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Urteilskopf

148 V 327


29. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_742/2021 vom 4. März 2022

Regeste

Art. 19 Abs. 2 und Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG; Art. 49 UVG; Rückerstattung unrechtmässig bezogener Unfalltaggelder durch die Arbeitgeberin.
Eine Verrechnung von Unfalltaggeldern durch die Arbeitgeberin gegenüber dem Arbeitnehmer ist unzulässig. Hat die Arbeitgeberin keine Lohnfortzahlungen geleistet, sind von ihr empfangene Unfalltaggelder an den Versicherer zurückzuerstatten (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 327

BGE 148 V 327 S. 327

A. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) zahlte der A. AG als Arbeitgeberin eines verunfallten Arbeitnehmers für die Zeit vom 14. September 2016 bis 28. Februar 2017 Unfalltaggelder im Betrag von Fr. 22'572.- aus. Diese leitete dem verunfallten B. einen Betrag von Fr. 7'518.05 weiter und zahlte ihm ab Januar 2017 keinen Lohn mehr. Ab 1. März 2017 erbrachte die Suva Taggeldleistungen direkt an den Versicherten. Mit Verfügung vom 20. Dezember 2019 forderte sie von der A. AG Taggelder in der Höhe von Fr. 15'053.95 unter Verweis auf unterbliebene Lohnfortzahlungen an B. zurück. Dessen Taggeldanspruch für die Zeit vor dem 1. März 2017 beglich die Suva mittels Direktzahlung an ihn im Februar 2020. Infolge eines Rechenfehlers reduzierte sie den Rückforderungsbetrag gegenüber der A. AG einspracheweise auf Fr. 13'613.95 (Einspracheentscheid vom 1. Dezember 2020).
BGE 148 V 327 S. 328

B. Die hiergegen erhobene Beschwerde der A. AG wies das Kantonsgericht Freiburg mit Urteil vom 30. September 2021 ab.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die A. AG beantragen, es sei in Aufhebung des angefochtenen Urteils festzustellen, dass seitens der Suva kein Rückforderungsanspruch bestehe. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht verzichtete auf einen Schriftenwechsel.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es die laut Einspracheentscheid von der Beschwerdeführerin zugunsten der Suva zu leistende Rückerstattung von Unfalltaggeldern in Höhe von Fr. 13'613.95 schützte. Dabei steht erstens die Frage im Zentrum, ob es die von der Beschwerdeführerin gegenüber dem verunfallten Arbeitnehmer erklärte Verrechnung als unzulässig qualifizieren durfte und damit zu Recht von einer unrechtmässig bezogenen Leistung im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG ausging. Zweitens besteht Uneinigkeit darüber, wann die Suva Kenntnis von der Verrechnung hatte respektive hätte haben müssen und ob die Vorinstanz die Verwirkung der Rückforderung bei korrekter Fristenanwendung verneinen durfte.

3.

3.1 Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über die prozessuale Revision und Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG; vgl. BGE 147 V 167 E. 4.2; BGE 146 V 364 E. 4.2; je mit Hinweisen) sowie über die Pflicht zur Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen (Art. 25 Abs. 1 ATSG; vgl. BGE 147 V 369 E. 2.2 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.2 Gemäss Art. 50 UVG können Forderungen auf Grund dieses Gesetzes sowie Rückforderungen von Renten und Taggeldern der AHV, der IV, der Militärversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung und von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV mit fälligen Leistungen verrechnet werden.

4. In sachverhaltlicher Hinsicht steht fest, dass die Beschwerdeführerin in den Jahren 2016 und 2017 von der Suva erhaltene
BGE 148 V 327 S. 329
Unfalltaggelder von insgesamt Fr. 13'613.95 mit zivilrechtlichen Forderungen verrechnete, die sie gegenüber dem verunfallten Arbeitnehmer geltend gemacht hatte. Der vorinstanzlich festgestellte Umfang der Rückforderung durch die Suva bleibt, anders als ihr Bestand, vor Bundesgericht unbestritten.

5.

5.1 Zunächst gilt es darauf hinzuweisen, dass allfällige zivilrechtliche Forderungen der Beschwerdeführerin gegenüber dem ehemals bei ihr angestellten und verunfallten Arbeitnehmer nicht vom hier gegebenen Streitgegenstand umfasst sind (vgl. BGE 136 II 457 E. 2.2, 4.2 und 6.2; KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Öffentliches Verfahrensrecht, 3. Aufl. 2021, Rz. 1279 ff.). Dieser betrifft im Lichte des angefochtenen Urteils einzig die von der Suva erhobene Rückforderung der Unfalltaggelder.

5.2 Die Vorinstanz ist zum Ergebnis gelangt, die Voraussetzungen der Rückforderung nach Art. 25 Abs. 1 und 2 ATSG seien im Rahmen einer prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) erfüllt. Art. 50 UVG sehe nur eine einseitige Verrechnungsmöglichkeit des Unfallversicherers vor. Der Arbeitgeberin stehe diese Option hingegen nicht offen. Für die Erklärung einer auf Art. 120 OR gestützten zivilrechtlichen Verrechnung bleibe aufgrund des zwingenden öffentlich-rechtlichen Charakters des Unfallversicherungsrechts kein Platz.

5.3 Die Beschwerdeführerin übersieht, dass sie sich hier nicht in einem Zivilprozess, sondern im Unfallversicherungsverfahren befindet. Sie geht unter Berufung auf Art. 120 OR stillschweigend davon aus, diese Norm würde im Bereich der Unfallversicherung vorbehaltlos zur Anwendung gelangen. Dem ist jedoch, wie sich aus den folgenden Erwägungen ergibt, nicht so.

5.3.1 Unfalltaggelder sind zweckgebunden. Sie dienen dazu, einen unfallbedingt erlittenen Verdienstausfall mittels Entschädigung auszugleichen und so den Lebensunterhalt einer arbeitsunfähigen versicherten Person zu gewährleisten (vgl. Art. 20 und Art. 22 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 UVG; BGE 138 V 140 E. 3.1; BGE 135 V 2 E. 6.1.1; Botschaft vom 18. August 1976 zum UVG [nachfolgend: Botschaft UVG], BBl 1976 III 189, 203; einlässlich dazu bereits THEO KÜNDIG, Die Verrechnung im Sozialversicherungsrecht, Diss. Bern 1957, S. 72 ff.; siehe ferner FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV,
BGE 148 V 327 S. 330
3. Aufl. 2016, S. 973 Rz. 211 und S. 1065 Rz. 603 ff.; KASPAR GEHRING, in: Kommentar zum Schweizerischen Sozialversicherungsrecht, UVG [nachfolgend: KOSS UVG], Hürzeler/Kieser [Hrsg.], 2018, N. 1 ff. zu Art. 50 UVG). Die Bedeutung des Unterhaltszwecks von Unfalltaggeldern wird durch deren Unverpfändbarkeit und Unabtretbarkeit zusätzlich unterstrichen (vgl. Art. 22 Abs. 1 ATSG; REMO DOLF, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 9 zu Art. 22 ATSG; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 23 zu Art. 22 ATSG).

5.3.2 Die Möglichkeit, Forderungen auf Grund des UVG sowie Rückforderungen von Renten und Taggeldern anderer Sozialversicherungen mit fälligen Leistungen zu verrechnen, steht mit Blick auf Art. 50 UVG einseitig dem Unfallversicherer zu (vgl. Art. 64 UVV; BGE 110 V 183 E. 2; MARC HÜRZELER, in: Basler Kommentar, Unfallversicherungsgesetz, 2019, N. 14 zu Art. 50 UVG; KASPAR GEHRING, in: KVG/UVG Kommentar, 2018, N. 7 zu Art. 50 UVG).

5.3.3 Zufolge Art. 49 UVG können die Versicherer die Auszahlung des Taggeldes der Arbeitgeberin übertragen. Laut Art. 19 Abs. 2 ATSG kommen Taggelder und ähnliche Entschädigungen in dem Ausmass der Arbeitgeberin zu, als sie der versicherten Person trotz der Taggeldberechtigung Lohn zahlt. Damit hat der Gesetzgeber die Grundlage für eine Drittauszahlung von Taggeldern an die Arbeitgeber statt an die versicherte Person geschaffen, diese aber in der Höhe auf die effektiv getätigte Lohnzahlung der Arbeitgeberin beschränkt (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 266/06 vom 28. Dezember 2006 E. 2.3, nicht publ. in: BGE 133 V 196; Urteile 8C_241/2019 vom 8. Juli 2019 E. 5.1; 9C_988/2010 vom 5. Dezember 2011 E. 3.7.2).

5.3.4 Die Arbeitgeberin gehört zum Kreis der potenziell Rückerstattungspflichtigen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c ATSV; BGE 142 V 43 E. 3.1 f.; Urteil 8C_432/2012 vom 13. November 2012 E. 5.1). Ihre Rechtsstellung ist von der Lohnfortzahlung (vgl. Art. 324a Abs. 1 OR) abhängig. Soweit sie Lohnfortzahlungen für die versicherte Arbeitsunfähigkeit leistet, tritt nach Art. 19 Abs. 2 ATSG eine Subrogation (Legalzession) des Taggeldanspruches von der versicherten Person auf die Arbeitgeberin ein (vgl. Urteil U 266/06 vom 28. Dezember 2006 E. 2.3, nicht publ. in: BGE 133 V 196; Urteil 8C_ 241/2019 vom 8. Juli 2019 E. 5.1). Der Eintritt der Legalzession ist allerdings davon abhängig, ob die Lohnfortzahlungen in Höhe des
BGE 148 V 327 S. 331
Taggeldanspruches der versicherten Person durch die Arbeitgeberin effektiv geleistet werden. Unterbleiben sie, kann von Gesetzes wegen keine Rechtsübertragung stattfinden (siehe zur aufschiebend bedingten Zession: BGE 84 II 355 E. 1; Urteil 4A_465/2018 vom 11. März 2019 E. 3.2.3).

5.3.5 Hat die Arbeitgeberin vom Versicherer Unfalltaggelder erhalten (vgl. Art. 49 UVG), ohne ihrer Lohnfortzahlungspflicht (vgl. Art. 324a Abs. 1 OR) im geschuldeten Umfang gegenüber dem Arbeitnehmer nachzukommen, hat sie zwar eine faktische Verfügungsmacht inne, jedoch stehen ihr - ungeachtet allfälliger zivilrechtlicher Ansprüche - an den Taggeldansprüchen der versicherten Person (vgl. Art. 16 Abs. 1 UVG) keine Rechte zu (vgl. Art. 19 Abs. 2 ATSG im Umkehrschluss; E. 5.3.4 hiervor). Diesfalls verfügt die versicherte Person über einen Direktauszahlungsanspruch gegen den Unfallversicherer (vgl. GEHRING, in: KVG/UVG Kommentar, a.a.O., N. 4 f. zu Art. 49 UVG; MARKUS SCHMID, KOSS UVG, a.a.O., N. 2 zu Art. 49 UVG; HÜRZELER, a.a.O., N. 10 zu Art. 49 UVG). Damit fehlt es im Verhältnis zwischen der Arbeitgeberin und der versicherten Person bereits an der für die Verrechnung erforderlichen Grundvoraussetzung der Gegenseitigkeit von Haupt- und Verrechnungsforderung (vgl. Art. 120 Abs. 1 OR; SVR 2007 UV Nr. 38 S. 128, U 507/05 E. 4.1; ANDREAS MÜLLER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2020, N. 5 ff. zu Art. 120 OR). Die von der Beschwerdeführerin angerufenen Regeln des Obligationenrechts liessen, soweit sie denn überhaupt direkt Anwendung fänden, demnach keine Verrechnung zu. Vor diesem Hintergrund kann die Frage offenbleiben, ob Art. 50 UVG als insgesamt abschliessende Ordnung zu interpretieren wäre, die eine Verrechnung von eigenen (zivilrechtlichen) Ansprüchen der Beschwerdeführerin als Arbeitgeberin mit Taggeldansprüchen ihres Arbeitnehmers von vornherein ausschlösse.

5.3.6 Die vorgängig beschriebene gesetzliche Ordnung dient dem Schutz der versicherten Person vor bestimmungswidriger Verwendung der Taggeldleistungen (vgl. Botschaft UVG, BBl 1976 III 203). Der Gesetzgeber wollte mit Art. 49 UVG den Versicherungsbetrieb erleichtern und zur Verminderung von Verwaltungskosten beitragen (vgl. Botschaft UVG, BBl 1976 III 202). Eine Verrechnung durch die Arbeitgeberin käme einer Zweckentfremdung von Unfalltaggeldern gleich, die hinsichtlich ihres Unterhaltszwecks unzulässig ist.
BGE 148 V 327 S. 332
Die in Art. 49 UVG und Art. 19 Abs. 2 ATSG vorgesehene Möglichkeit der Drittauszahlung (vgl. E. 5.3.3 hiervor) dient anders gesagt nicht dazu, die Arbeitgeberin zulasten der Unfallversicherung vor dem Risiko einer allfälligen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitnehmers im Zusammenhang mit Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis oder unerlaubter Handlung zu schützen. Aufgrund der besonderen Natur des Unfalltaggeldes ist in Anlehnung an Art. 125 Ziff. 2 OR nur eine Realerfüllung zulässig (vgl. Urteil 8C_130/2008 vom 11. Juli 2008 E. 2.3 mit Hinweisen).

5.3.7 Folglich ging das kantonale Gericht gestützt auf Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG zutreffend davon aus, die Beschwerdeführerin habe unrechtmässig Unfalltaggelder in der Höhe von Fr. 13'613.95 bezogen, und bejahte - vorbehaltlich einer allfälligen Verwirkung (vgl. nicht publ. E. 5.4) - das Vorliegen eines Rückforderungsanspruchs der Suva zu Recht.

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Sachverhalt

Erwägungen 2 3 4 5

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