemannes vom 17. Januar 1991 einer Arbeitnehmertätigkeit nachgehen wollen, weshalb vorliegend das Kausalitätserfordernis zwischen dem Konkurs und der am 22. Februar 1991 erfolgten Arbeitsaufnahme bei der Reinigungsfirma zu verneinen sei.
Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Dabei braucht nicht näher geprüft zu werden, ob die Beschwerdeführerin zwischen dem Zeitpunkt ihrer Wiedereinreise und dem Konkurs des Ehegatten tatsächlich eine Erwerbstätigkeit gesucht hat. Nach den insofern glaubwürdigen Angaben in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde traten in den letzten Monaten der Schwangerschaft Komplikationen auf; zudem verlief die Geburt der Tochter risikoreich.
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Ein solch einschneidendes, prägendes Erlebnis verbietet jedenfalls den Schluss, die bisherigen Beweggründe und Zielsetzungen im Hinblick auf die berufliche Entfaltung und Stellensuche hätten weiterhin ihre Bedeutung behalten. Vielmehr ist nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung anzunehmen, dass eine Frau nach Überstehen einer derart schwierigen Geburt nur dann bereits mit Ablauf eines Monats eine Stelle als Putzfrau antritt, wenn sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation hiezu gezwungen ist. Die finanziell prekären Verhältnisse sind durch die vorhandenen Akten ausgewiesen, mussten die Eheleute A. doch seitens der Fürsorgebehörde ihrer früheren Wohngemeinde unterstützt werden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist davon auszugehen, dass der Konkurs des Ehegatten für den Entschluss der Beschwerdeführerin, bereits im Anfangsstadium ihrer Mutterschaft eine körperlich anspruchsvolle Arbeit aufzunehmen, zumindest im Sinne einer Teilursache mitbestimmend war.

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Erwägungen 1 2 3

Referenzen

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