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Urteilskopf

147 IV 188


19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland (Beschwerde in Strafsachen)
1B_524/2020 vom 28. Dezember 2020

Regeste

Art. 29 f. StPO, Art. 92 und 93 Abs. 1 lit. a BGG; Eintretensfrage bei Trennung von Strafverfahren.
Darstellung der früheren, uneinheitlichen Rechtsprechung (E. 1.2). Art. 92 BGG ist bei Verfahrenstrennungen nur anwendbar, wenn im konkreten Einzelfall die Frage der Verfahrenstrennung ausnahmsweise mit derjenigen der Zuständigkeit zusammenfällt (E. 1.3.1). Weil die Verfahrenstrennung zu erheblichen prozessualen Rechtsnachteilen führen kann (Verlust der Parteistellung) und vor dem Hintergrund der bundesgerichtlichen Praxis zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist es angezeigt, die beschuldigte Person bei Verfahrenstrennungen (bzw. der Verweigerung einer Verfahrensvereinigung) nicht auf die Anfechtbarkeit des Endentscheids zu verweisen, sondern grundsätzlich einen drohenden, nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne dieser Bestimmung zu bejahen (E. 1.3.2-1.3.5). Dass diese Voraussetzung im konkreten Fall gegeben ist, muss der Beschwerdeführer in schlüssiger Weise dartun (E. 1.4).

Sachverhalt ab Seite 189

BGE 147 IV 188 S. 189

A. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland führt ein Strafverfahren gegen A. wegen Schändung und weiterer Delikte und gegen B. wegen sexueller Nötigung und weiterer Delikte. B. soll anlässlich einer Party in einer Privatwohnung in U. in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober 2017 zwischen ca. 22:30 Uhr und 2:00 Uhr ein Zimmer betreten haben, in dem die Geschädigte C. nackt unter einer Decke gelegen habe. Er soll die Tür geschlossen, der Geschädigten die Decke bis unter die Brüste weggezogen und versucht haben, sie zum Geschlechtsverkehr oder zur Vornahme anderer sexueller Handlungen zu drängen. A. soll in der gleichen Nacht zwischen ca. 23:30 Uhr und 5:00 Uhr, im Nachgang zum erwähnten Vorfall, ebenfalls jenes Zimmer betreten haben. Dort sei die Geschädigte im Begriff gewesen, mit einer Drittperson einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Er soll der Geschädigten, die mit geschlossenen Augen auf dem Rücken gelegen habe, seinen Penis in den Mund oder zumindest auf die Lippen gelegt haben. Die weiteren A. und B. vorgeworfenen Delikte stehen mit diesen Vorfällen nicht im Zusammenhang.
Die beiden Strafverfahren wurden zunächst zusammen geführt. Mit Verfügung vom 17. April 2020 trennte sie die Staatsanwaltschaft. Zur Begründung hielt sie im Wesentlichen fest, die Untersuchung habe gezeigt, dass es sich um zwei voneinander unabhängige Lebenssachverhalte handle, weshalb keine Gefahr widersprüchlicher Urteile bestünde und damit keine gemeinsame Verfahrensführung angezeigt sei. Mit A. sei zudem bereits die Schlusseinvernahme durchgeführt worden, während bei B. noch weitere Untersuchungshandlungen notwendig seien.
BGE 147 IV 188 S. 190
Eine von A. gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 4. September 2020 ab.

B. Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 8. Oktober 2020 beantragt A., der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben.
(...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt.

1.2 Der angefochtene Beschluss schliesst das Strafverfahren nicht ab. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 und 93 BGG angefochten werden kann. Danach ist die Beschwerde insbesondere zulässig, wenn der angefochtene, selbständig eröffnete Zwischenentscheid die Zuständigkeit betrifft (Art. 92 BGG) oder wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Das Bundesgericht hat diese Bestimmungen im Zusammenhang mit der Trennung von Strafverfahren in der Vergangenheit nicht einheitlich ausgelegt.
In einer ersten Reihe von Urteilen verneinte es einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil. Es ging davon aus, dass eine getrennte Führung der Verfahren zu Beginn der Hauptverhandlung in Frage gestellt (Art. 339 Abs. 2 StPO) und ein negativer Entscheid gemäss Art. 93 Abs. 3 BGG auch noch später mit Beschwerde gegen den Endentscheid angefochten werden könne (Urteile 1B_430/2018 vom 17. Januar 2019 E. 1.3; 1B_428/2018 vom 7. November 2018 E. 1.2; 1B_226/2015 vom 20. Januar 2016 E. 1.2; 1B_239/2014 vom 4. Juli 2014 E. 3.2; 1B_402/2013 vom 13. November 2013 E. 2; je mit Hinweisen).
In einer zweiten Reihe von Urteilen bejahte das Bundesgericht einen drohenden, nicht wieder gutzumachenden Nachteil für den
BGE 147 IV 188 S. 191
Beschuldigten insbesondere wegen der mit der Verfahrenstrennung einhergehenden Einschränkung der Teilnahmerechte. Gleichzeitig liess es offen, ob es sich bei Verfahrenstrennungen nicht ohnehin um Streitigkeiten betreffend die Zuständigkeit handle (Urteile 1B_40/2019 vom 4. März 2019 E. 1.2; 1B_150/2017 vom 4. Oktober 2017 E. 1; 1B_467/2016 vom 16. Mai 2017 E. 1; 1B_124/2016 vom 12. August 2016 E. 1; 1B_187/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 1.5; 1B_86/2015 vom 21. Juli 2015 E. 1.3, in: Pra 2015 Nr. 89 S. 708).

1.3

1.3.1 Mit Urteil 1B_230/2019 vom 8. Oktober 2019 (in: ZBl 121/2020 S. 573) vereinheitlichte das Bundesgericht diese Rechtsprechung. Danach gibt es gewichtige Argumente, die gegen die generelle Anwendbarkeit von Art. 92 BGG auf Verfahrenstrennungen sprechen, vorab der Umstand, dass sich mit der Verfahrenstrennung allein die Zuständigkeit nicht zwingend ändert. Anders kann es sich verhalten, wenn dies im konkreten Einzelfall ausnahmsweise doch zutrifft (zit. Urteil 1B_230/2019 E. 1.4 mit Hinweisen).

1.3.2 Beim drohenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss es sich im Bereich der Beschwerde in Strafsachen um einen solchen rechtlicher Natur handeln. Nicht wieder gutzumachend bedeutet, dass er auch mit einem für die beschwerdeführende Person günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig behebbar ist ( BGE 141 IV 289 E. 1.2 S. 291 mit Hinweis).

1.3.3 Als grundsätzlich zulässig erachtete das Bundesgericht zum Beispiel Beschwerden gegen Zwischenentscheide über die (Nicht-) Zulassung von Parteien und Parteivertretern zu Befragungen von Mitbeschuldigten; gegen die Nichtzulassung des Verteidigers zu psychiatrischen Explorationsgesprächen mit dem Beschuldigten; gegen diverse Zwischenentscheide betreffend ausreichende Verteidigung; gegen die an die Parteien gerichtete Verweigerung der Akteneinsicht nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person; gegen die Verwendung von Zufallsfunden aus Telefonüberwachungen; sowie, unter gewissen Voraussetzungen, gegen im Vorverfahren gefällte Entscheide über die Verwertbarkeit von Beweismitteln (vgl. die Rechtsprechungsübersicht im zit. Urteil 1B_230/2019 E. 1.5.2).

1.3.4 Bei der Verfahrenstrennung (bzw. der Verweigerung einer Vereinigung der Strafverfahren gegen mehrere beschuldigte Personen)
BGE 147 IV 188 S. 192
drohen dem Betroffenen erhebliche prozessuale Rechtsnachteile. Diese ergeben sich daraus, dass er seine Parteirechte im Verfahren gegen die Mitbeschuldigten verliert. Denn es besteht kein gesetzlicher Anspruch auf Teilnahme an den Einvernahmen der anderen beschuldigten Personen und an den weiteren Beweiserhebungen im getrennt geführten Strafverfahren (Art. 147 Abs. 1 StPO e contrario; BGE 140 IV 172 E. 1.2.3 S. 176).

1.3.5 Angesichts dieser erheblichen prozessualen Rechtsnachteile und vor dem Hintergrund der in E. 1.3.3 hiervor zitierten Rechtsprechung, die auch dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie Rechnung trägt, ist angezeigt, die beschuldigte Person bei Verfahrenstrennungen (bzw. der Verweigerung einer Verfahrensvereinigung) nicht auf die Anfechtbarkeit des Endentscheids zu verweisen, sondern grundsätzlich einen drohenden, nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu bejahen (zit. Urteil 1B_230/2019 E. 1.5.4).

1.4 Ob sich der Verlust der Parteirechte im konkreten Fall für den Betroffenen tatsächlich nachteilig auswirken kann oder ausnahmsweise kein nicht wieder gutzumachender Nachteil droht, ist eine Frage, die sowohl für die Zulässigkeit der Beschwerde als auch für deren Begründetheit von Bedeutung ist. Derartige sogenannt doppelrelevante Tatsachen werden grundsätzlich im Rahmen der Begründetheit geprüft (zum Grundsatz: BGE 145 II 153 E. 1.4 S. 156; zur Ausnahme: BGE 144 II 184 E. 1.3 S. 187 f.; je mit Hinweisen). Für die Zulässigkeit reicht aus, wenn sie schlüssig behauptet werden bzw. mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegen ( BGE 145 II 153 E. 1.4 S. 156; Urteil 6B_1324/2018 vom 22. März 2019 E. 4.3; je mit Hinweisen). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben: Insbesondere hat der Beschwerdeführer in nachvollziehbarer Weise auf den engen zeitlichen, örtlichen und inhaltlichen Zusammenhang der gegen ihn und den Mitbeschuldigten erhobenen Vorwürfe hingewiesen. Die Sachurteilsvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG erweist sich damit als erfüllt.

1.5 Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1

Referenzen

BGE: 145 II 153, 141 IV 289, 140 IV 172, 144 II 184

Artikel: Art. 92 und 93 Abs. 1 lit. a BGG, Art. 92 BGG, Art. 78 Abs. 1 BGG, Art. 80 BGG mehr...