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Urteilskopf

114 IV 85


27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Dezember 1988 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 44 StGB; ambulante Behandlung mit aufgeschobener Strafe.
1. Wenn die angeordnete ambulante Behandlung zwar nicht angetreten worden ist, die Drogenfreiheit jedoch durch eine andere, freiwillig durchgeführte Therapie (z.B. den Eintritt in ein ausländisches Drogenentzugszentrum) dennoch erreicht worden ist, kann auf den Vollzug der zugunsten der Massnahme aufgeschobenen Strafe nachträglich verzichtet werden, wenn zu befürchten ist, dass der Strafvollzug den eingetretenen Erfolg erheblich gefährdet oder vereitelt (E. 3).
2. Im Falle einer stationären Behandlung kann die freiwillige Therapie unter Umständen auf die Strafe angerechnet werden, auch wenn sie im Ausland durchgeführt worden ist (E. 4).
3. Die zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschobene Strafe kann nachträglich bedingt vollziehbar erklärt werden (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 86

BGE 114 IV 85 S. 86

A.- Der drogenabhängige X. wurde am 21. Dezember 1984 durch das Kantonsgericht Schaffhausen unter anderem wegen Betäubungsmittelvergehen zu zehn Monaten Gefängnis, abzüglich 115 Tage erstandener Untersuchungshaft, verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde aufgeschoben und eine ambulante Drogenentzugstherapie i.S. von Art. 44 Ziff. 1 und 6 i.V. mit Art. 43 Ziff. 2 StGB angeordnet. Auflagen und konkrete Weisungen dazu enthielt der Entscheid nicht. Das begründete Urteil wurde im Juli 1985 zugestellt, weshalb sich die Polizeidirektion des Kantons Schaffhausen erst ein halbes Jahr nach Urteilsfällung mit dem Vollzug der ambulanten Behandlung befassen konnte. Inzwischen war X. wieder straffällig geworden, und in der Folge wurde die Massnahme nicht angetreten.
BGE 114 IV 85 S. 87
Von Dezember 1985 bis 24. Januar 1986 befand sich X. erneut wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz in Haft. Eine weitere Verhaftung erfolgte am 3. April 1986 wegen Einbruchdiebstahls und Übertretung des BetmG.
Am 7. April 1986 entwich X. aus der psychiatrischen Klinik Breitenau. Er begab sich nach Frankreich und weilte bis zum 1. August 1986 in der Drogenentzugsstation "Le Patriarche". In der Folge lebte er drogenfrei in Paris und am 5. Januar 1988 stellte er sich freiwillig beim Verhöramt Schaffhausen.
Wegen der zwischen Februar 1985 und April 1986 begangenen Delikte (u.a. BetmG-Vergehen) wurde X. am 24. Februar 1988 durch das Kantonsgericht Schaffhausen zu acht Monaten Gefängnis (unbedingt), abzüglich 99 Tage Untersuchungshaft, verurteilt. Nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe konnte er am 27. April 1988 bedingt aus dem Strafvollzug entlassen werden.

B.- Nachdem die Staatsanwaltschaft bereits im September 1985 den Vollzug der am 21. Dezember 1984 zugunsten der ambulanten Drogenentzugstherapie aufgeschobenen Freiheitsstrafe von zehn Monaten Gefängnis beantragt hatte, befasste sich das Kantonsgericht Schaffhausen erst am 18. März 1988 mit diesem Begehren; es entschied, auf den Vollzug der Strafe werde verzichtet. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen Beschwerde.
Am 8. Juli 1988 hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen die Beschwerde teilweise gut und erkannte, der Vollzug der am 21. Dezember 1984 ausgesprochenen Freiheitsstrafe werde bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren. Nebst den seinerzeit abgezogenen 115 Tagen Untersuchungshaft wurden weitere 89 Tage Massnahmenvollzug (im "Le Patriarche") angerechnet.

C.- Mit der vorliegenden eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, es sei der angefochtene Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen "zur Anordnung des Vollzuges der vom Kantonsgericht am 21. Dezember 1984 ausgefällten und zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschobenen Strafe von 10 Monaten Gefängnis unter Anrechnung von 115 Tagen Untersuchungshaft, aber ohne Anrechnung der 1986 in einer ausländischen Drogenentzugsinstitution verbrachten Zeit und ohne nachträgliche Gewährung des bedingten Strafvollzuges".
BGE 114 IV 85 S. 88

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Das Kantonsgericht stellte fest, der Beschwerdegegner habe den Ausstieg aus dem Drogenmilieu geschafft und lebe heute drogenfrei; dies habe er erreicht, weil er während dreier Monate eine Drogenentzugstherapie (im "Le Patriarche" in Frankreich) "unter erheblichen finanziellen Opfern" durchgeführt habe; wenn er nun die aufgeschobene Strafe noch verbüssen müsste, würde seine Resozialisierung, die schon vor Antritt der am 24. Februar 1988 auferlegten Gefängnisstrafe begonnen habe, ernsthaft gefährdet.
Die Vorinstanz ging demgegenüber davon aus, die seinerzeitige Anordnung einer ambulanten Massnahme habe sich als unzweckmässig erwiesen und das Kantonsgericht hätte bereits früher entscheiden müssen, ob der Beschwerdegegner gemäss Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB in eine Heil- oder Pflegeanstalt einzuweisen oder ob die aufgeschobene Strafe noch zu vollstrecken sei; im Aufenthalt in einem französischen Drogenentzugszentrum könne kein vollwertiger Ersatz für die angeordnete, aber noch nicht durchgeführte ambulante Behandlung gesehen werden; am ehesten dem Sinn der gesetzlichen Ordnung entspreche es, wenn man die Therapie in Frankreich als erfolgreich abgeschlossene, vom Kantonsgericht nachträglich akzeptierte, stationäre Massnahme i.S. von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB auffasse; als "nachträglich genehmigt" habe auch das Fehlen eines Entlassungsbeschlusses der zuständigen Behörde gemäss Art. 44 Ziff. 4 Abs. 1 StGB zu gelten; folglich sei Art. 44 Ziffer 5 anwendbar; da die Massnahme erfolgreich gewesen sei und die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Art. 41 Ziff. 1 StGB erfüllt seien, könne der bedingte Vollzug für die zehnmonatige Gefängnisstrafe gewährt werden.

3. a) Im vorliegenden Fall wurde die ambulante Massnahme in der Schweiz nicht angetreten. Dennoch ist nach der Feststellung der Vorinstanz davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner "seit der erfolgreich durchgeführten Drogenentzugstherapie (in Frankreich) eine nachhaltige Persönlichkeitsveränderung erfahren (hat), die im heutigen Zeitpunkt eine günstige Prognose zulässt". Es stellt sich die Frage, was mit der aufgeschobenen Strafe zu geschehen hat, wenn die angeordnete ambulante Massnahme in der Schweiz gar nicht begonnen worden ist, das angestrebte Ziel der Drogenfreiheit auf andere Weise jedoch trotzdem erreicht wurde, in casu durch den freiwilligen Eintritt des Beschwerdegegners
BGE 114 IV 85 S. 89
in ein ausländisches Drogenentzugszentrum. Für diese Sachlage enthält das Gesetz keine ausdrückliche Bestimmung, da weder eine begonnene, nachträglich als misslungen und unzweckmässig erscheinende Behandlung, noch eine erfolgreiche, vom Gericht oder der Vollzugsbehörde angeordnete Massnahme zu beurteilen ist.
Im Entwurf der Expertenkommission von 1959 wurde bei den Massnahmen für geistig Abnorme bestimmt, dass der Richter den Vollzug der zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschobenen Strafe anordnet, wenn sich der Verurteilte, bei dem eine Anstaltseinweisung nicht als notwendig erscheint, "böswillig" der ambulanten Massnahme entzieht (Art. 44bis Ziff. 3 Abs. 3 des Entwurfes, zitiert nach FRAUENFELDER, Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Massnahme nach Art. 43 und 44 StGB, Diss. ZH 1978, S. 13). Der Entwurf des Bundesrates von 1965 und der heute geltende Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB sehen demgegenüber vor, der Entscheid über den Vollzug der Strafe nach einer als unzweckmässig aufgehobenen ambulanten Behandlung werde ganz ins richterliche Ermessen gestellt, unbekümmert darum, ob sich der Täter der Behandlung entzogen habe oder nicht (FRAUENFELDER, a.a.O., S. 14-18, insbesondere S. 15). Dasselbe gilt auch für Art. 44 StGB, der die Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen zum Gegenstand hat (REHBERG, ZStR 93/1977, S. 198 bei Fn. 76).
Nach diesen Ausführungen kann bei der Beurteilung der oben aufgeworfenen Frage jedenfalls nicht allein darauf abgestellt werden, ob der Betroffene die Massnahme angetreten hat oder nicht. Es ergibt sich aus dem Gesetz nicht, nach welchen Kriterien der Richter die Frage zu entscheiden hat. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Hauptzweck der Massnahmen die Besserung des Täters und damit die Bekämpfung der Rückfallgefahr darstellt. Folgerichtig kann nach einer Entlassung aus der (durchgeführten) Massnahme denn auch vom Vollzug der Strafe abgesehen werden, wenn zu befürchten ist, dass der Strafvollzug den Erfolg der Massnahme erheblich gefährdet oder gar vereitelt (Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1, 44 Ziff. 5 StGB).
Dieser Aspekt kann auch dann nicht ausser acht gelassen werden, wenn die angeordnete ambulante Massnahme zwar nicht begonnen worden, die Heilung oder Suchtfreiheit jedoch gleichwohl eingetreten ist. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn der Betroffene - wie hier - sich einer (wenn auch nicht der vom
BGE 114 IV 85 S. 90
Gericht angeordneten) Behandlung unterzogen hat, um von seiner Sucht loszukommen. Denn unter diesen Umständen dürfte die Feststellung, die gerichtlich angeordnete ambulante Behandlung sei aus Gründen "gescheitert", die vom Verurteilten zu vertreten sind, nur mehr formell zutreffen und den Tatsachen nicht gerecht werden. Nebenbei ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall den kantonalen Behörden der Vorwurf gemacht werden muss, nicht mit dem nötigen Nachdruck auf den Beginn und die Durchführung der ambulanten Massnahme hingewirkt zu haben; so wurde das mündlich eröffnete Urteil der Vollzugsbehörde erst ein halbes Jahr später schriftlich mitgeteilt. In Fällen der vorliegenden Art überzeugt schliesslich auch der Einwand nicht, der Täter entgehe jeder Sanktion, da nicht einmal die gerichtlich angeordnete Massnahme vollzogen worden sei; das Entscheidende ist, dass der Betreffende selber einen Einsatz geleistet hat, der der gerichtlich angeordneten ambulanten oder stationären Massnahme gleichkommt, um von seiner Sucht wegzukommen. Hat ein solcher Einsatz Erfolg, dann soll dieser genauso wenig durch den nachträglichen Vollzug einer aufgeschobenen Strafe gefährdet oder zunichte gemacht werden wie ein Erfolg der gerichtlich angeordneten Massnahme. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass es im vorliegenden Verfahren nicht mehr um die Prüfung geht, ob seinerzeit der Strafvollzug zu Recht zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschoben worden ist; es geht heute nur noch darum, über das Schicksal der aufgeschobenen Strafe zu befinden.
Im Lichte dieser Überlegungen erscheint der Entscheid des Kantonsgerichts vom 18. März 1988 jedenfalls dann als zutreffend, wenn feststeht, dass der nachträgliche Vollzug der Freiheitsstrafe den Resozialisierungserfolg gefährdet. Die Frage, ob ein solcher Erfolg tatsächlich eingetreten ist und durch den Strafvollzug gefährdet werden könnte, ist in Fällen der vorliegenden Art jedoch zunächst (analog zu Art. 44 Ziff. 5 StGB) der zuständigen Behörde (oder einem Fachmann, wenn sich die zuständige Behörde mit dem Fall gar nicht befasst hat) zur Prüfung vorzulegen, bevor der Richter entscheidet.
b) Das Obergericht ging davon aus, die stationäre Massnahme im "Le Patriarche" und das Fehlen des "Entlassungsbeschlusses" seien durch das Kantonsgericht "nachträglich akzeptiert" worden. Mag dies hinsichtlich der Massnahme noch angehen, so verletzt der nachträgliche Verzicht auf einen Entlassungsbeschluss sowohl Ziff. 3 als auch Ziff. 5 von Art. 44 StGB (s. oben E. 3a,
BGE 114 IV 85 S. 91
letzter Absatz). Die Vorinstanz nahm offenbar Zuflucht zu dieser gewagten Konstruktion, da sie den nachträglichen Vollzug als unbefriedigend betrachtete und davon ausging, der Vollzug der aufgeschobenen Strafe würde die eingetretene Resozialisierung beeinträchtigen. Ob dies zutrifft, kann jedoch nicht aufgrund der "allgemeinen Lebenserfahrung" beurteilt werden, sondern muss ebenfalls Gegenstand eines fachkundigen Berichtes sein, der sich mit der gesamten momentanen Situation des Beschwerdegegners befasst. Es ist darauf hinzuweisen, dass es um eine bereits 1984 ausgesprochene Freiheitsstrafe geht, die zwecks Heilung aufgeschoben wurde und deren nachträglicher Vollzug den Beschwerdegegner bei der heutigen Situation besonders empfindlich treffen dürfte.
c) Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist demnach gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht wird zu prüfen haben, ob vom Vollzug der seinerzeit aufgeschobenen Strafe abgesehen werden kann oder ob die Strafe nachträglich verbüsst werden muss. Sie wird dabei insbesondere einen Bericht darüber einzuholen haben, inwieweit beim Beschwerdegegner ein Resozialisierungserfolg eingetreten ist und ob dieser durch den nachträglichen Vollzug der Strafe aus dem Jahre 1984 in Frage gestellt würde.

4. Sollte die Vorinstanz zum Schluss kommen, auf den Vollzug der Strafe könne nicht verzichtet werden, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Dauer des Aufenthaltes in der Entzugsstation "Le Patriarche" auf die Dauer der Strafe anzurechnen ist. Die erste Instanz hatte sich mit dieser Frage nicht zu befassen, da sie vom Vollzug der Strafe absah. Demgegenüber hat das Obergericht diesbezüglich 89 Tage angerechnet, "da die freiwillig durchgeführte Drogenentzugstherapie in stationärer Behandlung dem formell angeordneten und auch formell aufgehobenen Aufenthalt in einer Heilanstalt gleichzusetzen ist".
Zu prüfen ist, ob und inwieweit Art. 44 Ziff. 5 Satz 3 StGB auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, wonach die Dauer des Freiheitsentzuges durch den Vollzug der Massnahme in einer Anstalt auf die Dauer der bei ihrer Anordnung aufgeschobenen Strafe anzurechnen ist. Im Zusammenhang mit einer ambulanten Behandlung kommt diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die Behandlung mindestens teilweise stationär erfolgt ist.
BGE 114 IV 85 S. 92
Nach Ansicht der Vorinstanz ist der Aufenthalt des Beschwerdegegners im "Le Patriarche" als stationär zu betrachten. Es sind in diesem Zusammenhang zwei Umstände zu beachten: Erstens wurde die Behandlung in der Drogenstation "Le Patriarche" nicht vom Gericht oder der zuständigen Behörde angeordnet, und zweitens befindet sich die Anstalt in Frankreich. Es stellt sich folglich die Frage, ob eine nicht von schweizerischen Straf- oder Vollzugsbehörden angeordnete und im Ausland durchgeführte stationäre Behandlung auf die Dauer der aufgeschobenen Strafe angerechnet werden könne. Auch für diese Frage enthält das Gesetz keine ausdrückliche Lösung, da es nur auf die gerichtlich angeordnete und in der Schweiz durchgeführte Behandlung zugeschnitten ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts können privat gewählte Anstaltsaufenthalte dann auf eine Strafe angerechnet werden, wenn die freiwillig durchgeführte Massnahme eine vom Richter anzuordnende Sanktion mit ausdrücklicher oder stillschweigender Zustimmung der Strafverfolgungsbehörden antizipiert hat; einen Anstaltsaufenthalt, den das Gericht nicht angeordnet hätte, braucht es auch bei der nachträglichen Beurteilung nicht zu berücksichtigen (BGE 105 IV 299 E. 2). Im zitierten bundesgerichtlichen Präjudiz wurde eine Freiheitsstrafe als durch den Aufenthalt in einer Trinkerheilanstalt getilgt erachtet, wobei dieser Aufenthalt im Anschluss an die gerichtlich angeordnete psychiatrische Begutachtung, aber noch vor Fällung des erstinstanzlichen Urteils stattgefunden hatte.
Der heute zu beurteilende Fall ist in wesentlichen Punkten anders gelagert als das genannte Präjudiz des Bundesgerichtes. Zunächst erkannte das Kantonsgericht auf eine ambulante Behandlung, die in der Folge nicht begonnen wurde. Der Richter konnte sich zu jenem Zeitpunkt gar nicht mit dem Drogenentzug im "Le Patriarche" befassen, da dieser noch gar nicht zur Diskussion stand. Der Beschwerdegegner unterzog sich in der Folge dieser Therapie, ohne mit dem Richter oder den Vollzugsbehörden Kontakt aufzunehmen.
Nun stellt das Obergericht aber für das Bundesgericht verbindlich fest, das Kantonsgericht habe die erfolgreich durchgeführte Massnahme "nachträglich akzeptiert". Es stellt sich die Frage, ob auch in einem solchen Fall analog zu BGE 105 IV 297 ff. der freiwillig absolvierte Aufenthalt in einer Heilanstalt auf die Strafe angerechnet werden darf. Gegen eine solche Lösung spricht nichts. Es wäre sachlich nicht gerechtfertigt und würde überdies dem
BGE 114 IV 85 S. 93
Resozialisierungsziel widersprechen, wenn das Gericht zwar eine von ihm ausdrücklich angeordnete oder eine vorgängige, von ihm im Strafurteil nachträglich akzeptierte Massnahme anrechnen dürfte, nicht aber eine Massnahme, die der Betroffene selber gewählt hat und die in etwa einer stationären Massnahme des schweizerischen Rechts entspricht. Letztere Voraussetzung ist nach Ansicht der Vorinstanz erfüllt. Worauf sie diese Annahme stützt, sagt sie jedoch nicht. Dies wäre nachzuholen, wenn im neuen Entscheid der Aufenthalt im "Le Patriarche" auf die vollziehbar erklärte Strafe angerechnet werden sollte.
Dass der Drogenentzug im Ausland stattgefunden hat, ändert nichts. Auch in solchen Fällen kann der erkennende Richter abklären, ob die Beschränkung der persönlichen Freiheit in der ausländischen Institution ungefähr dem Freiheitsentzug in einer schweizerischen Heil- und Pflegeanstalt gleichkommt. Diese Frage hat das Obergericht bejaht. Wie erwähnt, wird sich der neue Entscheid dazu noch näher auszusprechen haben.

5. Was den bedingten Vollzug der Strafe betrifft, hatte das Kantonsgericht seinerzeit am 21. Dezember 1984 die Strafe, deren Vollzug zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschoben wurde, zu Recht unbedingt ausgesprochen (vgl. dazu FRAUENFELDER, a.a.O., S. 97 f.). Einer nachträglichen Umwandlung dieser unbedingten Strafe in eine bedingt aufgeschobene scheint der Gesetzeswortlaut entgegen zu stehen, wonach zu entscheiden ist, ob und inwieweit die Strafe noch vollstreckt werden soll. Das Bundesgericht hat denn auch unter dem alten Recht in bezug auf den vermindert zurechnungsfähigen Täter entschieden, der Ausdruck "inwieweit" beziehe sich auf die Dauer des anzurechnenden Massnahmevollzuges (BGE 73 IV 3 E. 1; ebenso REHBERG, ZStR 93/1977, S. 188 f.).
Diese Rechtsprechung ist auf berechtigte Kritik gestossen (SCHULTZ, Strafrecht AT II, 4. Aufl., S. 40; FRAUENFELDER, a.a.O., S. 168; Obergericht des Kantons Zürich in ZR 80/1981, Nr. 47, S. 146 ff.), und die Frage wurde beim trunk- und rauschgiftsüchtigen Täter durch kantonale Behörden denn auch anders entschieden (s. Obergericht des Kantons Bern in ZBJV 109/1973, S. 128; 82/1946 S. 266 f.). Die Frage, ob der nachträgliche Vollzug angeordnet werden muss, beurteilt sich in erster Linie darnach, inwieweit beim Betroffenen eine Besserung eingetreten ist und inwieweit diese Besserung durch den nachträglichen Vollzug in Frage gestellt würde. SCHULTZ bemerkt dazu richtig, dass der bedingte Strafvollzug
BGE 114 IV 85 S. 94
einen Anreiz für künftiges Wohlverhalten darstellt und sich deshalb günstig auswirken kann. Da (auch nach Meinung der Beschwerdeführerin) weder der Gesetzeswortlaut noch die Materialien (vgl. BBl 1965 I S. 577) die Möglichkeit des nachträglichen bedingten Strafvollzuges ausschliessen, ist diese der formalistischen Betrachtungsweise vorzuziehen, wonach der unbedingte Strafvollzug mit dem ursprünglichen Strafurteil Rechtskraft erlangt habe. Diesem Einwand kann schon deshalb keine entscheidende Bedeutung zukommen, weil vom Vollzug der Strafe überhaupt abgesehen werden kann.
Was die Beschwerdeführerin gegen die hier vertretene Auffassung vorbringt, überzeugt nicht. Der Variantenreichtum im Massnahmerecht ist von der Sache her begründet, da das Ziel der Resozialisierung individuell möglichst angepasste Lösungen verlangt. Auch hat es der Gesetzgeber in Fällen, in welchen sich eine Massnahme als angezeigt erweist, bewusst in Kauf genommen, dass bis zur endgültigen Erledigung geraume Zeit verstreichen kann. Was die Frage der Prognose betrifft, ist es durchaus sachgerecht, von der heutigen Situation auszugehen, denn die zwischenzeitlich durchgeführte Massnahme ist für die Frage der Zukunftsaussichten von erheblicher Bedeutung; dass dem Beschwerdegegner im Entscheid vom 24. Februar 1988 aus objektiven Gründen der bedingte Strafvollzug verweigert werden musste, ändert daran nichts; in diesem Urteil ging es um noch gar nicht beurteilte Straftaten, und nach der ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB war der bedingte Vollzug ausgeschlossen, da der Beschwerdegegner vorgängig mehr als drei Monate Untersuchungshaft erstanden hatte; dass hier ein Widerspruch zu liegen scheint, ist auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falles zurückzuführen, in welchem aussergewöhnlich spät über den nachträglichen Vollzug der seinerzeit zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschobenen Strafe zu entscheiden ist. In diesem Punkt erweist sich die von der Vorinstanz gefundene Lösung als vertretbar.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 8. Juli 1988 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4 5

Dispositiv

Referenzen

BGE: 105 IV 299, 105 IV 297

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