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Urteilskopf

93 IV 74


19. Urteil des Kassationshofes vom 19. September 1967 i.S. Schweizerische Bundesanwaltschaft gegen Oberli.

Regeste

Wenn der Bundesanwalt gestützt auf Art. 266 BStP ein kantonales Rechtsmittel ergreift, hat er sich einzig an Art. 267 BStP zu halten; Formvorschriften des kantonalen Rechts, die weiter gehen als diese Bestimmung oder gar von ihr abweichen, braucht er nicht zu beachten.

Sachverhalt ab Seite 74

BGE 93 IV 74 S. 74

A.- Rudolf Oberli wurde im Dezember 1966 wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs dem Einzelrichter von Interlaken überwiesen, der ihn am 3. März 1967 freisprach.
BGE 93 IV 74 S. 75
Mit schriftlicher Eingabe vom 3. April 1967 appellierte die Bundesanwaltschaft gegen den Freispruch und beantragte, Oberli sei im Sinne der Anklage schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen.

B.- Am 18. Mai 1967 erklärte das Obergericht des Kantons Bern die Appellation der Bundesanwaltschaft als dahingefallen, weil diese sich nicht an Art. 318 Abs. 3 und 5 des Gesetzes über das kantonale Strafverfahren gehalten habe. Die Appellantin habe an der mündlichen Verhandlung weder teilgenommen noch sich vertreten lassen, obschon sie form- und fristgerecht vorgeladen worden sei. Auch habe sie nach Erhalt der Vorladung keinen schriftlichen Parteivortrag eingereicht. Dass sie ihrer Appellationserklärung eine einlässliche Begründung beigefügt habe, ändere nichts. Eine solche Begründung sei nach bernischem Verfahrensrecht nicht zulässig, könne folglich auch nicht als schriftlicher Parteivortrag berücksichtigt werden; die Partei müsse nach Einreichung der Appellation noch irgendwie kundtun, dass sie am oberinstanzlichen Verfahren interessiert sei. Das gelte selbst für die Bundesanwaltschaft, die nicht besser gestellt werden dürfe als eine andere Partei.

C.- Die Bundesanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts wegen Verletzung von Art. 266 und 267 BStP aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.- Der Angeschuldigte hält die Beschwerde für unbegründet.

Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Nach dem Bundesratsbeschluss vom 29. Dezember 1964 über die Mitteilung kantonaler Strafentscheide gemäss StGB und anderen Bundesvorschriften (AS 1965 S. 1 ff.) haben die kantonalen Behörden der Bundesanwaltschaft zuhanden des Bundesrates insbesondere alle Urteile mitzuteilen, die sie gestützt auf Art. 238 StGB ausfällen (Art. 2 Ziff. 14 und Art. 7 Abs. 2). Auch stehen dem Bundesanwalt gegen solche Entscheide alle Rechtsmittel zu, die das kantonale Recht vorsieht (Art. 266 BStP).
Seine Befugnis, von diesen Rechtsmitteln Gebrauch zu machen, wäre indes oft illusorisch, wenn er innert der von den kantonalen Strafprozessordnungen vorgeschriebenen Fristen
BGE 93 IV 74 S. 76
handeln müsste, denn diese Fristen beginnen für die Parteien teils schon mit der mündlichen Eröffnung des Urteils zu laufen (vgl. z.B. Genf Art. 408 Abs. 2, Luzern § 232 Abs. 1, Neuenburg Art. 244 Abs. 1, Schwyz § 214 Abs. 1, Zug § 71 Abs. 1, Zürich § 412 Abs. 2). Der Bundesanwalt, der am erstinstanzlichen Verfahren nicht teilnimmt und der, ausser in Fiskalstrafsachen des Bundes, sich auch nicht an den mündlichen Verhandlungen vertreten lassen darf (Art. 15, 16 Abs. 1 und 282 BStP), wäre daher oftmals gar nicht in der Lage, die kantonalen Rechtsmittelfristen einzuhalten. Aus diesem Grunde bestimmt Art. 267 BStP nicht nur, dass für den Bundesanwalt eine einheitliche Frist von zehn Tagen gilt, sondern auch, dass ihm die Frist erst mit der Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung zu laufen beginnt. Art. 267 schreibt dem Bundesanwalt zudem vor, das Rechtsmittel bei der nach dem kantonalen Recht zuständigen Behörde schriftlich geltend zu machen.

2. Fragen kann sich nur, ob diese Regelung abschliessend sei oder ob der Bundesanwalt die Formvorschriften des kantonalen Rechtsmittelverfahrens ebenfalls zu beachten habe.
a) Der Wortlaut des Art. 267 BStP gibt darüber keine Auskunft. Er schlösse an sich nicht aus, dass der Bundesanwalt oder sein Vertreter vor der Rechtsmittelinstanz zu erscheinen hat, wenn nach kantonalem Recht z.B. die Appellation einer Partei, die gehörig vorgeladen worden ist, aber der Verhandlung fernbleibt, als zurückgezogen oder dahingefallen zu betrachten ist (Solothurn § 415 Abs. 2, Luzern § 242 Abs. 1, Appenzell-I.Rh. Art. 63). Die Bundesanwaltschaft hat freilich in einem Bericht vom 23. März 1939 ausgeführt, dass sie, ausser in Fiskalstrafsachen (Art. 15 BStP), vor den kantonalen Strafbehörden eine Appellation nicht mündlich vertreten könne (Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden 1939 Nr. 61). Da in mehreren Kantonen gerade die Appellation mündlich begründet werden muss (Nidwalden § 75, Uri § 116, Schaffhausen Art. 240, Solothurn § 415, Luzern § 242 Abs. 1 u.a.m.), gälte Art. 267 BStP also ausschliesslich und für die Anwendung kantonaler Vorschriften bliebe kein Raum mehr. Art. 15 BStP hat jedoch nicht die Tragweite, die ihm die Bundesanwaltschaft im Jahre 1939 beimass. Er bestimmt, dass der Bundesanwalt die Anklage vor den Strafgerichten des Bundes vertritt und dass er in Fiskalstrafsachen auch vor den Strafgerichten der Kantone auftreten
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kann, eine Befugnis, die in Art. 282 BStP nochmals hervorgehoben wird. Ob daraus zu folgern ist, der Bundesanwalt sei in den andern Strafsachen nicht nur von den mündlichen Verhandlungen ausgeschlossen, sondern dürfe sich auch sonst in keiner Weise am kantonalen Verfahren beteiligen, wie die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint, kann dahingestellt bleiben. Eine solche Regelung würde jedenfalls durchbrochen von Art. 266 BStP, der den Bundesanwalt ausdrücklich ermächtigt, in den von dieser Bestimmung erwähnten Fällen alle Rechtsmittel zu ergreifen, welche das kantonale Recht vorsieht. Aus dem Vergleich von Art. 15 und 282 einerseits mit Art. 266 anderseits ergibt sich somit nur, dass der Bundesanwalt in Strafsachen, wie hier, einzig im erstinstanzlichen Verfahren der Kantone nicht auftreten kann. Die Frage, ob er im Rechtsmittelverfahren auch die kantonalen Formvorschriften beachten und gegebenenfalls zur mündlichen Verhandlung erscheinen müsse oder ob er sich bloss an Art. 267 BStP zu halten brauche, wird von diesen Bestimmungen nicht berührt.
b) Den Gesetzesmaterialien ist über die Tragweite des Art. 267 BStP wenig zu entnehmen. Bei der Beratung des Vorentwurfes vom April 1926 durch die Expertenkommission begnügte man sich mit der Bemerkung, dass Art. 291, der dann Art. 267 geworden ist, das Verfahren regle (Prot. III S. 20, Votum Stämpfli). Das liegt jedoch auf der Hand; unklar ist nur, ob die Bestimmung das Verfahren für den Bundesanwalt abschliessend regle. Darüber aber schweigen sich nicht nur die Protokolle der Expertenkommission, sondern auch diejenigen der parlamentarischen Kommissionen aus; sie bieten weder Anhaltspunkte dafür, dass der Bundesanwalt im Rechtsmittelverfahren den kantonalen Formvorschriften unterstellt werden sollte, noch lassen sie erkennen, dass man ihn von der Einhaltung dieser Vorschriften habe befreien wollen. Die Frage, ob er nach kantonalem Recht gezwungen werden könne, eine innert der Frist von zehn Tagen eingereichte Appellation vor der Rechtsmittelinstanz noch mündlich zu begründen, wurde offenbar überhaupt nicht aufgeworfen.
Unter der Herrschaft des Organisationsgesetzes von 1893 war der Bundesrat berechtigt, gegen Urteile in Strafsachen, die er den Kantonen zur Beurteilung überwiesen hatte, bei den oberen kantonalen Instanzen Berufung einzulegen (Art. 158 und 159). Diese Befugnis ist mit Beschluss vom 17. November 1914 dem
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Justiz- und Polizeidepartement übertragen worden. Sowohl der Bundesrat wie das Departement begnügten sich damit, die Berufung schriftlich zu begründen; sie wurden offensichtlich nie dazu verhalten, vor der kantonalen Rechtsmittelinstanz zu erscheinen oder sich an den mündlichen Verhandlungen vertreten zu lassen. In diesem Punkte hat aber der Bundesrat, wie aus seiner Botschaft zum Entwurf des BStP erhellt, keine Neuerungen vorgeschlagen (vgl. BBl 1929 II 635 f.). Die eidgenössischen Räte wendeten gegen die bisherige Übung der Bundesbehörden, es bei der schriftlichen Begründung des Rechtsmittels bewenden zu lassen, ebenfalls nichts ein; die Art. 266 und 267 BStP wurden denn auch fast wörtlich aus dem Entwurf des Bundesrates übernommen.
Dass es nach seiner Auffassung bei der früheren Übung blieb, brachte der Bundesrat noch im Geschäftsbericht für das Jahr 1946 (S. 231) zum Ausdruck. Er führte darin aus, dass die Bundesanwaltschaft sich einzig an Art. 267 zu halten habe, wenn sie gestützt auf Art. 266 ein kantonales Rechtsmittel ergreife; an die kantonalen Formvorschriften sei sie nicht gebunden, weshalb sie namentlich zur Begründung ihrer Anträge auch nicht vor der kantonalen Rechtsmittelinstanz aufzutreten brauche.
c) Zu prüfen bleibt, ob diese Auffassung dem Sinn und Zweck der bundesrechtlichen Regelung entspricht. Art. 267 BStP ist offensichtlich erlassen worden, um der besondern Stellung der Bundesanwaltschaft Rechnung zu tragen, der im Unterschied zu den kantonalen Staatsanwaltschaften aufgetragen ist, in allen Kantonen Rechtsmittel einzulegen. Ihr Auftrag erstreckt sich zudem Jahr für Jahr auf sehr viele Strafurteile; er bezieht sich insbesondere auf Entscheide, die nach einem Bundesgesetz oder nach einem Beschluss des Bundesrates gemäss Art. 265 Abs. 1 BStP dem Bundesrat mitzuteilen sind. Nach den Geschäftsberichten des Bundesrates waren dies in den letzten zehn Jahren jährlich zwischen 3450 und 5780 Entscheide. Dazu kommen Urteile in Bundesstrafsachen, die gestützt auf Art. 18 und 254 BStP zur Verfolgung und Beurteilung den kantonalen Behörden überwiesen werden; auch solche Urteile sind von der Bundesanwaltschaft zu überprüfen und nötigenfalls gestützt auf Art. 266 BStP mit kantonalen Rechtsmitteln weiterzuziehen.
Dieser Arbeitsanfall war namentlich nach dem BRB vom 17.
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Dezember 1935 über die Einsendung kantonaler Strafentscheide (AS 51, 793), der seit 1941 immer wieder erneuert und ergänzt wurde, vorauszusehen. Es konnte daher von vorneherein nicht die Meinung sein, die Bundesanwaltschaft, ausser dem Art. 267 BStP, auch noch den kantonalen Formvorschriften zu unterwerfen, gleichviel ob sie von ihrer Befugnis, kantonale Rechtsmittel zu ergreifen, selten oder häufig Gebrauch mache. Es drängte sich nicht nur eine einheitliche Frist und eine besondere Regelung des Fristenlaufes auf; sollte ihr die Aufgabe nicht übermässig erschwert werden, so war die Bundesanwaltschaft auch davon zu befreien, Rechtsmittel in zahlreichen Kantonen mündlich begründen zu müssen. Ihr solche Pflichten auferlegen zu wollen, geht umsoweniger an, als der Bundesanwalt sich in Strafsachen, wie hier, nur durch seine Adjunkte vertreten lassen dürfte; besondere Bevollmächtigte darf er einzig in Fiskalstrafsachen beiziehen, und seine ständigen Vertreter sind bloss für Bundesstrafverfahren vorgesehen (Art. 16 Abs. 1 und 2 BStP).
d) Aus all diesen Gründen muss angenommen werden, dass die Bundesanwaltschaft sich einzig an Art. 267 BStP zu halten hat, folglich von der Beobachtung weitergehender oder gar davon abweichender Formvorschriften der Kantone befreit ist, wenn sie ein kantonales Rechtsmittel ergreift. Die Gültigkeit ihrer Appellation durfte daher im vorliegenden Fall nicht davon abhängig gemacht werden, dass sie zu den mündlichen Verhandlungen erschien oder nach Erhalt der Vorladung einen schriftlichen Parteivortrag einreichte.
Dass diese Lösung im Kanton Bern auf eine Besserstellung der Bundesanwaltschaft hinauslaufe, lässt sich nur insofern sagen, als andere Parteien zu den mündlichen Verhandlungen erscheinen müssen. Diese Besserstellung ist jedoch gewollt und in der besonderen Lage der Bundesanwaltschaft begründet. Im übrigen bedeutet aber der Umstand, dass die Bundesbehörde das Rechtsmittel nach Bundesrecht schriftlich zu begründen hat, einen Vorteil für den Angeklagten, der von den Einwänden der Bundesanwaltschaft schon vor der mündlichen Verhandlung Kenntnis nehmen kann, wenn eine solche vorgesehen ist. Schliesslich lässt sich auch nicht mit sachlichen Gründen behaupten, eine einlässlich begründete Appellation dürfe nicht als schriftlicher Parteivortrag berücksichtigt werden, weil eine Partei auch nach Einreichung des Rechtsmittels noch bekunden
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müsse, dass sie am oberinstanzlichen Verfahren interessiert sei. Wenn ein Rechtsmittel von Gesetzes wegen schriftlich zu begründen ist, so schliesst dies in sich, dass es solange als aufrechterhalten anzusehen ist, als es nicht ausdrücklich zurückgezogen wird.

3. Das angefochtene Urteil, das auf einer Verkennung von Art. 266 und 267 BStP beruht, ist somit aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die Appellation der Bundesanwaltschaft materiell behandle.

Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 18. Mai 1967 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Dispositiv

Referenzen

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