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Urteilskopf

137 I 107


10. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. AG gegen Einwohnergemeinde Strengelbach (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_275/2009 vom 26. Oktober 2010

Regeste

Art. 100 Abs. 1 und Art. 101 BGG; Frist zur abstrakten Normenkontrolle im Kanton vor Einleitung eines ebensolchen Verfahrens beim Bundesgericht.
Anschliessend an ein kantonales Normenkontrollverfahren kann eine selbständige Nachprüfung der Norm durch das Bundesgericht nur stattfinden, wenn das kantonale Verfahren innert der in der kantonalen Gesetzgebung vorgesehenen Frist oder, wo keine solche vorgeschrieben ist, innert üblicher Rechtsmittelfrist angehoben worden ist. Diese unter dem früheren Bundesrechtspflegegesetz (OG) begründete Praxis (BGE 106 Ia 310) gilt unter dem Bundesgerichtsgesetz weiter. Die erwähnte übliche Rechtsmittelfrist beträgt 30 Tage und läuft erst mit dem Inkrafttreten der beanstandeten Norm (E. 1.3 und 1.4).

Sachverhalt ab Seite 108

BGE 137 I 107 S. 108
Die Einwohnergemeindeversammlung von Strengelbach beschloss am 23. November 2007 eine Revision ihrer Regelung über die Benützungsgebühren für die Abwasseranlage (§ 46 ihres Reglements vom 30. November 2001 über die Finanzierung von Erschliessungsanlagen).
Die neue Bestimmung ist am 1. Oktober 2008 in Kraft getreten. Sie findet einzig auf die X. AG Anwendung, die als A.-Betrieb grosse Wassermengen benötigt. Um die durch die Reglementsänderung bewirkte Gebührenerhöhung zu mildern, gilt während dreier Jahre ab Inkrafttreten eine Übergangsregelung mit zusätzlichen Ermässigungen.
Die X. AG focht die neue Regelung am 14. Juli 2008 mit einem Begehren um prinzipale Normenkontrolle beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau an. Dieses wies das Normkontrollbegehren am 13. März 2009 ab.
Die X. AG gelangte mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 1. Mai 2009 an das Bundesgericht. Es fand ein zweiter Schriftenwechsel statt.
Die Praxis des Bundesgerichts ist bezüglich der Frist zur Einleitung eines kantonalen Normenkontrollverfahrens im Sinne der nachstehenden Erwägungen (E. 1.4) zu präzisieren. Insoweit hat die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts gemäss Art. 23 BGG die Zustimmung sämtlicher Abteilungen des Bundesgerichts eingeholt.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

BGE 137 I 107 S. 109
Aus den Erwägungen:

1.

1.3 Die Beschwerde gegen einen Erlass ist gemäss Art. 101 BGG innert 30 Tagen nach der nach dem kantonalen Recht massgebenden Veröffentlichung des Erlasses beim Bundesgericht einzureichen. Bei Änderung eines Regelwerks läuft die Beschwerdefrist nicht erneut für den gesamten Erlass, sondern grundsätzlich nur bezüglich der neuen oder geänderten Bestimmungen, so dass auch nur diese anfechtbar sind (vgl. BGE 122 I 222 E. 1b/aa S. 224 f. mit Hinweisen; zum BGG: Urteil 2C_462/2007 vom 11. September 2007 E. 2.2.2, in: StE 2008 A 21.2 Nr. 4).

1.4

1.4.1 Kennt das kantonale Recht - wie hier - ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, ist zunächst dieses zu durchlaufen (vgl. Art. 87 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Das ist vorliegend geschehen. Die 30-tägige Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) zur Beschwerde an das Bundesgericht beginnt alsdann erst mit der Eröffnung des letztinstanzlichen kantonalen Normenkontrollentscheids (BGE 128 I 158 E. 1.1 S. 158). Die Beschwerdeführerin hat diese Frist eingehalten, da ihr der angefochtene Entscheid am 1. April 2009 zugestellt wurde.

1.4.2 Allerdings muss das kantonale Normenkontrollverfahren ebenfalls innert der von der kantonalen Gesetzgebung bestimmten Frist angehoben worden sein. Ist die Anfechtung eines Erlasses - wie im Kanton Aargau - "jederzeit" zulässig (§ 68 des hier noch massgeblichen Aargauer Gesetzes vom 9. Juli 1968 über die Verwaltungsrechtspflege bzw. § 70 der neuen Fassung vom 4. Dezember 2007 [SAR 271.100 und 271.200]), so ist diese nach der unter dem Bundesrechtspflegegesetz vom 16. Dezember 1943 (OG; BS 3 531) entwickelten Praxis innert einer "üblichen" Rechtsmittelfrist einzuleiten. Andernfalls kann beim Bundesgericht keine abstrakte, sondern nur noch eine inzidente bzw. akzessorische Normenkontrolle verlangt werden (vgl. BGE 106 Ia 310 E. 5 S. 318 ff.; BGE 110 Ia 211 E. 3 S. 214 f.; BGE 111 Ia 270 E. 2 S. 271 f.; BGE 128 I 155 E. 1.1 S. 158 f.). Es besteht kein Anlass, davon unter dem Regime des Bundesgerichtsgesetzes abzuweichen, zumal insoweit keine vom Bundesrechtspflegegesetz abweichende Regelung getroffen wurde (ebenso: AEMISEGGER/SCHERRER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 3 zu Art. 101 BGG).
BGE 137 I 107 S. 110

1.4.3 Das Bundesgericht hat bisher aber nicht klargestellt, was unter einer "üblichen" Rechtsmittelfrist zu verstehen ist bzw. ab welchem Zeitpunkt diese läuft. Teils führte es aus, die abstrakte Normenkontrolle durch das Bundesgericht solle nicht mehr stattfinden, wenn das kantonale Normenkontrollverfahren "erst Monate oder Jahre nach der Publikation des angefochtenen Erlasses" bzw. "viele Monate oder gar Jahre nach Inkrafttreten des Erlasses" eingeleitet worden ist (BGE 106 Ia 310 E. 5c und e S. 319 f.: Anfechtung zwei Jahre nach Genehmigung eines Zonenplans; BGE 111 Ia 270 E. 2 S. 272: Anfechtung rund zwanzig Jahre nach Inkrafttreten). Teils erklärte es zwar, der Betreffende müsse die Anfechtung auf kantonaler Ebene innert 30 Tagen einleiten, sofern er sich die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle durch das Bundesgericht vorbehalten wolle. Ab wann genau diese 30-tägige Frist zu laufen beginnen soll, präzisierte es jedoch nicht (BGE 110 Ia 211 E. 3 S. 215). In einem späteren Entscheid hielt es fest, das kantonale Normenkontrollverfahren müsse "unmittelbar im Anschluss an den Erlass" der beanstandeten Bestimmung eingeleitet worden sein. Ein rund zweimonatiges Zuwarten schade nicht, wenn die Bestimmung noch der Genehmigung durch eine andere Behörde bedürfe. Wie es sich mit der "üblichen" Rechtsmittelfrist letztlich verhält, liess es aber ausdrücklich offen. Solange es an der konstitutiven Genehmigung fehle, sei die kantonale Anfechtung auf jeden Fall als rechtzeitig erfolgt zu betrachten (BGE 128 I 155 E. 1.1 S. 159).

1.4.4 Die bisherige bundesgerichtliche Praxis lehnte eine zeitlich unbefristete abstrakte Normenkontrolle auf Bundesebene vor allem deshalb ab, weil ein Erlass beim Bundesgericht nur innert einer begrenzten Zeit direkt angefochten werden kann (vgl. Art. 89 OG und Art. 101 BGG). Auch das Rechtsschutzbedürfnis des Bürgers verlangt nicht eine derartig weite Anfechtungsmöglichkeit, da sich dieser nach dem Inkrafttreten eines kantonalen Erlasses immer noch gegen einen konkreten Anwendungsakt zur Wehr setzen kann (vgl. BGE 106 Ia 310 E. 5a-c S. 318 ff.). Ausserdem verfolgt die abstrakte Normenkontrolle den Zweck, die Geltung unzulässiger Vorschriften zu verhindern. Dieser Zweck tritt zurück, wenn die beanstandeten Regelungen schon seit längerer Zeit angewendet werden.
Solange ein Erlass nicht in Kraft getreten ist, entfaltet er hingegen noch keine Rechtswirkungen für die Bürger. Die erwähnten Gründe, die gegen eine zeitlich unbegrenzte Zulassung der abstrakten
BGE 137 I 107 S. 111
Überprüfung von Erlassen durch das Bundesgericht sprechen, entfallen daher. Auch besteht vor dem Inkrafttreten des Erlasses noch keine Möglichkeit, einen Anwendungsakt anzufechten und dadurch eine inzidente Normenkontrolle zu erreichen.
Demzufolge rechtfertigt sich, die "übliche" Rechtsmittelfrist von 30 Tagen erst mit dem Inkrafttreten der beanstandeten Bestimmungen laufen zu lassen, wenn ein Kanton auf seiner Ebene keine anderen Fristen für die abstrakte Normenkontrolle vorsieht. Diese 30-tägige Frist soll die Betreffenden jedoch nicht daran hindern, das Verfahren beim kantonalen Gericht schon vor dem Inkrafttreten des Erlasses einzuleiten, soweit das im Kanton zulässig ist (vgl. BGE 128 I 155 E. 1.1 S. 159; BGE 110 Ia 211 E. 3 S. 214 f.).

1.4.5 Die angefochtene Reglementsbestimmung wurde am 23. November 2007 von der Einwohnergemeindeversammlung beschlossen. Die nach kantonalem Recht ab Veröffentlichung laufende Frist, um eine Urnenabstimmung zu verlangen (fakultatives Referendum) lief in der Folge unbenützt ab. Daher wurde der Beschluss der Gemeindeversammlung gemäss §§ 31 f. des Aargauer Gesetzes vom 19. Dezember 1978 über die Einwohnergemeinden (SAR 171.100) rechtsgültig. Letztgenannter Umstand wurde am 3. bzw. 5. Januar 2008 amtlich mitgeteilt. Die interessierende Änderung des Reglements trat am 1. Oktober 2008 in Kraft, während die Beschwerdeführerin das kantonale Rechtsmittel am 14. Juli 2008 erhob.

1.4.6 Nach dem Dargelegten hat die Beschwerdeführerin das kantonale Normenkontrollverfahren rechtzeitig eingeleitet, da sie noch vor dem Inkrafttreten der angefochtenen Reglementsänderung an die Vorinstanz gelangt ist. Dass zwischen der Rechtsgültigkeit des Beschlusses der Gemeindeversammlung und der Anfechtung ungefähr ein halbes Jahr lag, schadet nicht. Solange die geänderten Bestimmungen nicht in Kraft getreten waren, bestand mangels abweichender kantonaler Fristenregelung keine Veranlassung, sie innert einer bestimmten Zeit anzufechten.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1

Referenzen

BGE: 106 IA 310, 110 IA 211, 128 I 155, 111 IA 270 mehr...

Artikel: Art. 101 BGG, Art. 100 Abs. 1 und Art. 101 BGG, Art. 23 BGG, Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG mehr...