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Urteilskopf

149 V 91


8. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_616/2022 vom 15. März 2023

Regeste

Art. 22 UVG; Art. 17 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG; Rentenaufhebung nach Erreichen des AHV-Rentenalters.
Art. 22 UVG, der die revisionsweise Aufhebung einer Invalidenrente der Unfallversicherung nach Bezug einer Altersrente der AHV resp. nach Erreichen des AHV-Rentenalters ausschliesst, steht einer wiedererwägungsweisen Rentenaufhebung nicht entgegen (E. 7).

Sachverhalt ab Seite 91

BGE 149 V 91 S. 91

A.

A.a Die 1951 geborene A. war seit dem 13. Oktober 1976 als Kindergärtnerin angestellt und in dieser Eigenschaft bei der ELVIA Schweizerische Versicherungsgesellschaft Zürich (ELVIA; heute Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG [nachfolgend: Allianz])
BGE 149 V 91 S. 92
gegen die Folgen von Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert, als sie am 31. Mai 1994 bei einem Verkehrsunfall ein Schleudertrauma erlitt (Unfallmeldung vom 2. Juni 1994). Die ELVIA erbrachte hierfür die gesetzlichen Leistungen nach UVG. Während laufender medizinischer Abklärungen zum erwähnten Schadenereignis erlitt A. anlässlich eines weiteren Verkehrsunfalls vom 1. Mai 1997 Verletzungen an der Brust- und Halswirbelsäule (Unfallmeldung vom 7. August 1997). Die Allianz als Rechtsnachfolgerin der ELVIA sprach A. infolge der unfallbedingten Beschwerden vergleichsweise eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 25 % und eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 25 % zu, wobei sie ihr den Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung (Verfügung vom 30. September 2002) eröffnete. Diese erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

A.b Mit Verfügung vom 16. Oktober 2020 zog die Allianz ihre Verfügung vom 30. September 2002 in Wiedererwägung und stellte ihre Versicherungsleistungen per 31. Oktober 2020 ein. Mit Einspracheentscheid vom 12. Januar 2022 wies sie die von A. dagegen erhobene Einsprache ab, hob die Invalidenrente sowie die Integritätsentschädigung wiedererwägungsweise auf und stellte die Versicherungsleistungen per 31. Oktober 2020 ein.

B. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 12. September 2022 ab. Auf das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde trat es nicht ein.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, es sei der Einspracheentscheid vom 12. Januar 2022 aufzuheben und es seien ihr weiterhin die Versicherungsleistungen zu erbringen.
Die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichten auf eine Vernehmlassung. Die Allianz beantragt in ihrer Stellungnahme, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; eventualiter sei diese abzuweisen. Die Beschwerdeführerin lässt eine Replik einreichen.

D. Das Bundesgericht hat am 15. März 2023 eine öffentliche Beratung durchgeführt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
BGE 149 V 91 S. 93

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

7.

7.1 Die Beschwerdeführerin macht im Weiteren geltend, eine wiedererwägungsweise erfolgte Rentenaufhebung sei in analoger Anwendung von Art. 22 UVG mit Erreichen des Rentenalters nicht mehr zulässig. Der normative Gehalt von Art. 22 UVG sei analog auf die Situation bei einer Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG anzuwenden. Der Schutzgedanke sei äquivalent zur Situation bei einer Rentenrevision gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG.

7.2 Die Vorinstanz erwog, die Bestimmung von Art. 22 UVG erfasse ausdrücklich nur die (materielle) Revision nach Art. 17 ATSG, welche die Beschwerdegegnerin aufgrund des Erreichens des Rentenalters durch die Beschwerdeführerin (Jahrgang 1951) nicht in Erwägung gezogen habe. Hingegen blieben die (prozessuale) Revision oder die Wiedererwägung im Sinne von Art. 53 ATSG von der Relativierung gemäss Art. 22 UVG unberührt.

7.3 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatikalische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 147 V 55 E. 5.1; BGE 145 V 2 E. 4.1 S. 6; BGE 142 V 442 E. 5.1 S. 445; je mit Hinweisen).

7.4 Die Bestimmung von Art. 22 UVG lautet wie folgt:
"In Abweichung von Artikel 17 Absatz 1 ATSG kann die Rente ab dem Monat, in dem die berechtigte Person eine Altersrente der AHV bezieht, spätestens jedoch ab Erreichen des Rentenalters nach Artikel 21 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht mehr revidiert werden."
BGE 149 V 91 S. 94
"En dérogation à l'art. 17, al. 1, LPGA, la rente ne peut plus être révisée à compter du mois au cours duquel l'ayant droit perçoit une rente de vieillesse de l'AVS, mais au plus tard lorsqu'il atteint l'âge de la retraite fixé à l'art. 21 de la loi fédérale du 20 décembre 1946 sur l'assurance-vieillesse et survivants."
"In deroga all'articolo 17 capoverso 1 LPGA, la rendita non può più essere riveduta dal mese in cui l'avente diritto riceve una rendita di vecchiaia dell'AVS, ma al più tardi dal momento in cui lo stesso raggiunge l'età di pensionamento secondo l'articolo 21 della legge federale del 20 dicembre 1946 sull'assicurazione per la vecchiaia e per i superstiti."
Die Bestimmung lautete in der vom 1. Januar 1984 bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung (d.h. vor Inkrafttreten des ATSG) wie folgt (AS 1982 1676):
" 1 Ändert sich der Invaliditätsgrad des Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben. Nach dem Monat, in dem Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr vollendet haben, kann die Rente nicht mehr revidiert werden.
2 Für Untersuchungen und Beobachtungen, die für die Revision erforderlich sind, werden die gesetzlichen Leistungen erbracht. Erleidet der Versicherte durch die Untersuchungen oder Beobachtungen eine Verdiensteinbusse, so werden ihm Taggelder gewährt."

7.5 Gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben, wenn sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich ändert. Anlass zur Revision einer Invalidenrente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5; BGE 113 V 273 E. 1a; siehe auch BGE 112 V 371 E. 2b und 387 E. 1b).

7.6 Wie die Vorinstanz zutreffend festhielt, betrifft die Bestimmung von Art. 22 UVG vom klaren Wortlaut her nur die (materielle) Revision nach Art. 17 ATSG und nicht auch die prozessuale Revision und die Wiedererwägung gemäss Art. 53 ATSG. Dies ergibt sich auch aus der vor Inkrafttreten des ATSG geltenden Fassung von Art. 22 UVG, wo von der Änderung des Invaliditätsgrades und
BGE 149 V 91 S. 95
somit ebenfalls nur von der materiellen Revision die Rede war. In der Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (BBl 1976 III 141 ff.) wurde zur Begründung für das Dahinfallen der Revisionsmöglichkeit bei Erreichen des Rentenalters ausgeführt, dass zu diesem Zeitpunkt die Altersrente einsetze, die ihrerseits einen Ersatz für entgehendes oder allmählich sinkendes Erwerbseinkommen bilde. Für die Invalidenrenten der Unfallversicherung gingen damit die Möglichkeiten eines Einkommensvergleichs verloren. Eine strengere Anwendung des ökonomischen Prinzips würde allerdings mit dem Beginn des Anspruches auf eine Altersrente zur Einstellung der Unfallversicherungsrente führen. Sozialpolitisch wäre eine derartige Lösung aber kaum zu vertreten. Mit Einführung der sogenannten Komplementärrenten sei hinreichend dafür gesorgt, dass eine Überversicherung jederzeit ausgeschlossen sei (Botschaft, a.a.O., S. 192). Die Bestimmung wurde in den Räten gemäss Botschaft genehmigt und gab keinen Anlass zu Diskussionen. Mit Inkrafttreten des ATSG auf den 1. Januar 2003 wurde Art. 22 Abs. 1 Satz 1 UVG ohne inhaltliche Änderung in Art. 17 Abs. 1 ATSG überführt und Art. 22 UVG erfuhr, ebenfalls mit Wirkung ab 1. Januar 2003, eine Aktualisierung. Zur Begründung wurde im Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit vom 26. März 1996 ausgeführt, Art. 22 UVG befasse sich mit der Rentenrevision und halte im ersten Satz des Absatzes 1 den Grundsatz fest. Da das ATSG die Revision in Artikel 23 (entsprechend dem heutigen Art. 17 ATSG) regle, erweise sich der erste Satz in Artikel 22 Absatz 1 UVG als überflüssig (Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4523, 4690).

7.7 Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, die Bestimmung von Art. 22 UVG auch auf Fälle der prozessualen Revision und der Wiedererwägung anzuwenden, hätte er diese zwei Rückkommenstitel in der Bestimmung erwähnt oder ganz allgemein von der Revision gesprochen, ohne darin einzig die Veränderung des Invaliditätsgrades (Bestimmung vor Inkrafttreten des ATSG) bzw. die Bestimmung von Art. 17 ATSG zu nennen. Gegen eine analoge Anwendung von Art. 22 UVG sprechen auch Sinn und Zweck der Wiedererwägung. Die Bestimmung von Art. 53 Abs. 2 ATSG regelt die Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung (THOMAS FLÜCKIGER, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des
BGE 149 V 91 S. 96
Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 1 f. zu Art. 53 ATSG; MARGIT MOSER-SZELESS, in: Commentaire romand, Loi sur la partie générale des assurances sociales [LPGA], 2018, N. 1 ff. zu Art. 53 ATSG). Es geht also um die Konstellation, in der die Leistung von Anfang an zu Unrecht zugesprochen wurde, jedenfalls sofern sich aufgrund der nachträglich korrekten Rechtsanwendung ergibt, dass die Leistung nicht geschuldet gewesen wäre. Ergibt hingegen die Überprüfung der Leistungszusprechung im Rahmen der Wiedererwägung, dass diese zu Recht erfolgte, bleibt es dabei. Nach der Rechtsprechung besteht denn auch keine zeitliche Befristung der Wiedererwägungsmöglichkeit (BGE 140 V 514 E. 3; vgl. aber die Fristen für eine allfällige Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG sowie der prozessualen Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 67 VwVG). Im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 ATSG wird dagegen ein anfänglich korrekter Entscheid aufgrund veränderter Verhältnisse für die Zukunft angepasst. Eine analoge Anwendung von Art. 22 UVG auf die Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG ist mit Blick auf diese Unterschiede nicht angezeigt.

7.8 Demnach verstiess das kantonale Gericht nicht gegen Bundesrecht, indem es Art. 22 UVG bei der Wiedererwägung nicht zur Anwendung brachte (vgl. dazu auch PRIBNOW/EICHENBERGER, in: Kommentar zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, UVG, Hürzeler/ Kieser [Hrsg.], 2018, N. 4 zu Art. 22 UVG; FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 996 Rz. 301 ff.).

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 7

Referenzen

BGE: 147 V 55, 145 V 2, 142 V 442, 130 V 343 mehr...

Artikel: Art. 22 UVG, Art. 17 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG, Art. 17 ATSG, Art. 53 ATSG mehr...