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Urteilskopf

149 I 153


16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Harris, Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung, Einzelgericht (Beschwerde in Strafsachen)
1B_10/2023 vom 6. April 2023

Regeste

Art. 81 Abs. 1 BGG, Art. 56 ff. StPO; Recht auf Teilnahme am Ausstandsverfahren.
Eine Partei ist in ihrem Anspruch auf das verfassungsmässige Gericht beeinträchtigt, wenn das eine Richterin oder einen Richter betreffende Ausstandsgesuch eines andern Prozessbeteiligten ohne stichhaltigen Grund gutgeheissen wird. Ihr ist deshalb vorgängig das rechtliche Gehör zu gewähren (E. 1 und 2).

Sachverhalt ab Seite 153

BGE 149 I 153 S. 153

A. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl erliess am 6. Oktober 2021 gegen A. einen Strafbefehl wegen Nötigung im Zusammenhang mit einer Teilnahme an einer Aktion der Organisation C. Nachdem die Beschuldigte Einsprache eingelegt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Bezirksgericht Zürich. Mit Verfügung vom 26. Juli 2022 wurde die Hauptverhandlung angesetzt und zudem angekündigt, dass Vizepräsident Roger Harris der zuständige Einzelrichter sei.
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Am 29. September 2022 stellte die Staatsanwaltschaft beim Obergericht des Kantons Zürich ein Ausstandsgesuch gegen Bezirksrichter Roger Harris. Sie machte geltend, er habe in einem parallel laufenden Verfahren mit einem mehr oder weniger identischen Tatvorwurf die beschuldigte Person freigesprochen und an der Hauptverhandlung mit seinen Äusserungen den Eindruck erweckt, er werde in künftigen Fällen ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls gleich entscheiden.
Mit Beschluss vom 14. November 2022 hiess das Obergericht das Ausstandsgesuch gut (Dispositiv-Ziffer 1). Es erhob keine Gerichtsgebühr und sprach keine Entschädigung zu (Dispositiv-Ziffern 2 und 3).

B. Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 9. Januar 2023 beantragt A., Dispositiv-Ziffer 1 des Beschlusses des Obergerichts sei aufzuheben und das Ausstandsgesuch abzuweisen. Eventualiter sei die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Obergericht, das Bezirksgericht und Bezirksrichter Roger Harris haben auf eine Stellungnahme verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Sie ist der Auffassung, die Beschwerdeführerin sei durch den Beschluss des Obergerichts nicht beschwert. Die Beschwerdeführerin hat dazu Stellung genommen und hält an ihrer Rechtsauffassung fest.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Der angefochtene Beschluss stellt einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren dar. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen zur Verfügung (Art. 78 Abs. 1 und Art. 92 BGG). Das Obergericht hat nach Art. 59 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 380 StPO als einzige kantonale Instanz entschieden. Die Beschwerde ist somit gemäss Art. 80 BGG zulässig.
Aus den Akten ergibt sich, dass das Obergericht den angefochtenen Beschluss zunächst nur der Staatsanwaltschaft, dem Bezirksgericht und dem Beschwerdegegner (Bezirksrichter Roger Harris) zustellte. Die Beschwerdeführerin erhielt ihn erst am 11. Januar 2023 auf ihre schriftliche Anfrage hin zugestellt. Gemäss eigenen Angaben hatte sie zuvor am 22. November 2022 anlässlich einer Akteneinsicht beim
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Bezirksgericht Zürich von ihm Kenntnis genommen. Selbst wenn die 30-tägige Beschwerdefrist bereits zu diesem Zeitpunkt zu laufen begonnen hätte, wäre sie mit der am 9. Januar 2023 erfolgten Postaufgabe der Beschwerde gewahrt worden (Art. 100 Abs. 1 i.V.m. Art. 44 ff. BGG).
Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Erhebung einer Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a). Diese Voraussetzung ist bei der Beschwerdeführerin, die vom Obergericht nicht in das Ausstandsverfahren einbezogen wurde, erfüllt. Weiter verlangt die Bestimmung ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids (lit. b). Da eine Partei in ihrem Anspruch auf das verfassungsmässige Gericht nach Art. 30 Abs. 1 BV auch dann beeinträchtigt ist, wenn das Ablehnungsbegehren eines andern Prozessbeteiligten ohne stichhaltigen Grund gutgeheissen worden ist, ist auch diese Voraussetzung erfüllt (BGE 137 I 340 E. 2.2.1; BGE 108 Ia 48 E. 1; je mit Hinweisen; Urteile 1B_15/2020 vom 30. März 2020 E. 1, in: Pra 2020 Nr. 78 S. 780; 1P.726/2003 vom 30. Januar 2004 E. 1.3; 4P.256/2002 vom 14. April 2003 E. 1.1).
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, das Obergericht habe sie nicht in das Ausstandsverfahren einbezogen, obwohl sie Partei sei. Dadurch habe es Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. Die Staatsanwaltschaft hält dem entgegen, die Beschwerdeführerin habe weder gestützt auf die Verfassung noch die EMRK einen Anspruch darauf, sich einen ihr genehmen Bezirksrichter oder eine ihr genehme Bezirksrichterin auszusuchen. Die in Art. 56 StPO aufgeführten Ausstandsgründe beträfen eine bestimmte, in einer Strafbehörde tätige Person. Nur diese selbst oder allenfalls die Behörde oder das Gericht, dem sie angehöre, könne dazu Stellung nehmen. Das Obergericht habe deshalb zu Recht darauf verzichtet, die Beschwerdeführerin anzuhören.

2.2 Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches
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Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt. Mit ähnlichen Worten garantiert Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Recht jeder Person, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
Die grundrechtlichen Garantien von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK umfassen auch die Bestellung des Spruchkörpers, wobei ein pflichtgemäss, mithin nach sachlichen Kriterien zu handhabendes Ermessen nicht ausgeschlossen ist (s. im Einzelnen BGE 144 I 70 E. 5 mit Hinweisen). Ist der Spruchkörper einmal besetzt, verlangt der Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes Gericht für seine Änderung im Verlauf des Verfahrens hinreichende sachliche Gründe (Urteil 4A_271/2015 vom 29. September 2015 E. 6.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 142 I 93). Daraus erhellt, dass dieser Anspruch verletzt ist, wenn eine Richterin oder ein Richter in den Ausstand versetzt wird, obwohl keine Ausstandsgründe bestehen (s. die in E. 1 hiervor zitierten Urteile).
Berührt ein Hoheitsakt unmittelbar die Rechtsstellung einer Person, hat diese einen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 129 I 232 E. 3.2 mit Hinweisen). Dieser Anspruch umfasst als Mitwirkungsrecht alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (BGE 147 I 433 E. 5.1 mit Hinweis). Wird eine Partei in ihrem Anspruch auf das gesetzliche Gericht nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK beeinträchtigt, indem ein Ausstandsgesuch einer anderen Person gutgeheissen wird, ist ihr somit vorgängig das rechtliche Gehör zu gewähren. Dies bedeutet entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht, dass ihr damit ein Anspruch eingeräumt würde, sich einen ihr genehmen Richter oder eine ihr genehme Richterin auszusuchen.

2.3 Die Strafprozessordnung selbst äussert sich im Kapitel zum Ausstand (Art. 56 ff. StPO) nicht klar zur Frage, wer am Ausstandsverfahren zu beteiligen ist, und die Botschaft des Bundesrats (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1148 ff. Ziff. 2.2.6) gibt dazu keine Anhaltspunkte. Gemäss Art. 58 Abs. 2 StPO nimmt die betroffene Person Stellung zum Ausstandsgesuch einer Partei. Diese Stellungnahme dient der
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Sachaufklärung und ist deshalb zwingend (BGE 138 IV 222 E. 2.1 mit Hinweis). Ein Ausschluss weiterer Personen vom Ausstandsverfahren kann daraus nicht abgeleitet werden. Derartiges lässt sich auch Art. 59 StPO nicht entnehmen. Die Bestimmung sieht als Massnahme der Beschleunigung vor, dass die zuständige Behörde ohne weiteres Beweisverfahren und endgültig entscheidet - nicht jedoch, dass eine in ihrem Anspruch auf das gesetzliche Gericht tangierte Partei vom Verfahren auszuschliessen wäre. Im Übrigen legt das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung die Vorgabe, wonach kein weiteres Beweisverfahren stattzufinden hat, verfassungskonform aus, indem es sie auf Fälle beschränkt, in denen dies mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV vereinbar ist (Urteil 1B_254/2022 und andere vom 14. Dezember 2022 E. 5.3.1 mit Hinweisen). Insgesamt ist deshalb festzuhalten, dass die Strafprozessordnung Raum lässt für eine verfassungskonforme Ausgestaltung des Rechts auf Teilnahme am Ausstandsverfahren.

2.4 In der Literatur zu den Ausstandsvorschriften der Verfahrensgesetze auf Bundesebene wird teilweise die Auffassung vertreten, der Einbezug der Gegenpartei sei nicht nötig (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 526) oder es werden mit Blick auf umfangreiche Verfahren mit einer Vielzahl von geschädigten Privatklägern aus praktischen Überlegungen Bedenken geäussert (ANDREAS J. KELLER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 14 zu Art. 58 StPO; s. auch MARC WEBER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 3 zu Art. 50 ZPO, wonach die Gegenpartei anzuhören sei, wenn die Gutheissung des Ablehnungsbegehrens zu einer Verzögerung des Prozesses führen würde). Soweit die Autoren allerdings die grund- und konventionsrechtlichen Ansprüche auf das gesetzliche Gericht und das rechtliche Gehör in ihren Ausführungen berücksichtigen, gehen sie überwiegend davon aus, dass die Gegenpartei anzuhören ist, zumindest wenn das Ausstandsgesuch nicht ohnehin wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen werden muss (MARKUS BOOG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 zu Art. 58 StPO; PETER DIGGELMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Bd. I, 2. Aufl. 2016, N. 4 zu Art. 50 ZPO; REGINA KIENER, in: ZPO, 3. Aufl. 2021, N. 8 zu Art. 49 ZPO und N. 2 zu Art. 50 ZPO; DAVID RÜETSCHI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 4 zu Art. 50 ZPO). Auch in Bezug auf die Bestimmung
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von Art. 37 Abs. 2 BGG, die ausdrücklich vorsieht, dass über die Ausstandsfrage ohne Anhörung der Gegenpartei entschieden werden kann, wird in der Literatur gefordert, diese Möglichkeit sei auf klare Fälle bzw. Fälle offensichtlich aussichtsloser Ausstandsgesuche zu beschränken (FLORENCE AUBRY GIRARDIN, in: Commentaire de la LTF, 3. Aufl. 2022, N. 9 zu Art. 37 BGG; DOMINIK VOCK, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 3 zu Art. 37 BGG; in die gleiche Richtung: YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, 2008, Rz. 650; vgl. auch BREITENMOSER/SPORI FEDAIL, in: Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz [VwVG], 2. Aufl. 2016, N. 119 zu Art. 10 VwVG, wonach die Gegenpartei zur Anfechtung eines Entscheids über den Ausstand legitimiert ist; MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER/KAYSER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 3. Aufl. 2022, Rz. 3.73 Fn. 416, wonach Art. 37 Abs. 2 BGG als "Kann-Bestimmung" ermögliche, die Gegenpartei in geeigneter Weise ins Verfahren einzubeziehen; DENIS TAPPY, in: Commentaire romand, Code de procédure civile, 2. Aufl. 2019, N. 20 zu Art. 50 ZPO, wonach die Verfassungsmässigkeit von Art. 37 Abs. 2 BGG fraglich und dessen Übertragbarkeit auf den Zivilprozess zu verneinen sei).

2.5 Im Urteil 1B_227/2021 vom 17. August 2021 erwog das Bundesgericht, die Strafprozessordnung verbiete es nicht, das Ausstandsgesuch und die Stellungnahme der betroffenen Partei auch der Gegenpartei zuzustellen, da die Ausstandsfrage den Anspruch der Gegenpartei auf ein verfassungsmässiges Gericht tangiere. Die Frage, ob eine entsprechende Pflicht bestehe, beantwortete es nicht (zit. Urteil 1B_227/2021 E. 3.1 mit Hinweisen). Im Urteil 6B_1149/2014 / 6B_1166/2014 vom 16. Juli 2015 hielt es dagegen fest, dass die beschwerdeführende Privatklägerin im kantonalen Ausstandsverfahren als Partei hätte behandelt werden müssen (zit. Urteil 6B_1149/2014 / 6B_1166/2014 E. 3.3). An diesem letzteren Rechtsverständnis ist gestützt auf die obigen Ausführungen festzuhalten. Die Pflicht (und nicht nur die Befugnis) der gemäss Art. 59 StPO über das Ausstandsgesuch entscheidenden Behörde, die Gegenpartei(en) ins Verfahren einzubeziehen, ergibt sich im Übrigen nicht nur in direkter Weise aus den erwähnten verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien, sondern in indirekter Weise auch aus dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens: Wer in seinem Anspruch auf ein verfassungsmässiges Gericht tangiert ist und damit über ein die Beschwerdelegitimation (Art. 81 Abs. 1 BGG) begründendes rechtlich
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geschütztes Interesse verfügt, muss sich nach Art. 111 Abs. 1 BGG am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen beteiligen können. Das Obergericht hätte deshalb der Beschwerdeführerin im Ausstandsverfahren Parteistellung einräumen müssen.

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