Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Urteilskopf

99 IV 140


28. Auszug aus dem Urteil vom 14. September 1973 i.S. W.S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen und C.S.

Regeste

Art. 143 Abs. 1 StGB, Sachentziehung.
1. Berechtigter an einer Sache kann nicht bloss ihr Eigentümer sein, sondern auch jeder andere, der daran unter irgendeinem Rechtstitel weniger umfassende dingliche Rechte, also z.B. Pfandrechte oder blossen Besitz hat (z.B. als Mieter, Pächter, Nutzniesser usw.) (Erw. 2 a).
2. Auch der Inhaber eines Namensparheftes geniesst den Schutz von Art. 143 StGB (Erw. 2 b).

Sachverhalt ab Seite 140

BGE 99 IV 140 S. 140

A.- Am 22. Juli 1968 fuhr Frau C.S. von ihrem Wohnort zu einem Kuraufenthalt nach B. Einen Tag später, am 23. Juli 1968, holte ihr Sohn W.S. den Wohnungsschlüssel seiner Mutter bei der im gleichen Hause wohnenden Familie M. und begab sich in die Wohnung von Frau S. Dem Schreibtisch entnahm er eine Dokumentenmappe und die Schlüssel zum Safe Nr. 419 der Schweizerischen Volksbank (SVB). Er ging zu dieser Bank und nahm aus dem erwähnten Schrankfach verschiedene Vermögenswerte und Dokumente, insbesondere zwei auf Frau S. lautende Namensparhefte, mehrere Obligationen, zwei Depotscheine und zwei Quittungen. Unmittelbar nach Wegnahme dieser Vermögenswerte und Dokumente traf er die ersten Verfügungen über diese.

B.- Mit Urteil vom 13./26. Mai 1971 sprach das Bezirksgericht St. Gallen (II. Abteilung) W.S. des vollendeten Nötigungsversuchs
BGE 99 IV 140 S. 141
schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 200.--.
Auf Berufung von W.S. und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen hin fand das Kantonsgericht St. Gallen (Strafkammer) mit Urteil vom 22.November 1972 W.S. der Sachentziehung gemäss Art. 143 StGB sowie des Nötigungsversuchs gemäss Art. 181 in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB schuldig. Dafür bestrafte es ihn mit 4 Wochen Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs auf eine Probezeit von 2 Jahren.

C.- W.S. führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen vom 22. November 1972 sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.- Der Kassationshof wies die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Gemäss Art. 143 StGB wird auf Antrag mit Gefängnis oder Busse bestraft, wer dem Berechtigten ohne Bereicherungsabsicht eine bewegliche Sache entzieht und ihn dadurch schädigt. Der Beschwerdeführer vertritt die Meinung, nur der Eigentümer einer Sache sei Berechtigter im Sinne dieser Bestimmung; nur dieser könne daher geschädigt werden. Da die Vermögenswerte und Dokumente, die der Beschwerdeführer dem Safe Nr. 419 der SVB entnommen habe, mit den Objekten identisch seien, welche ihm nach der zwischen ihm und seiner Mutter getroffenen Abmachung aus der Erbschaft seines verstorbenen Vaters zufallen sollten, sei er als Eigentümer allein an diesen Objekten berechtigt gewesen. Es könne daher keine Rede davon sein, dass er diese Objekte seiner Mutter unrechtmässig entzogen und diese dadurch geschädigt habe. Frau S. sei weder Eigentümerin noch sonst Berechtigte im Sinne von Art. 143 StGB an diesen Objekten gewesen.

2. Die rechtlichen Überlegungen des Beschwerdeführers halten jedoch vor Art. 143 StGB und der einschlägigen Rechtsprechung nicht stand.
a) Der Tatbestand der Sachentziehung setzt keine fremde bewegliche Sache als Deliktsobjekt voraus (P. NOLL, in: ZStR 1956 S. 169). Berechtigter an einer Sache im Sinne von Art. 143 StGB kann deshalb nicht bloss ihr Eigentümer sein, sondern auch jeder andere, der daran unter irgendeinem
BGE 99 IV 140 S. 142
Rechtstitel weniger umfassende dingliche Rechte (also z.B. Pfandrechte) oder blossen Besitz (z.B. als Mieter, Pächter, Verwahrer, Nutzniesser usw.) hat. Art. 143 StGB will nämlich nicht nur das Eigentum, sondern das Vermögen überhaupt schützen (BGE 96 IV 22 E. 1, HAFTER, bes. Teil, S. 223 Ziff. 3, THORMANN/OVERBECK, N 3 zu Art. 143 StGB, SCHWANDER, S. 346 Nr. 559, GERMANN, Handkommentar, 9. Auflage, S. 248). Sachentziehung kann daher auch an der eigenen Sache verübt werden, indem einem an dieser anderweitig Berechtigten der Besitz entzogen wird. Deshalb konnte das Kantonsgericht darauf verzichten, vorerst abzuklären, wer Eigentümer der vom Beschwerdeführer behändigten Objekte war. Es konnte sich damit begnügen festzustellen, dass der Mutter des Beschwerdeführers jedenfalls der Besitz an diesen Objekten zustand, als der Beschwerdeführer seine Tat verübte.
Frau S. war Mieterin des Safe Nr. 419 der SVB, das der Beschwerdeführer ausräumte. Zudem lauteten nach den kantonsgerichtlichen Feststellungen die beiden Sparhefte, die Depotscheine sowie die beiden Quittungen auf den Namen von Frau S. Auch die übrigen Objekte standen im Besitz von Frau S., weil diese in dem auf ihren Namen lautenden Safe Nr. 419 der SVB aufbewahrt wurden, zu dem sie allein den Schlüssel verwahrte. Der Beschwerdeführer hatte, wie die Vorinstanz feststellt, nicht die Befugnis, in Abwesenheit und ohne Wissen und Willen der Mutter den Safe (total) auszuräumen und sämtliche Vermögenswerte in seine Verfügungsgewalt zu bringen. Er wusste auch, dass er bei diesem Vorgehen nicht im Sinne der Mutter handelte. Dass er eigenmächtig vorgegangen sei, hat er selbst zugegeben. Damit hat er seiner Mutter die Sachen rechtswidrig entzogen. Das gilt auch für den - mit der Vorinstanz offen zu lassenden - Fall, dass der Beschwerdeführer, wie er behauptet, Eigentümer der im Safe Nr. 419 verwahrten Objekte gewesen sein sollte. Denn der Besitz an diesen Objekten blieb bis zu dessen rechtmässiger Aufhebung bestehen und konnte vom Beschwerdeführer nicht einseitig und eigenmächtig zerstört werden, indem dieser ohne Zustimmung der Frau S. und ohne rechtskräftige richterliche Ermächtigung die im Besitze seiner Mutter stehenden Objekte an sich nahm und hierauf teilweise in einen von seiner Ehefrau bzw. von ihm selbst gemieteten Safe legte, andere (Obligationen) verkaufte und den Erlös in einem neu eröffneten eigenen
BGE 99 IV 140 S. 143
Sparheft anlegte. Damit hat der Beschwerdeführer die Objekte, die er aus dem Schreibtisch und dem Safe Nr. 419 seiner Mutter an sich genommen hat, dieser im Sinne von Art. 143 StGB entzogen. Daran vermag auch die Vollmacht nichts zu ändern, die Frau S. dem Beschwerdeführer zum Safe Nr. 419 erteilt hatte. Sie ermächtigte ihn - jedenfalls zu Lebzeiten der Safe-Inhaberin - lediglich dazu, im Einverständnis und Interesse seiner Mutter über den Inhalt des Schrankfachs zu verfügen. Dies anerkennt er selbst, indem er nach den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen des Kantonsgerichtes (Art. 277bis Abs. 1 BStP) zugibt, er sei am 23. Juli 1968 eigenmächtig vorgegangen und habe über das Ziel hinausgeschossen.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe die Gegenstände nur zur Sicherung seines Anspruches aus der väterlichen Erbschaft an sich genommen und um diese vor unzulässigen Verfügungen seiner Mutter zu schützen. Sein väterlicher Erbteil sei nämlich für den Konkurs der Firma F. in Deutschland, an der er beteiligt war, "konkursverfangen" gewesen. Deshalb habe er, um sich nicht eines Konkursvergehens gemäss Art. 163/164 StGB schuldig zu machen, seine schweizerischen Aktiven sicherstellen müssen. Damit will er dartun, er habe die Sachen seiner Mutter nur vorübergehend zu Sicherungszwecken entziehen wollen. Dieser Einwand ist unbehelflich, denn auch der Sachentzug, der eine bloss vorübergehende Schädigung des Berechtigten zur Folge hat, ist nach Art. 143 StGB strafbar (HAFTER, bes. Teil, S. 223 Ziff. 2, BGE 96 IV 22 E. 1). Zudem stellte die Vorinstanz verbindlich fest, der Beschwerdeführer habe den Inhalt des Safes sicherstellen wollen, weil er befürchtete, von seiner Mutter enterbt zu werden. Anstatt gegen seine Mutter eine Eigentumsklage anzustrengen und für die Dauer des Prozesses vorsorgliche Massnahmen des Bezirksgerichtspräsidenten im Sinne von Art. 389 Ziff. 2 und 3 st. gallische ZPO (z.B. die Sperre des Safes Nr. 419 usw.) zu verlangen, griff er eigenmächtig zur Selbsthilfe. Gerade auch vor unerlaubter Selbsthilfe will Art. 143 StGB schützen (BGE 85 IV 20. E. 2).
b) Da fraglich ist, ob auch Forderungen nach Art. 143 StGB geschützt sind (GERMANN, Handkommentar, 9. Auflage, S. 248), ist zu prüfen, ob sich der Beschwerdeführer durch die Wegnahme der beiden Namensparhefte, bei denen es sich um Forderungen von Frau S. gegen die betreffenden Banken handelt,
BGE 99 IV 140 S. 144
der Sachentziehung schuldig gemacht habe. Nach der Auffassung von NOLL (ZStR 1956, S. 169/70) würde eine systematische Auslegung zum Ergebnis führen, dass bloss obligatorische Rechte dem Berechtigten nicht im Sinne von Art. 143 StGB entzogen werden könnten. Doch legten praktische Erwägungen eine differenzierendere Auslegung nahe. Wäre die Verletzung obligatorischer Rechte schlechthin straflos, so bliebe z.B. der Mieter, dem der Vermieter und Eigentümer die gemietete Sache aus seinem Gewahrsam wegnimmt, ohne jeglichen Strafschutz, obwohl das Verhalten des Vermieters sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn der Bestimmung nach als Sachentziehung angesehen werden müsse. Die richtige Lösung sei daher, bei der Verletzung von Verpflichtungen die Fälle des blossen Vorenthaltens als straflos auszuscheiden und nur die Wegnahme, den Bruch des Gewahrsams des obligatorisch Berechtigten als Sachentziehung zu bestrafen.
Würdigt man das Verhalten des Beschwerdeführers im Lichte dieser einleuchtenden Argumente, so ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Namensparhefte von Frau S. zwar Forderungsrechte gegen die Bank verbrieften, dass diese Forderungen aber ohne gleichzeitige Vorweisung der Sparhefte überhaupt nicht geltend gemacht werden konnten. Denn bei solchen Heften ist nach Art. 975 Abs. 1 OR der Schuldner nur dem Inhaber der Urkunde zu leisten verpflichtet, welcher sich gleichzeitig als Person ausweist, auf die die Urkunde lautet. Wer dem Inhaber eines Namensparheftes dieses entzieht, der entzieht dem Berechtigten somit nicht nur indirekt das Forderungsrecht gegenüber der schuldnerischen Bank, sondern zudem direkt auch die Urkunde, also die Sache, die diese Forderung verbrieft und ohne die er sein Forderungsrecht überhaupt nicht geltend machen kann. Es wäre deshalb stossend, wenn der Schutz von Art. 143 StGB gegenüber dem Inhaber eines Namensparheftes versagen würde. Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit von Art. 143 StGB auf Namensparhefte im vorliegenden Falle daher zu Recht bejaht.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Referenzen

BGE: 96 IV 22, 85 IV 20

Artikel: Art. 143 StGB, Art. 143 Abs. 1 StGB, Art. 22 Abs. 1 StGB, Art. 277bis Abs. 1 BStP mehr...